Winter auf Lesbos

In Moria geht es ums nackte Überleben

18.12.2017   Lesezeit: 9 min

Tausende Menschen werden unter lebensgefährlichen Bedingungen auf der griechischen Insel Lesbos festgehalten. Ihre Verzweiflung ist Kalkül und wer sich wehrt, begibt sich in noch größere Gefahr.

„Go home!“ Geht nach Hause, ruft eine ältere Dame den beiden jungen Frauen zu, die vor dem Gebäude der griechischen Regierungspartei Syriza in der Hauptstadt von Lesbos auf dem Boden sitzen. Der nächste Passant empört sich wortreich darüber, dass sich alle nur um die Flüchtlinge kümmerten, aber niemand um die griechischen Inselbewohner. Kaum ist er verschwunden, nähern sich zwei Männer auf einem Moped. Sie bleiben bei laufendem Motor stehen und brüllen Hasstiraden auf die Frauen herab.

Die 21-jährige Shafika und ihre 17-jährige Schwester Karima Quad sind im Oktober mit ihrer kranken Mutter, sechs weiteren Geschwistern und mehreren Nichten und Neffen vor dem Krieg in Afghanistan nach Europa geflohen. Wie alle Neuankömmlinge auf Lesbos haben sie eine lebensgefährliche Ägäis-Überquerung aus der Türkei hinter sich. Direkt nach ihrer Ankunft wurden sie nach Moria gebracht. Noch immer können sie nicht fassen, was sie in dem hoffnungslos überfüllten Lager erleben mussten: „Wir dachten, dass in Europa die Menschenrechte geachtet werden. Aber das ist eine Lüge.“ Aus Protest gegen ihre menschenunwürdige Behandlung besetzen sie seit über zwei Wochen mit insgesamt 35 Flüchtlingen und einigen solidarischen Griechinnen und Griechen das Syriza-Gebäude. Ihre Forderungen: Freilassung des iranischen Flüchtlings Hesam Shaeri Hesari aus der Abschiebehaft und Transfer aller 35 Geflüchteten aufs griechische Festland.

Im vergangenen Winter erfroren Menschen

Für Arash Hampay aus dem Iran, der sich eine Weile zu den beiden Frauen setzt, ist es bereits der zweite Winter auf Lesbos. Letztes Jahr musste er mit ansehen, wie eine Frau und ein Kind in Moria ums Leben kamen, als ein Gaskocher in einem Zelt explodierte. Mehrere Menschen erfroren in dem bitterkalten Winter oder starben bei Versuchen, sich zu wärmen. Nun eskaliert die Situation erneut. Das Lager ist für die kurzfristige Unterbringung von maximal 2.330 Menschen ausgelegt. Inzwischen leben jedoch ungefähr drei Mal so viele dort, viele von ihnen bereits seit über einem Jahr. Und die Zahl der Menschen steigt weiter. Jeden Tag kommen neue Boote mit Flüchtlingen auf Lesbos an, ein Großteil davon Kinder.
 

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Im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos gibt es nichts zu lachen. Trotzdem ist dieses kurze Video entstanden.


Überall innerhalb der mit Stacheldraht bewehrten Lagermauern und zunehmend auch in den angrenzenden Olivenhainen haben die Neuankömmlinge Campingzelte auf dem nackten Boden aufgeschlagen. Kinder laufen barfuß zwischen Müll und Fäkalien herum. Es riecht nach verbranntem Plastik. Wenn es regnet, heben die Flüchtlinge ihre kleinen Zelte an, damit sie nicht von herablaufendem Wasser und Schlamm durchtränkt werden. Kleidung zum Wechseln haben sie nicht. Es gibt auch nirgendwo warmes Wasser oder einen Raum zum Aufwärmen. Wie viele Menschen aufgrund nicht behandelter Krankheiten – selbst ein Schnupfen kann unter solchen Umständen tödlich sein – in Moria bislang starben oder sich aus Verzweiflung umgebracht haben, ist offiziell nicht bekannt.

Moria ist ein lebensgefährlicher Ort

Hampay wurde aufgrund seiner Arbeit als Menschenrechtsaktivist im Iran mehrmals inhaftiert und gefoltert. Sein Vater und sein älterer Bruder wurden umgebracht. Nachdem er und sein jüngerer Bruder erneut zu langen Haftstrafen verurteilt werden sollten, flohen sie. „Vielleicht sollten wir in den Iran zurückgehen“, sagt er nun bitter. „Im iranischen Gefängnis hatten wir wenigstens eine Toilette und eine Dusche und bekamen regelmäßig was zu essen. In Moria muss man zwei bis drei Stunden anstehen für eine kleine, kaum genießbare Mahlzeit. Und bei den wenigen sanitären Anlagen, die es gibt, fragt man sich, ob das eine Toilette oder eine Dusche ist, so verdreckt ist alles.“

Als sein Bruder abgeschoben werden sollte, ist Hampay in Hungerstreik getreten. Nun protestiert der 32-Jährige erneut. Es geht ihm in erster Linie um die Sicherheit der Flüchtlinge. „Moria ist ein gefährlicher Ort“, erklärt er. „Frauen und Kinder trauen sich nachts nicht, allein zur Toilette zu gehen. Die Polizei verschließt die Augen vor dem, was im Lager passiert, oder schikaniert uns.“ Da Hampay inzwischen auch auf Lesbos zu einem bekannten Menschenrechtsaktivisten geworden ist, kommen für ihn Todesdrohungen von Rechtsradikalen hinzu, die Fotos von ihm im Internet verbreiten und ihn auf der Straße angreifen.

Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen

„Wer noch keine schwerwiegenden psychischen Probleme hat, bekommt sie in Moria“, betont Dimitra Ippeoti, die als Krankenschwester im selbstverwalteten Aufnahmezentrum Pikpa in der Nähe des Flughafens arbeitet. Wenige Festangestellte und einige Ehrenamtliche aus Griechenland und anderen europäischen Ländern kümmern sich hier um besonders verwundbare Flüchtlinge – Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, chronisch krank oder schwanger sind, eine Behinderung haben oder ein Schiffsunglück überlebt haben. In Pikpa liegen Leben und Tod dicht beieinander: „Wir haben einige Neugeborene hier, aber erst vor wenigen Tagen hatten wir auch wieder eine Trauerfeier. Eine Familie mit zwei kleinen Töchtern ist letzte Woche angekommen. Ihren 8-jährigen Jungen haben sie bei der Überfahrt verloren.“ Die Zahl der Flüchtlinge, die versuchten, als „vulnerabel“ eingestuft zu werden, steige an, erklärt Ippeoti, weil dies die einzige verbliebene Chance sei, aufs Festland zu gelangen. Außerdem seien inzwischen auch tatsächlich fast alle vulnerabel. Zu sehr setze das Warten und das Leben im Lager den Menschen zu.

Mit den Asylverfahren geht es nach wie vor nur sehr schleppend voran. Dabei gehört ein Schnellverfahren in so genannten „Hotspots“ wie Moria zum Kern des EU-Türkei-Abkommens. Wer nach dem 20. März 2016 auf den griechischen Inseln angekommen ist, muss direkt vor Ort auf eine Entscheidung warten. Wird ein Schutzanspruch festgestellt, dürfen die Betroffenen aufs Festland weiterreisen, die anderen müssen in die Türkei zurück – so der Deal. „Die Priorität liegt darauf, Schutzsuchende abzuschieben, nicht aber ihnen Asyl zu gewähren“, erklärt Jill Alpes, Expertin für Migrationsrecht. Das führe zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen.
 

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Ramona Lenz und Holger Priedemuth von medico international haben Flüchtlinge getroffen, die sich gegen die desolaten Bedingungen in Moria auflehnen. Ihr Film zeigt Elend und Willkür, aber auch Mut und Solidarität.


HarekAct, ein Blog über das europäisch-türkische Grenzregime, dokumentiert den Fall von zwei Brüdern aus Nigeria, die unmittelbar nach ihrer Ankunft auf Lesbos in Abschiebehaft kamen, weil sie einer der 28 Nationalitäten angehören, deren Anerkennungsrate bei unter 33 Prozent liegt. Ebenso wie alleinstehende syrische Männer können sie auf den Inseln unmittelbar nach ihrer Ankunft bis zum Abschluss ihres Verfahrens inhaftiert werden. Die beiden Brüder blieben drei Monate in Haft, wo es nur sehr eingeschränkt Zugang zu medizinischer Versorgung und juristischer Unterstützung gibt, bevor sie direkt wieder abgeschoben wurden. Ein eklatanter Verstoß gegen das individuelle Recht auf Asyl.

Rückkehr aus Verzweiflung

Im idyllischen Hafen von Mytilini versammeln sich mindestens einmal pro Woche Mitarbeiter von Frontex und griechischer Polizei, um Menschen in die Türkei zurück zu bringen. Mit einem Bus holen sie die Leute von der örtlichen Polizeistation ab, wo sie zuvor aus Moria hingebracht wurden, und führen sie auf die wartende „Sunrise Ferry“. An diesem Morgen werden acht Menschen an der Polizeistation in den Bus gebracht. Zwei werden wieder herausgeholt; offenbar haben ihre Anwälte die Abschiebung in letzter Minute verhindern können. „Oft sind die Namen der Flüchtlinge jedoch nicht bekannt und die Anwälte erfahren nicht rechtzeitig von der Abschiebung“, erklärt Valeria Hänsel von HarekAct. „Da man den Flüchtlingen ihre Mobiltelefone abnimmt, bevor sie in Abschiebehaft kommen, haben sie keine Möglichkeit, jemanden zu informieren.“ In der Türkei sind die Bedingungen noch schlechter. „Abgesehen davon, dass die wenigsten Flüchtlinge überhaupt Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten, gibt es nur sehr, sehr wenige Anwälte, die sich mit dem neuen Asylrecht in der Türkei auskennen“, erklärt Alpes, „und die sind selbst in Gefahr. Es kann also keine Rede von einem sicheren Drittstaat sein.“

Trotzdem stimmen immer mehr Menschen aufgrund der elenden Lebensbedingungen auf den griechischen Inseln und angesichts des bevorstehenden Winters einer so genannten „freiwilligen Rückkehr“ zu, so auch 216 Syrer, die sicherlich einen Schutzanspruch in Europa hätten, aber aus Verzweiflung über die lange Wartezeit wieder in die Türkei zurückgegangen sind. „Wer sich zu einer ‚freiwilligen‘ Rückkehr entschlossen hat, wird unmittelbar nach der Entscheidung inhaftiert und dann in Handschellen auf die Fähre gebracht“, berichtet Hänsel. Geht es um eine Rückführung in Herkunftsländer könne die Haft der „freiwilligen Rückkehrer“ auch schon mal Monate dauern, denn es muss erst die Zustimmung des betroffenen Landes eingeholt werden.

Open The Islands  

Carmen Dupont von Lesbos Solidarity spricht angesichts der aussichtslosen Lage der Flüchtlinge auf Lesbos nicht von „freiwilliger“, sondern von „verzweifelter“ Rückkehr. Die Menschen, die nun ihren zweiten Winter in Moria verbringen müssten, hätten jede Hoffnung verloren. Das sei keine humanitäre Katastrophe, sondern die Folge einer politischen Entscheidung. „Die europäischen Regierungen wollen, dass die Leute unter diesen Bedingungen auf den Inseln festsitzen, um weitere Menschen vor der Flucht nach Europa abzuhalten.“ Dupont ist Mitinitiatorin des Aufrufs „Open the Islands“. Zahlreiche Solidaritätsgruppen fordern von der griechischen Regierung, die Flüchtlinge auf das Festland weiterreisen zu lassen und dort angemessen unterzubringen. Von Europa verlangen sie, Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen und das tödliche Abkommen mit der Türkei zu beenden.

So erfahren die Flüchtlinge auf Lesbos neben zunehmenden Anfeindungen auch nach wie vor Solidarität, nicht zuletzt untereinander. Der Syrer Qays Hamad, der für die medico-Partnerorganisation Jafra Foundation in palästinensischen Flüchtlingslagern in Syrien arbeitete, realisierte schnell, dass sich von offizieller Seite niemand für die Flüchtlinge in Moria verantwortlich fühlt, als er vor drei Monaten selbst als Flüchtling in Moria ankam. Angesichts des nahenden Winters beschloss er daher, selbst die Initiative zu ergreifen, und organisierte gemeinsam mit Jafra-Leuten aus Athen – alle selbst Flüchtlinge – die Verteilung von Schlafsäcken in Moria. Weitere Aktivitäten sollen folgen. „Die Situation in Moria ist katastrophal. Ich möchte hierbleiben und etwas für die Menschen tun“, erklärt er.

Flüchtlinge, die sich gegen ihre Lebensbedingungen auf Lesbos wehren, begeben sich allerdings in Gefahr. Nach einer Demonstration für faire Asylverfahren wurden im Juli 35 Flüchtlinge in Mytilini inhaftiert. 30 von ihnen sitzen noch immer in Haft. Ein junger, politisch engagierter Mann aus Afghanistan, der seinen Namen aus Angst nicht in der Zeitung lesen will, erzählt: „Ich habe in Afghanistan für die internationalen Truppen übersetzt und an einer Mädchenschule unterrichtet. Deshalb wurde ich von den Taliban verfolgt.“ Vor wenigen Wochen wurde sein Vater in Afghanistan getötet, von seiner Schwester hat er seit langem nichts mehr gehört. Dass sein Asylantrag nun abgelehnt wurde, kann er nicht fassen. „Das ist mein Todesurteil“, sagt er. Die einzige Erklärung, die er dafür hat, ist sein öffentlicher Einsatz für die Rechte der Flüchtlinge auf Lesbos.

Ramona Lenz


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