Es war eine kleine Provokation des französischen Marxisten Henri Lefebvre, dass er im Jahr 1968 den einhundertsten Geburtstag von Marx' Kapital wider Erwarten mit einer Schrift über „Das Recht auf Stadt“ würdigte, anstatt über das revolutionäre Weltproletariat zu philosophieren. Für ihn stand das Städtische, das urbane Leben im Zentrum einer aktuellen Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, aber eben auch ihrer Veränderung. Eines seiner Argumente wurde in den Jahrzehnten darauf zu einem Leitgedanken der globalen Recht auf Stadt-Bewegung: Die Idee, dass die Stadt nicht nur eine Schöpfung der Planenden und Regierenden ist, sondern sie gleichermaßen von unten produziert wird: von denen, die sie bewohnen und mit Leben füllen.
Wie aber kann man diese Feststellung auf eine Situation anwenden, in der eine Stadt in die Luft fliegt – wie Teile Beiruts am 4. August 2020? Nach Angaben von UNDP wurden durch die Explosionen 200.000 Wohneinheiten in insgesamt 30.000 Häusern beschädigt, 3.000 Wohngebäude sind komplett zerstört. Hunderte Menschen starben, Tausende wurden verletzt, viele trugen bleibende körperliche Schäden davon. Doch die Explosion in Beiruts Hafen hat eben nicht nur Menschen getötet, Häuser zerstört und Fensterscheiben zerbrochen. Nicht nur die Orte alltäglicher Begegnungen, sondern auch die mit ihnen verknüpften sozialen Netze und informellen Verbindungen der Stadtteile liegen am Boden: das, was zwischen den Menschen ist und dessen Schauplatz die Stadtteile und Nachbarschaften sind. Alltägliche Abläufe und Routinen sind unterbrochen, Menschen haben die Viertel rund um den Hafen temporär oder für immer verlassen, viele Überlebensstrategien funktionieren nicht mehr. Doch gerade die Bewohner*innen der ärmeren Stadtteile, die oft in informellen Arbeits- und Wohnverhältnissen leben, sind auf all das angewiesen. Hier leben Menschen in sozialen Verbindungen, von denen beinahe ihre gesamte Existenz abhängt.
Wiederaufbau als politischer Prozess
Können Hilfe und Politik nach der Explosion diese Probleme beantworten, können sie so sensibel sein, all das zu sehen, was sich nicht nur mit Geld, Baukränen und Beton lösen lässt? Und gleichzeitig eine Alternative jenseits eines neoliberalen Wiederaufbaus ermöglichen? Beiruts Recht-auf-Stadt-Bewegung versucht es. „Die Vorstellung von einem Recht auf Stadt entspringt nicht vorrangig irgendwelchen intellektuellen Interessen und Modeerscheinungen. Sie erhebt sich ursprünglich aus den Straßen und Stadtvierteln, als Ruf der Unterdrückten nach Hilfe und Unterstützung in verzweifelten Situationen“, schreibt der amerikanische Kapitalismuskritiker David Harvey in seinem Buch „Rebellische Städte“. So ist es auch im Beirut nach der Explosion. Und der Wiederaufbau ist nicht bloß eine Sache von Baumaterial und Hilfsgeldern, sondern von Demokratie und politischen Rechten. Es geht um eine politische Idee des Wiederaufbaus, die weiter geht als humanitäre Hilfe und Fassadenpolitik im wortwörtlichen Sinne.
Sie muss die Viertel einerseits von einem finanzmarktgetriebenen Ausverkauf und Vertreibung bewahren und andererseits dazu beitragen, dass das Leben in den Stadtteilen und alles was an ihm hängt, wiederhergestellt und im bestmöglichen Sinne erneuert werden kann. „Folglich ist es wichtig, nach Gewalttaten oder Brüchen die sozialräumlichen und wirtschaftlichen Netzwerke aus der Zeit vor der Katastrophe zu berücksichtigen, die die Menschen durch ihre Praktiken und Erinnerungen mit einem Ort verbinden. Der Prozess des städtischen Wiederaufbaus muss außerdem über die Wiederherstellung hinausgehen, um städtische Ungerechtigkeiten anzugehen. Er muss daher in einem von unten nach oben gerichteten und sozial gerechten Rahmen ablaufen“, schreiben die Stadtforscher Howayda Al-Harithy und Batoul Yassine in einem Gastbeitrag beim medico-Partner „The Public Source“.
Doch die Sorge vieler Bewohner*innen Beiruts ist groß, dass genau dies nicht geschehen wird. Sie gründet sich auf die Erfahrungen des letzten Beiruter Wiederaufbaus nach dem Bürgerkrieg. Das ehemalige „Paris des Nahen Ostens“ bestand im Jahr 1990 fast nur noch aus Trümmern. Dem später ermordeten Premierminister Rafik Hariri gehörte das Bau- und Immobilienunternehmen Solidere, das Hauptakteur des „Wiederaufbaus“ werden sollte. Von Wiederaufbau kann man durchaus sprechen, auch wenn Einschusslöcher an Häuserwänden noch heute an den Bürgerkrieg erinnern. Aber das Zentrum ist zu einer sozial morbiden Shoppingmall mit Wolkenkratzern, Büros, Tiefgaragen und einer überdimensionierten Moschee umfunktioniert worden. Hariri war als Premierminister gleichzeitig Vorsitzender des Unternehmens – eine ganz außergewöhnliche Art der Public-Privat-Partnership, die das Unternehmen mit besonderen Möglichkeiten ausstattete: Durch Vertreibungen und Enteignungen, die mit Solidere-Aktien „entschädigt“ wurden, durchlebten ehemals ärmer geprägten Viertel eine Transformation in Orte von luxuriösen Wohnkomplexen und Privatkliniken. Aber auch für Student*innen, Tourismus, Gastronomie und Clubs wurde das Zentrum zum Anziehungspunkt. Leidtragende waren die Einwohner*innen. In einer GEO-Dokumentation aus jenen Jahren sagt der Bürgerkriegsflüchtling Samir Wamod: „Die Granaten und Bomben konnten uns in all den Jahren nicht vertreiben, nun müssen wir gehen.“ Der Wiederaufbau finalisierte also die Katastrophe, anstatt ihre Schäden zu beheben.
Karantina – ein Stadtteil als Spiegel der Geschichte
Auch die jüngste Geschichte der Stadtteile rund um den Hafen ist schon seit langem von neoliberalen Prozessen geprägt, die sich nun zu verschärfen und zu wiederholen drohen. Die weltweit bekannten Kräfte der Finanzialisierung der Bau- und Immobilienwirtschaft und die ihr verwandten Erscheinungen – Gentrifizierung, Stadttourismus, Spekulation und Vertreibung – prägten auch das letzte Jahrzehnt in den jetzt besonders betroffenen Stadtvierteln rund um den Hafen, vielleicht am deutlichsten im Ausgeh- und Kneipenbezirk Mar Mikhael, wo eine komplett suspendierte Stadtplanung junge erlebnishungrige Menschen auf eine alte Bevölkerung losgelassen hat, die sich irgendwann nur noch mit Beleidigungen und Wassereimern zu verteidigen wusste. Gleichzeitig hat die Explosion den benachbarten armen Stadtteil Karantina am schlimmsten getroffen. Das Viertel war zu Zeiten des Osmanischen Reiches eine Quarantäneeinrichtung des Hafens. Im frühen 19. Jahrhundert kamen viele Arbeiter*innen vom Land hierher, ehe es auch ein Zuhause für Armenier*innen, Kurd*innen und Palästinenser*innen wurde, die nach dem Völkermord an den Armeniern 1915, dem Ersten Weltkrieg und der Nakba von 1948 hier Zuflucht suchten. Karantina wurde zum durchmischten Arbeiter*innenviertel, seit 2011 leben außerdem viele syrische Flüchtlinge hier. Schon das Massaker von Karantina in der Frühphase des libanesischen Bürgerkriegs, angerichtet durch christliche Milizen, hat erhebliche Schäden in dieser Sozialstruktur angerichtet. Nun droht eine weitere Geschichte der Verdrängung.
Der Wiederaufbau Beiruts findet in einem hoch komplexen sozialen und politischen Umfeld statt, in dessen Folge viele bereits marginalisierte Menschen von Verdrängung und Vertreibung betroffen sein werden. Gleichzeitig gibt es im Libanon keine regulativen staatlichen Institutionen, im Gegenteil, genau diese sind es, die sich an Kapitalspekulation und Verdrängung von Menschen aktiv mit beteiligen und in der Frage des (international finanzierten) Wiederaufbaus der Stadt eine lukrative weitere Einnahmequelle sehen. Der seit einigen Jahren stagnierende Bau- und Immobiliensektor wittert hier neue Profite. Gerüchte über Vertreibungsversuche kursieren seit den ersten Tagen nach der Explosion und die Frage, welche Häuser mit welchen Kriterien zum Abriss (und damit zur Vertreibung ihrer Mieterschaft) freigegeben wird, ist ein Politikum.
Neuer medico-Partner: Public Works
Auf unserer medico-Reise im August, wenige Tage nach der Explosion, stellten wir in Gesprächen schnell fest, dass die Katastrophe im Hafen deutlich größere und langfristigere politische Implikationen hat, als es die auf akute Notlagen fokussierte Berichterstattung vielleicht vermuten ließ. Die Ursachen der Katastrophe sind tief in den politischen Strukturen des Landes verwurzelt und ihre Folgen sind ebenfalls im Kontext einer allgemeinen und tiefen Krise angesiedelt. Der Wiederaufbau ist eben ein politischer Prozess und viele der darin liegenden Probleme sind nicht von einer einfachen Art, die eine bloß humanitäre Antwort möglich macht. medicos neuer Partner Public Works vernetzt Aktivist*innen, Urbanist*innen und Stadtplaner*innen. Das Kollektiv versucht, das existierende stadtpolitische und stadtplanerische Wissen für die konkreten politischen Auseinandersetzungen nutzbar zu machen und die Vernetzung von Nachbarschaftskomitees und Aktivist*innen zu koordinieren. Nach den Explosionen vom 4. August begann Public Works direkt mit der Arbeit in den besonders betroffenen Stadtvierteln Karantina, Mar Mikhayel, Gemmayze, Geitawi, Al-Rum, Fassouh, und Badawi. Lokale Komitees und Bewohner*innen werden unterstützt. Von Vorteil ist dabei, dass das Netzwerk bereits seit Jahren in jenen Vierteln gearbeitet hat. In gewisser Weise setzt Public Works diese Arbeit nun unter viel intensiveren Bedingungen fort.
In den kommenden Monaten sollen dabei vor allem drei strategische Aufgaben angegangen werden: Erstens das Monitoring von Schäden, aber auch von drohenden oder bestätigten Verdrängungen. Die Betroffenen sollen nach Möglichkeit rechtliche (anwaltliche) Unterstützung durch Public Works erhalten. Zusätzlich vermittelt Public Works Betroffene an die vielzähligen Hilfsprojekte in der Innenstadt, insbesondere diejenigen, die sich eine Reparatur der Wohnung nicht leisten können. Durch eine schnelle Vermittlung und Instandsetzung von Wohnraum soll auch verhindert werden, dass Hausbesitzer und Investoren Gebäude als unbewohnbar deklarieren können, um Gebäude abzureißen, oder die Anwohner zu vertreiben. Zweitens soll duch 15 „neighbourhood meetings“ den Bewohner*innen die Möglichkeit gegeben werden, ihre Prioritäten des Wiederaufbaus zu diskutieren und zu dokumentieren. Ziel dieser Treffen ist eine Art „Fahrplan“ für den lokalen Wiederaufbau zu erstellen, der die Prioritäten der Bewohner*innen in den Vordergrund rückt. Eingerahmt werden diese Treffen durch größere öffentliche Debatten verschiedener Gemeinden.
Um eine breitere Wirkung zu erzielen, wird Public Works drittens die Arbeit in den Stadtteilen durch eine größer angelegte Öffentlichkeitsarbeit begleiten. Einerseits, um die Entwicklungen in einen größeren Kontext politischer und ökonomischer Entscheidungen und systematischer Verdrängung zu rücken, anderseits um korrupte Strukturen offen zu legen und die verantwortlichen Entscheidungsträger*innen zu benennen. „Die Freiheit, uns selbst und unsere Städte zu erschaffen und immer wieder neu zu erschaffen, ist eins der kostbarsten und dennoch am meisten vernachlässigten unserer Menschenrechte“, schreibt David Harvey. In Beirut ist diese „Freiheit“ gegenwärtig eher eine umkämpfte Notwendigkeit. Nichtdestotrotz: Auch in der Beiruter Stadtpolitik wird um Menschenrechte gerungen.