Es war eine Entschließung von historischer Dimension, die die Regierungen der Welt vor 30 Jahren, am 12. September 1978, in Alma Ata fassten. Sie verabschiedeten unter dem Motto „Gesundheit für Alle“ Leitlinien für die Gesundheitspolitik der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die zugleich auch den Maßstab an ihre eigenen Politiken legten: Das in der Menschenrechtsdeklaration von 1948 verkündete Recht auf Gesundheit sollte auch in der Praxis realisiert werden.
„Gesundheit für Alle“ – so war die Deklaration von Alma Ata überschrieben, der Weg dorthin sollte über die Primary Health Care (Basisgesundheitspflege), die PHC-Strategie, erreicht werden. Dabei ging es nicht um ein „Rezept“ für Armenmedizin, sondern um eine viel grundsätzlichere Änderung, um ein neues Denken und ein neues Verständnis von Gesundheit, das weit über die Medizin hinausreichte. Es ging um das Recht aller auf Gesundheit und eine Strategie zur Materialisierung dieses Rechts.
„Eine funktionierende Primary-Health-Care-Strategie kann es nur geben, wenn sie im Rahmen des Werte-Systems von 'Gesundheit für Alle' erarbeitet wird“, so der ehemalige Generalsekretär der WHO Halfdan Mahler, unter dessen Ägide die Beschlüsse von Alma Ata 1978 zustande kamen. Dieser Grundgedanke prägt die sozialmedizinische Arbeit von medico international und seiner Partner bis heute. Nun, nach 30 Jahren, erhält die PHC-Strategie wieder Aufwind. Denn es ist deutlich geworden, dass die Ein-Punkt-Kampagnen der globalen Gesundheitspolitik zu scheitern drohen, wenn es nicht gelingt, die Gesundheitsfürsorge neu zu denken. Primary Health Care (PHC) in ihrem umfassenden Sinne ist zumindest auf der Ebene der Debatten wieder aktuell.
Worum aber handelt es sich eigentlich. Drei Grundprinzipien sind das Fundament des PHC-Ansatzes:
I. Politische und sozioökonomische Bedingungen haben wesentlichen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit und müssen Berücksichtigung finden, d.h. die Förderung von sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit ist eine notwendige Voraussetzung für Gesundheit.
II. Die Verbesserung von Gesundheit ist eine multisektorale Aufgabe und kann nicht vom Gesundheitssystem allein bewältigt werden – Trinkwasserversorgung, sanitäre Systeme, Wohnverhältnisse, Ernährungssicherung, Gewaltprävention sind zentrale Arbeitsfelder der Gesundheitsförderung, die kooperativer Lösungen ganz unterschiedlicher Akteure bedarf.
III. An der Verbesserung der Gesundheitsbedingungen und der Gestaltung der Gesundheitsdienste müssen die Betroffenen als Akteure beteiligt sein. Die Partizipation der Betroffenen, des Dorfes, der Gemeinde, der Nachbarschaft, beinhaltet einen respektvollen Umgang mit und die Nutzung von lokalem Wissen, Ressourcen und Erfahrungen, die Dezentralisierung von Entscheidungen und das Zur-Verfügung-Stellen von Mitteln zu ihrer Umsetzung.
Der PHC-Ansatz entmystifiziert das Expertenwissen und stärkt die lokalen Gesundheitspromotoren (Community Health Worker). Sie spielen eine zentrale Rolle bei der Ausdehnung der PHC auf ländliche Gemeinden. Sie sind wesentlich in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Und ihnen kommt eine starke anwaltschaftliche und sozial mobilisierende Rolle zu. All dies bedroht das traditionelle hierarchische Modell der medizinischen Versorgung ebenso wie die lokalen Herrschaftsstrukturen. Hierin verbirgt sich eine Ursache dafür, dass der PHC-Ansatz zum Teil bis zur Unkenntlichkeit reduziert und letztlich nur punktuell in der Weltgesundheitspolitik umgesetzt wurde.
Eines der wenigen positiven Beispiele für eine erfolgreiche Praxis war Nicaragua. 10 Monate nach der Alma-Ata-Konferenz hatten die Sandinisten den Diktator Somoza vertrieben. Gesundheit gehörte zu den wichtigen Aufgaben der neuen Regierung. Schon drei Wochen nach der Regierungsübernahme wurde mit dem Aufbau eines „Einheitlichen Nationalen Gesundheitssystems“ begonnen. Die Prinzipien der PHC „Gerechtigkeit – Gleichheit – Partizipation“ sollten in ihm verwirklicht werden.
Die Mittel des Gesundheitsbudgets wurden gleichmäßiger über alle Provinzen verteilt. 500 Gesundheitsposten entstanden in ländlichen Gegenden. Der Prozentsatz der Gesundheitsprofessionellen, die in der Basisversorgung arbeiteten, verdreifachte sich. Ein klarer Indikator für die Wirksamkeit dieser Dezentralisierung waren auch die medizinischen Konsultationen, die sich pro Kopf der Bevölkerung und Jahr von 0,8 auf 2,3 ebenfalls verdreifachen.
Lokale Gesundheitsräte wurden eingerichtet aus Vertretern von Gemeindegruppen, Gewerkschaften und Basisgruppen der sandinistischen Organisationen. Sie koordinierten große Kampagnen an nationalen Gesundheitstagen, in denen Tausende von Freiwilligen Kinder gegen die wichtigsten Krankheiten impften (Kinderlähmung, Masern, Diphterie, Keuchhusten) oder Massenbehandlungen gegen Malaria durchführten. Ab 1982 gab es keinen Fall von Kinderlähmung mehr, auch Masern, Keuchhusten und Malaria gingen dramatisch zurück. Erst mit der Intensivierung der militärischen Auseinandersetzungen Ende der 80er Jahre stiegen diese Zahlen wieder an.
Die Ergebnisse der frühen Jahre waren so beeindruckend, dass die WHO Nicaragua als ein exemplarisches Beispiel für die Wirksamkeit des PHC-Modells herausstellte.
Auch medico international war an diesem Aufbruch in eine bessere Gesundheitsversorgung beteiligt: Ab 1983 übernahm medico in Absprache mit dem Gesundheitsministerium den Aufbau der Gesundheitsinfrastruktur in der Region Río San Juan an der Grenze zu Costa Rica im Südosten des Landes, einer der ärmsten Regionen Nicaraguas. Ziel dieser 10jährigen Arbeit war nicht nur der Aufbau von Gesundheitsposten, Gesundheitszentren und einem Regionalkrankenhaus, sondern auch die Aus- und Fortbildung von Hunderten junger Menschen in den Inhalten und Methoden der PHC, die so eine gesundheitliche Grundversorgung und Verbesserung der Lebensverhältnisse in den abgelegenen Dörfern und Gemeinden realisierten. 18 Jahre nach der historischen Abwahl der Sandinisten 1990 sind die wesentlichen Teile dieser sozialen Gesundheitsinfrastruktur erhalten geblieben.
Das PHC-Konzept steht heute allerdings vor neuen Herausforderungen. In den 30 Jahren seit der Formulierung des Konzepts von Alma Ata hat sich die Stadt-Land-Verteilung der Weltbevölkerung tiefgreifend verändert. In den sog. Entwicklungsländern leben immer mehr Menschen in Städten: Waren es 1960 noch 22%, so waren es 1999 bereits 40%; Für 2030 rechnet man mit einer städtischen Bevölkerung von 3,9 Milliarden.
Die sozialen und damit auch gesundheitlichen Unterschiede sind in den Städten ausgeprägter als im ländlichen Raum. Während die wohlhabenden Schichten von der nahen Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung deutlich profitieren, sieht es in den unregulierten Teilen der Städte ganz anders aus: Bei mangelhafter oder fehlender Infrastruktur, beengten, schlechten Wohnverhältnissen, ungesicherten Einkommen, gefährden die traditionellen Armutskrankheiten die Bewohner. Die Malaria und Dengue-Fieber übertragenden Mückenarten haben sich an die städtischen Verhältnisse adaptiert, neue Erreger wie SARS oder die Vogel-Grippe finden in den Städten mit vielen Menschen auf engem Raum optimale Verbreitungsmöglichkeiten. Die Wohngebiete der Armen befinden sich zudem in der Regel in besonders gefährdeten Gebieten, z.B. nahe an Industrieanlagen, deren Abwässer und Abgase starke Gesundheitsgefährdungen darstellen können, oder an steilen Hängen, die bei starken Unwettern zu dramatischen Katastrophen durch Erdrutsche führen.
Das Stadtleben birgt noch dazu spezifische Gefahren. In Rio de Janeiro und São Paulo ist die Sterblichkeitsrate an Gewaltverbrechen in den ärmsten Stadtteilen 11-mal so hoch wie in den reichsten. Auch andere, weniger dramatische Stadtprobleme treffen die Armen mehr als die Reichen: die hohe Luftverschmutzung, Unfälle im Straßenverkehr, Lärm und gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen führen zu chronischen Gesundheitsschäden. Schätzungsweise 20% aller Herz-Kreislauferkrankungen in den Städten werden auf solche spezifischen Umweltbedingungen in den Städten des Südens zurückgeführt. Die spezifische Kombination aus „altbekannten“ Infektions- und Armutskrankheiten und „neuen“ chronischen Gesundheitsschäden wird auch als „doppelte Belastung“ (double burden) bezeichnet und ist charakteristisch für die Gesundheitssituation in den städtischen Zentren des Südens.
VIDEO: Eine Botschaft von Dr. Halfdan Mahler (früherer WHO-Generaldirektor) an das People's Health Movement (PHM)
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Wurde das PHC-Konzept häufig als eine Strategie für Entwicklungsländer und speziell zur Versorgung der armen Bevölkerung verstanden, so stellt der Anspruch der WHO, Gesundheit im weiten Verständnis als soziales, psychisches und körperliches Wohlbefinden und als menschenrechtliche Garantie zu begreifen, auch erhebliche Herausforderungen an die „entwickelten Länder“. Eine Reformulierung des PHC-Konzepts mit Blick auf die Industrieländer wurde mit der Ottawa-Charta 1986 vorgenommen, in der der Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten und die Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten als Hauptaufgabe der Gesundheitspolitik benannt wurde. Doch in Deutschland ist es bis heute nicht gelungen, gegen die Interessen des traditionellen Gesundheitssystems und der Gesundheitspolitik ein „Präventionsgesetz“ einzuführen, mit dem diesen Überlegungen Rechnung getragen würde. Und das, obwohl die langfristige Finanzierung solcher gesundheitsförderlicher Initiativen mit einem Bruchteil der für die kurative Medizin verfügbaren Mittel möglich wäre.
Dabei wären Initiativen zur Förderung einer „Gesundheit für Alle“ ohne Zweifel von großer Bedeutung und sollten über den Status von Pilotprojekten und Einzelinitiativen mit zeitlich begrenzter Förderung hinausgehen: Tatsächlich existiert weiterhin soziale Ungleichheit in der Gesundheits- und Lebenserwartung je nach sozialer Schicht in Deutschland. Hinzu kommt als vielleicht drastischste aktuelle Verletzung des Menschenrechts auf Gesundheit die Einschränkung und Verweigerung medizinischer Versorgung für Asylbewerber und illegalisierte Flüchtlinge.
Projektstichwort
Das People's Health Movement sei die einzige globale Bewegung, so Halfdan Mahler, ehemaliger WHO-Generalsekretär, „die ernsthaft versucht, die Botschaft von Alma Ata wieder zu beleben.“ Der dort formulierte globale Gleichheitsanspruch ist Leitmotiv des PHM, dem medico international angehört und dessen Vernetzungs- und Lobbyaktivitäten medico fördert. Ein solch zentrales Aufgabenfeld kann nur ein Stichwort haben: medico international.