medico: In Europa scheint das Ende der Covid-19-Pandemie absehbar. Auf globaler Ebene stecken wir immer noch mittendrin. Was ist aus den Hoffnungen geworden, die Pandemie könne uns dem globalen Recht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit näherbringen?
Remco van de Pas: Ich erinnere mich, dass ich 2011 gemeinsam mit Thomas Gebauer und Andreas Wulf auf einer Konferenz im indischen Neu Delhi war. Schon damals wollten wir eine Koalition zur Demokratisierung der globalen Gesundheit gründen, um eine Konvention zur Durchsetzung des Rechts auf Gesundheit auszuarbeiten. Es ist aus vielen Gründen nicht dazu gekommen. Ich beschäftige mich gerade wieder mit der „universellen Gesundheitsversorgung“, eine immer wieder proklamierte Idee und inzwischen auch Nachhaltigkeitsziel der UNO. (Das Konzept des Universal Health Coverage stellt die Zugänglichkeit von Gesundheitsdiensten in den Mittelpunkt, nicht das Gesundheitsrecht und nicht die weiteren Grundbedingungen der Gesundheit, d. Red.) Selbst bei dieser abgespeckten Variante des Rechts auf Gesundheit sind wir von der Realisierung heute weiter entfernt als 2011.
Im Laufe der Jahre ist gerade in den Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen die Praxis von Public-Private-Partnerships derart gestärkt geworden, dass die öffentliche Gesundheitsinfrastruktur an vielen Orten fast verschwunden ist. Weltweite Austeritätsmaßnahmen haben die öffentlichen Mittel für soziale Dienste schrumpfen lassen. Jetzt stellen alle überrascht fest, dass man viel mehr davon bräuchte, um die Krise zu bewältigen. Man muss sogar enorme öffentliche Summen in die Forschung und Entwicklung stecken, um Impfstoffe und Medikamente zu produzieren. Das alles geschieht aber nicht im Kontext des Rechts auf Gesundheit, sondern wird als Frage von Gesundheitssicherheit verhandelt. Vor einem Jahr hatte ich noch Hoffnungen, dass die Pandemie ein Momentum für eine demokratische Weltgesundheit darstellen könnte. Jetzt aber ist nur noch die Rede von Sicherheit und Risikominimierung. Um wessen Sicherheit geht es dabei? Hauptsächlich doch um die Sicherheit der Ober- und Mittelschichten in den Ländern mit höherem Einkommen, nicht die aller anderen.
Was steht historisch hinter dem Begriff Gesundheitssicherheit?
Das Konzept ist nicht neu. Es handelt sich dabei um gesundheitspolitische Maßnahmen zur Kontrolle von Infektionsgeschehen und zur Abwehr von Epidemien. Das ist ein sehr altes Konzept, das bis zu Quarantäne- und Sanitätsmaßnahmen aus dem Mittelalter und auf Hygienemaßnahmen des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Seit den Angriffen vom 11. September 2001 und dem darauf folgenden „Krieg gegen den Terror” ist die Gesundheitssicherheit noch enger mit anderen Sicherheitskonzepten verschmolzen. Jetzt geht es darum, unsere (westlichen) Gesellschaften vor Klima-Risiken, dem Terror oder den Epidemien zu schützen. „Gesundheitssicherheit“ tauchte in der internationalen Fachdebatte erstmals 2007 im Titel eines „Weltgesundheitsberichtes“ der WHO auf. Dieser Begriff ist eng gefasst. Er bezieht sich allein auf gefährliche bekannte oder neue Infektionserreger, die ein epidemisches Potenzial haben. Damit unterscheidet er sich stark von dem Begriff der „menschlichen Sicherheit“, der auch soziale Sicherheiten umfasst.
Schaut man sich die zugrunde liegende Philosophie der Gesundheitssicherheit an, stellt man fest: Das ist Biopolitik, wie sie Foucault beschrieben hat. Wir isolieren die Infizierten von der „gesunden“ Bevölkerung und unterminieren die Rechte der Isolierenden. Deshalb empfinde ich die Beschränkung der Covid-Debatten auf das Impfen und Zugang zu Impfstoff als problematisch. Über die Langzeitfolgen der neuen Impfstoffe gibt es noch keinerlei Informationen und kein Nachdenken, auch weil wir nur einen sehr kurzfristigen Sicherheitsbegriff haben. Außerdem werden aktuell sämtliche Ressourcen in die Forschung und Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid gesteckt, während alle anderen Infektionen, die ärmere Bevölkerungen in der Welt treffen, kaum noch beforscht werden. Die Impfprogramme zielen vor allem darauf, dass die Mittelschichten aus den Ländern mit mittlerem und hohem Einkommen wieder sicher sind und an der globalen Gesellschaft partizipieren können. Die „Versicherheitlichung der Gesundheit“ ist also Teil eines neoliberalen Ansatzes zur Bewältigung der Pandemie.
Das war jetzt das halb leere Glas. Gibt es auch ein halb volles?
Ich versuche es. Das beschriebene Herangehen der westlichen Welt, die vor allen Dingen die eigene Sicherheit im polizeilich-militärischen wie im gesundheitlichen Sinne im Blick hat, verliert für den Rest der Welt immer deutlicher an Legitimität. Ich unterrichte an meinem Institut in Antwerpen sehr viele nichteuropäische Studierenden. Sie lehnen die westliche hochtechnisierte Biomedizin ab und sehen, dass es Alternativen zu der westlichen Umgangsweise mit Epidemien und Gesundheit insgesamt gibt. Sie organisieren sich auf regionaler Ebene und setzen sich mit der viel weniger auf Hightech-Medizin orientierten „integrierten Basisgesundheitsfürsorge“ auseinander. Diese junge Generation ist zunehmend in der Lage, die ökologische Zerstörung, die Bedrohung der Biodiversität und die daraus folgenden Krankheitsrisiken miteinander in Verbindung zu bringen. Sie verstehen, dass das kapitalistische Wachstum eine Sackgasse ist. Es braucht einen Paradigmenwechsel wider das Wachstumsmodell. Für dieses neue Denken gibt es mehr Raum.
Was muss sich ändern?
Wir müssen über das epidemiologische Geschehen hinausdenken. Dieses permanente Herunterbeten von Fallzahlen muss aufhören, es befördert ein technisches Herangehen, das uns auf Dauer nicht hilft. Wir müssen uns erlauben, ein anderes Bild zu sehen. Dafür gibt es eine größere Offenheit innerhalb wie auch außerhalb Europas. Aber es braucht viel mehr Debatte und eine breite soziale Bewegung, um Gesundheitsrechte im Kontext eines Paradigmenwechsels durchzusetzen.
Während wir uns in den privilegierten Regionen vorübergehend geschützt fühlen und jetzt mehr als nur unsere eigene Angst in den Blick nehmen können, stehen die Länder des Südens scheinbar vor einer neuen Welle. Wie kann eine andere Herangehensweise aussehen?
Um das noch einmal klar zu sagen: Impfungen werden auch Teil einer alternativen Strategie sein. Dann müssen die Impfstoffe aber lokal produziert werden. Die Frage nach der menschlichen Sicherheit steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Pandemie. Es geht um gesunde Lebensgrundlagen und eine Umwelt, in der menschliches Leben gedeihen kann. Wenn wir eine solche breite Perspektive nicht einnehmen, sondern es immer nur darum geht, Epidemien effizient zu managen, werden die Probleme wiederkehren. Heute reden wir über Covid-19, vor fünf Jahren ging es um Ebola, es gab ähnliche Diskussionen bei Aids, obwohl es eine ganz andere Form einer Viruserkrankung mit einer anderen Epidemiedynamik ist. Wir müssen als Zivilgesellschaft, in unseren Netzwerken, unter progressiven Akademiker:innen darüber nachdenken, wie eine gemeinsame Übernahme von Verantwortung und solidarisches Handeln aussehen können, um die Ursachen von Elend und Krankheit anzugehen. Und ich sehe, dass in dem momentanen Diskurs dafür sehr wenig Zeit und Raum ist, vor allem in den Medien.
Gibt es nicht einen Unterschied zum Umgang mit Ebola? Noch scheint offen zu sein, ob wir einfach zum Status quo ante zurückkehren oder ob die Debatte um die Regionalisierung der Produktionen und damit um eine stärkere Bedeutung regionaler Bündnisse wie der Afrikanischen Union nicht auch zu institutionellen Veränderungen in der WHO führen könnten.
Das stimmt und doch habe ich meine Zweifel. Die bisherige, vom Westen geprägte globale Governance hat mit ihrem selektiven Ansatz und in ihrer Akzeptanz der Ungleichheit nicht nur im Gesundheitsbereich Schaden angerichtet. Ihre globalen Gesundheitsstrategien beruhen auf einem kolonialen medizinischen Ansatz. Insofern sind Menschenrechte und Demokratie schöne Begriffe. Aber sie berücksichtigen diese Wirklichkeit nicht. Wird es besser, wenn es einen regionalisierten afrikanischen oder asiatischen Ansatz gibt? Wir wissen es nicht. Eine von China geführte globale Governance würde auf jeden Fall das autoritäre Moment stärken. Eine afrikanische Regionalisierung hätte wenigstens eine Sensibilität für die Souveränitätsbedürfnisse der Länder. Wenn die Pandemie dazu führt, dass westliche Vorstellungen davon, was für Gesundheit und menschliche Entwicklung notwendig ist, infrage gestellt werden, wäre das schon positiv.
Welche Rolle spielt dabei die WHO? Kann sie eine Plattform für einen demokratischen Multilateralismus werden?
Die WHO braucht mehr Autonomie zum Handeln. Das wird kommen, und Deutschland setzt sich dafür ein, dass die WHO auf supranationaler Ebene effektiver agieren kann und über die nötigen Mittel verfügt, um auf Probleme der öffentlichen Gesundheit besser reagieren zu können. Dass diese wachsende Kompetenz auch demokratisch kontrolliert wird, daran zweifle ich. Der Westen projiziert seine Sicherheitsbedürfnis auf die WHO. Hinzu kommen die geopolitischen Polarisierungen zwischen Russland, China und den USA, die über den Handel ausgetragen werden. Sie setzen der Handlungs- und Demokratisierungsfähigkeit der Vereinten Nationen enge Grenzen.
Kürzlich berichteten uns afrikanische Journalisten, wie groß in ihren Ländern die Skepsis gegenüber Impfstoffen ist, weil dort Impfkampagnen eine Geschichte kolonialer Medizin haben. Müssten nicht traditionelle Formulierungen wie „Gesundheit für alle“ und der Ansatz der Basisgesundheit wieder gestärkt werden?
Die ganzen Debatten um die richtigen pandemischen Maßnahmen von Lockdown über Öffnung bis hin zu den Verschwörungstheorien waren pseudodemokratische Debatten. Interessant ist, was nicht diskutiert wurde: die ökonomische Demokratisierung. Niemand hat den kapitalistischen Konsum und dessen globale Produktionsweise infrage gestellt. Es gibt die Degrowth-Bewegung, aber sie erreicht keine gesellschaftliche Breite. Wenn wir ernsthaft über Prävention reden wollen, dann müssen wir über die Organisation der Agrarindustrie sprechen und darüber, wie Fleisch produziert wird. In Deutschland gab es große Ausbrüche unter Wanderarbeiter:innen in der Fleischproduktion und in der Agrarindustrie. Es wurde viel darüber diskutiert, aber es gab nur wenig Debatten über die Arbeitsbedingungen, die den Ausbruch überhaupt erst ermöglichten. Der europäische Fokus auf Zahlen, technische Details und Management lenkt von den eigentlichen Ursachen ab.
Wir brauchen eine Debatte über globale soziale Gerechtigkeit und Umverteilung, die anständige Lebensbedingungen und eine grundlegende Gesundheitsfürsorge möglich machen. Ich vermute, dass in der Folge der Pandemie eine enorme Finanzkrise auf uns zukommt. Die Schulden in vielen Teilen der Welt werden weiter angewachsen sein, ganz zu schweigen von den Folgen des Klimawandels. Ich bin sehr besorgt darüber, dass wir uns in einem sicherheitstechnischen Ansatz verlieren, bei dem es vor allem um unsere westlichen Risiken geht. Dabei müssen wir uns doch um eine globale Gesellschaft bemühen, in der kommende Generationen ihre Existenz in einer ökologisch stabilen Umwelt aufbauen können.
Das Interview führten Katja Maurer und Andreas Wulf
Übersetzung: Raul Rosenfelder
Das Feld der globalen Gesundheitspolitik hat bei medico eine lange Tradition. Dazu gehören unter anderem die Unterstützung des People`s Health Movements, systematische Lobbyaktivitäten von Basis-Gesundheitsnetzwerken rund um die WHO, die weltweite Vernetzung menschenrechtlich orientierter Gesundheitswissenschaftler:innen u.v.m. Ziel war und ist es, das Recht auf gleichen Zugang zu Gesundheit und die Erlangung eines globalen öffentlichen Gutes möglich zu machen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!