Unterwegs mit den medico-Partnern, die sich gegen feudalistische Strukturen und für eine Lebensperspektive der Menschen engagieren
Beim Zwischenstopp in Dubai treffen wir Selvan, medico-Partner aus Sri Lanka. Wir hatten ihn eingeladen, mit uns zusammen nach Pakistan zu reisen, weil sich seine Organisation um ähnliche Probleme kümmert wie medicos Partner dort. In beiden Ländern herrschen bittere Armut und eine verwilderte Gewalt, die aus der kolonialen Vergangenheit und einer kaum aufzulösenden Verquickung von ethnisierter Politik, Religion und mafioser Korruption rührt. In beiden Ländern ist die Armee Staat im Staat. Wie unsere pakistanischen Partner HANDS und SLRC kümmert sich auch Selvans Organisation vor allem um die Rücksiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen.
Rundschreiben-Podcast
Diesen Artikel als MP3 hören. Sprecher: Stephan Wolf-Schönburg
Am Flughafen der 20-Millionen-Metropole Karatschi begrüßt uns Ghulam Mustafa, bei HANDS für die Rücksiedlungsprogramme für die Überlebenden der Flutkatastrophen 2010/2011 verantwortlich. Mit 1.500 festen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist HANDS medicos größter Partner in Pakistan. HANDS arbeitet in 42.000 Dörfern der Provinz Sindh und angrenzenden Gebieten Balutschistans und des Punjab und erreicht dort über 4 Millionen Menschen. Wir machen Selvan und Mustafa miteinander bekannt und wollen erst einmal kurz ins Hotel. Doch Mustafa muss uns absagen: „Wir können nicht in die Stadt. Heute ist ‚Hartal’, Streik, das Leben steht still.“ Erfunden im Unabhängigkeitskampf, gilt dieser Streik der ganzen Stadt. Straßen werden gesperrt, Bazare bleiben zu, auch Schulen, Fabriken, selbst die Garküchen am Straßenrand. Diente ein Hartal früher der Selbstermächtigung der Leute, wird er ihnen heute meist von bewaffneten Gruppen aufgezwungen. Diesmal protestieren religiöse Parteien gegen einen Bombenanschlag, bei dem wenige Tage zuvor mehr als 80 Menschen ermordet wurden. Täter und Opfer waren Muslime, die einen sunnitischen, die anderen schiitischen Glaubens. Selvan ist das nicht neu: „Den Hartal gibt es auch in Sri Lanka, wir benutzen das selbe Wort.“
Nachdem wir den Tag umgeplant und ungewollt in Mustafas allerdings gastlichem Haus am Stadtrand verbracht haben, machen wir uns abends im Zickzack um die Straßensperren auf den Weg ins Hotel. Endlich, nach langem Flug und ersten heftigen Eindrücken, freue ich mich auf eine Möglichkeit des Rückzugs. Nach einstündiger Fahrt klingelt Mustafas Handy. Ein kurzer Wortwechsel auf Urdu, dann die Auskunft: „Wir können nicht weiter. Wieder ein Bombenanschlag, das Zentrum ist gesperrt.“ Nichts mit Hotel. Wir übernachten im HANDS-Büro, das zwei Vier-Bett-Schlafräume hat. Der erste Reisetag ist zu Ende, und wir sind schneller als uns lieb war im pakistanischen Alltagsalptraum angekommen.
Land unter
Am Morgen brechen wir nach Matiari auf, einem Distrikt des Sindh. Vor einem Jahr standen HANDS’ Rücksiedlungsprojekte dort noch ganz am Anfang. Das Land war noch immer überschwemmt, die Menschen hausten in Zelten unweit ihrer weggespülten Dörfer. Bis zum Horizont lagen die Felder brach, aus dem Wasser ragten faulige Baumwollhalme. Die Leute waren voller Misstrauen, zogen uns beiseite, klagten, dass nichts geschähe, ihnen zu helfen. Heute kommen wir in Dörfer mit neuen Häusern, werden durch kleine Schulen geführt und zum Haus der „Marvi-Worker“ gebracht, einer Frau, die im Dorf als Hebamme arbeitet und über eine Grundausstattung lebenswichtiger Medikamente verfügt. Überall empfangen uns die Bewohner, begrüßen uns die gewählten Sprecherinnen und Sprecher der örtlichen „Community Based Organisation“ (CBO), einem Genossenschaftsverein, in dem sich die engagierten Bewohnerinnen und Bewohner eines Dorfes sammeln.
Selvan freut sich, als er hört, dass alle HANDS-Projekte auf der Kooperation mit solchen CBOs beruhen: in Sri Lanka machen sie das genauso. HANDS wird heute von 3.500 CBOs und 3.500 anderen sozialen Vereinen unterstützt, die sich stets in eine Männer- und eine Frauengruppe gliedern. In ihnen finden Rück- und Neusiedler zusammen und stimmen sich untereinander ab; insgesamt organisieren sie über eine Million Freiwillige. HANDS liefert Material und Fachwissen, leitet Verhandlungen mit Behörden und moderiert die Diskussionen zum Wiederaufbau. Die CBO wird gebraucht, damit die Leute ihr Dorf schließlich selbst in Besitz nehmen können, dann, wenn HANDS nur noch besuchsweise vorbeikommt.
Ein Distrikt in Frauenhand
In allen 23 Distrikten des Sindh unterhält HANDS ein Koordinationsbüro. Matiari stellt dabei eine Ausnahme dar, weil hier alle Leitungsposten von Frauen besetzt sind, anders als in den übrigen Distrikten, deren Leitungen männlich dominiert sind. Beim Rundgang durch die Dörfer und eine große Hebammenschule hält sich Selvan stets an die selbstbewusste Chefin des Distrikts, Azra Shakeel Shah, die wir schon aus dem letzten Jahr kennen. Die Frauenmacht im HANDS-Büro beeindruckt ihn ebenso wie das offensichtlich friedliche Zusammenleben von Moslems und Hindus in einem der von HANDS betreuten Dörfer. Abends stecken beide die Köpfe zusammen und besprechen die Einzelheiten eines Austauschprogramms: von medico unterstützt, werden HANDS-Mitarbeiter nach Sri Lanka reisen, Selvans Kolleginnen nach Pakistan.
Bauernbewegung in Sanghar
Am Morgen trennen wir uns, Selvan bleibt in Matiari, wir fahren nach Sanghar. Unser Begleiter ist jetzt Nasir Mansoor vom Sindh Labour Relief Committee (SLRC), einem Zusammenschluss von Gewerkschaftern, Frauenaktivistinnen und linken Studierenden aus Karatschi. Auch sie leisteten Nothilfe und begleiten jetzt mit medico-Unterstützung den Neubau eines Dorfes. Auf Initiative des SLRC haben zehn Familien eine Kooperative gegründet, wollen ihr Land gemeinsam bebauen, das Vieh gemeinsam aufziehen. Mit der Fertigstellung der Häuser, des Gemeindezentrums und des Unterstands für das Vieh hat die Kooperative ihre erste Probe bestanden, jetzt wird es ernst: im März wird das Gras, im Mai der Reis ausgesät, bald kommen zehn Büffel. Ein Kollege des SLRC ist täglich vor Ort, andere kommen einmal pro Woche, auch zur politischen Bildung. Die Kooperative wird Teil des Hari Haqdar Tehreek sein, der Bewegung für die Rechte der Bauern. Deren Mitstreiter haben sich viel vorgenommen: Das Sindh ist in der Hand feudaler Landlords, die Bauern arbeiten auf ihrem Land, zahlen im Frondienst Kredite zurück, die sie aufnehmen mussten, um Saatgut für ihre eigene kleine oder kleinste Landwirtschaft zu kaufen. Auch die Kooperativenbauern sind verschuldet, diskutieren jetzt, ob sie die Schulden einzeln oder gemeinsam abbezahlen. „Diesen Teufelskreis müssen die Bauern auf eigene Faust unterbrechen“, sagt Nasir. „Mit der Hilfe beim Aufbau der Kooperative geben wir ihnen die Luft, die sie brauchen, um nicht mehr nur ans Überleben denken zu müssen, sondern auch an ihre Rechte.“
Eine Beerdigung in Karatschi
SLRC-Koordinator Nasir Mansoor ist zugleich Sekretär der National Trade Union Federation (NTUF). Zurück in Karatschi begleiten wir ihn nach Baldia Town, zu den Weltmarktfabriken der Metropole. Alles ist dicht von Staub überzogen, Straßen, Gebäude, Häuser, die wenigen Palmen. Hier wird die Baumwolle verarbeitet, die auf den riesigen Feldern der Landlords des Sindh wächst. Heute findet in Baldia eine ganz eigenartige Beerdigung statt. Bestattet werden 17 Leichname, deren Namen niemand kennt. Die Gräber tragen eine polizeiliche Kennziffer, sie bergen die letzten Toten des Brandes vom 11.09.2012. An diesem Tag starben über 300 Menschen, eingeschlossen hinter den vergitterten Fenstern und verriegelten Toren der Textilfabrik Ali Enterprises. Die Menschen in Karatschi nennen diesen Horrortag den „Industrial 9/11“. Seine Opfer verbrannten auf deutsche Rechnung: 90% der bei Ali Enterprises fabrizierten Textilien gingen an den westfälischen Discounter KiK. Wir erschrecken zusätzlich, als wir hören, dass die Zahl der Vermissten noch einmal höher liegt als die der nicht identifizierten Leichname. Zum Nachdenken aber bleibt keine Zeit, gleich nach der Feier drängt Nasir zum Aufbruch. Baldia ist eine unsichere Gegend, in deren Straßen Talibankommandos und Gangs aus Balutschistan um die Vorherrschaft kämpfen. „Angesichts der pakistanischen Verhältnisse“, sagt Nasir, „denken Europäer oft, dass das unmöglich so weiter gehen kann. Doch der anhaltende Zusammenbruch dieses Landes ist Teil einer in sich stabilen Ordnung, die den Landlords, der Armee, der politischen Kaste und den Auftraggebern der Weltmarktfabriken freie Hand lässt, wenn sie sich mit der Mafia und den Taliban arrangieren. Das alles kann sehr lange dauern“.
Thomas Seibert
Projektstichwort
Nach Abschluss der ersten beiden Programme realisiert HANDS jetzt die Projekte des dritten Rücksiedlungsprogramms. Das SLRC unterstützt die Bauernbewegung des Hari Haqdar Tehreek. Die NTUF begleitet den Prozess gegen die Besitzer der Todesfabrik Ali Enterprises und die Verhandlungen mit KiK um die Höhe der Entschädigung. Die Forschungs-NGO PILER dokumentiert das Schicksal der Flutopfer, das Versagen des Staates und die Forderungen der Überlebenden. Stichwort: Pakistan.