Syrische Flüchtlinge

Leben im Nirgendwo

31.10.2013   Lesezeit: 4 min

Provisorische Notunterkünfte, Kälte, Krankheiten und Gewalt. Die syrischen Flüchtlinge im Libanon brauchen unsere Solidarität. Interview mit Wilhelm Hensen, Nothilfe-Koordinator von medico international zur Lage der syrischen Flüchtlinge im Libanon.

Wilhelm Hensen, Nothilfe-Koordinator bei medico international ist gerade aus dem Libanon zurückgekehrt. Er berichtet von größtenteils dramatischen Umständen, unter denen die Flüchtlinge dort leben. Zudem ist zu befürchten, dass der Konflikt langsam auf die Region übergreift. Bereits jetzt kommt es immer wieder zu Bombardierungen und bewaffneten Auseinandersetzungen.

Wie ist die Situation derzeit im Libanon?

Mittlerweile leben im Libanon 800.000 offiziell registrierte Flüchtlinge aus Syrien – in einem Land mit 4,2 Millionen Einwohnern! Man muss davon ausgehen, dass es tatsächlich mehr als eine Million sind. Die libanesische Regierung duldet zwar die Flüchtlinge, aber verweigert die Errichtung von offiziellen Zeltstädten oder Unterkünften mit entsprechender sanitärer Versorgung. Das heißt, die meisten der syrischen Familien, die aus dem Land geflohen sind, sind zwar als Flüchtlinge registriert, aber sie müssen selber zusehen, wo und wie sie unterkommen. Das kann zum Beispiel in Gastfamilien sein, aber viele mieten auch Wohnungen oder Zimmer an. Aufgrund der enormen Zahl an Flüchtlingen ist es mittlerweile so, dass die Menschen in ihrer Not alles an Behausungen anmieten, in denen es sich irgendwie wohnen lässt, also zum Beispiel auch Rohbauten oder Garagen. Dafür wird dann oft noch eine sehr hohe Miete verlangt, weil die Mietpreise stark gestiegen sind.

Wie leben die Flüchtlinge in der Bekaa-Ebene, wo medico-Projektpartner Amel Association International Hilfe leistet?

In der Bekaa Ebene ist es so, dass die Flüchtlinge wirklich in improvisierten Behausungen leben. Sie bauen sich Zelte aus herumliegendem Holz aus Werbeplanen zusammen. Das sind wirklich kaum mehr als notdürftig zusammenschusterte Behausungen ohne Boden, auf der nackten Erde errichtet. Ich bin in diesem Jahr dreimal dort gewesen und man sieht, dass es dort immer mehr solcher Behausungen gibt und diese provisorischen Zeltstädte immer weiter wachsen. Viele Flüchtlinge werden nun schon den dritten Winter dort verbringen. Und die Winter sind dort sehr kalt. Sie leben buchstäblich im Nirgendwo – ohne wirklichen Schutz, ohne ausreichende Wasserversorgung, ohne Sanitäreinrichtungen, ohne Perspektive.

Wie hilft der Projektpartner?

Die Amel Association International ist eine große libanesische Nichtregierungsorganisation, die sehr gut im Gesundheitsbereich vernetzt ist. Amel hat seit jeher Kliniken in der Bekaa-Ebene. Nun bieten sie dort syrischen Flüchtlingen eine kostenlose medizinische Behandlung an. Vor der Krise in Syrien hatte Amel in den Kliniken 50 bis 100 Patienten im Monat. Mittlerweile haben wir Kliniken, da müssen über 1.000 Patienten im Monat medizinisch versorgt werden. Viele der syrischen Flüchtlinge besitzen zwar finanzielle Mittel, aber die geben sie aus, um Mieten zu bezahlen, Lebensmittel zu kaufen oder für Strom und Trinkwasser. Für sie geht es schlicht darum, erst einmal das Überleben zu sichern, Gesundheit muss da zwangsläufig hinten anstehen. Es ist daher wichtig den Flüchtlingen kostenlose medizinische Behandlung anzubieten, zumal ein Großteil von ihnen Frauen und Kinder sind. Für Kinder unter fünf Jahren, für Babys und für schwangere Frauen ist es sehr, sehr wichtig, eine Gesundheitsversorgung zu garantieren.

Welche gesundheitlichen Probleme treten besonders häufig auf?

Das ist einfach zu erklären: Alle Krankheiten, die mit den prekären Lebensbedingungen, vor allem mit den mangelhaften hygienischen Verhältnissen zusammenhängen. Momentan gibt es viele Hauterkrankungen und Durchfallerkrankungen, aber auch Läuse, Krätze und Augeninfektionen. Hinzukommen Flüchtlinge mit chronischen Erkrankungen, und jetzt durch die kühleren Temperaturen immer mehr Patienten mit Erkältungskrankheiten und Atemwegserkrankungen. Und es steht zu befürchten, dass ihre Zahl im Laufe des Winters weiter steigen wird.

Neben einer Ausweitung der Hilfe – was ist wichtig?

Wir müssen anerkennen, dass die Flüchtlinge in naher Zukunft nicht nach Syrien zurückkehren können. Dem Umstand müssen die internationale Politik und die Hilfsmaßnahmen Rechnung tragen. Am wenigstens hilfreich ist eine Symbolpolitik. Wenn Deutschland 5000 Flüchtlinge aufnimmt, ist das ein Tropfen auf den heißen Stein.

Es ist gut, dass die Beseitigung der syrischen Chemiewaffen zu funktionieren scheint. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, vor welcher unerträglichen humanitären Katastrophe wir stehen. Die Flüchtlinge im Libanon, Jordanien und Ägypten sind eine Sache. Dramatischer noch ist das Leben der Menschen in Syrien selbst. Der politische Druck auf eine Lösung des Konflikts darf nicht nachlassen und es muss mit allen verwickelten ausländischen Akteuren gesprochen werden, um das Drama zu beenden.

medico international unterstützt aus Spenden und mit Mitteln des Auswärtigen Amtes die Versorgung der Flüchtlinge im Libanon. Unsere Partner der libanesischen Hilfsorganisation AMEL leisten medizinische Nothilfe für syrische Flüchtlinge in der nördlichen Bekaa-Ebene. Im Ein-el-Hilweh-Camp ermöglicht medico außerdem der Nashet Association die Betreuung und Versorgung palästinensischer Flüchtlinge aus Syrien. Unsere Partner bieten damit auch eine säkulare Alternative zur starken Präsenz islamischer Hilfswerke.

In Syrien selbst fördert medico verschiedene sozialmedizinische und Bildungs- Projekte.


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