Libanon/Südafrika: Tagebuch der Erinnerung

21.06.2007   Lesezeit: 8 min

"Glaub nicht alles, was du siehst. Die Wahrheit ist viel tiefer vergraben." sagte Bradly zu mir, während wir vom Flughafen nach Kapstadt fuhren. Seine Worte sollten zum Motto meines Aufenthalts in Südafrika werden.

"Das erste, was du dir anschauen musst, ist das District Six Museum," lautete eine verständnisvolle Empfehlung von Lucille, der Managerin meiner Pension, die sich im Laufe der Zeit zu meiner spirituellen Beraterin entwickelte. Auf dem Weg zum Museum kam ich am eigentlichen "District Six" vorbei: Eine sechzig Hektar große, leere Fläche in der Nähe des Hafens, an dem einst 60.000 Menschen wohnten, die ihn Knaladorp, Ort des Teilens, nannten.

Die unbehauste Fläche des "District Six" erinnerte mich an den "South Africa Forest" im heutigen Israel, der sich an der Straße vom Tiberias-See nach Nazareth befindet. In dem Kiefernwald dankt eine Tafel Südafrika "für seine Unterstützung des Staates Israel". Schaut man genauer hin, erblickt man zwischen den Bäumen einige verstreute Backsteine. Das ist alles, was von dem arabischen Dorf Lubieh übrig geblieben ist. Das Dorf wurde 1948 zerstört und seine Bevölkerung ethnisch gesäubert – das Schicksal von rund 471 palästinensischen Gemeinden. Die Palästinenser bezeichnen diese verhängnisvolle Tragödie als "Nakba", als "Katastrophe", die die Mehrheit der Palästinenser zwang, ihre Heimat zu verlassen.

Das District Six Museum ist der Dreh- und Angelpunkt für einen bis heute andauernden Kampf um Rückkehr und Entschädigung einer Gemeinde, die auch deshalb gewaltsam vertrieben wurde, weil sie in ihrer ethnischen, kulturellen und religiösen Mischung das Apartheid-System von Grund auf in Frage stellte. Afrikanische "Schwarze" waren die ersten, die 1901 vertrieben wurden und die gemischte Community von befreiten Sklaven, Händlern, Handwerkern, Künstlern, Musikern, Arbeitern und Einwanderern wurde schrittweise zum Wegziehen gezwungen, nachdem District Six 1966 zu einem "weißen Gebiet" erklärt wurde. Im Jahr 1981 waren rund 66.000 Menschen gewaltsam vertrieben und ihre Community mit Bulldozern dem Erdboden gleich gemacht worden.

Der Kampf von District Six symbolisiert die Bewegung für Rückkehr und Entschädigung von allen unter der Apartheid vertriebenen Communities in Südafrika. Hier eine kleine Chronologie dieses Kampfes: 1979 wurde Friends of District Six (Freunde von Distrikt Six) gegründet. 1987 wurde das Hands Off District Six Committee (Hände Weg vom Distrikt Sechs Komitee) aufgebaut. 1991 wurde der Group Areas Act aufgehoben. 1994 wurde das District Six Museum eröffnet. 1995 wurde die Landtitel-Kommission ins Leben gerufen. 1996 fand der Landtitel-Prozess im Museum statt und der District Six Beneficiary Trust (District Six Treuhandgesellschaft) wurde ins Leben gerufen. Im Jahr 2000 fand eine Rückkehr-Zeremonie statt. Und der District Six Beneficiary Trust (die District Six Treuhandgesellschaft) wurde damit beauftragt, das Land zu sanieren. Rund 20.000 Menschen sollten in circa 4.000 Einheiten (40 Hektar) untergebracht werden. Im Jahr 2004 kehrten die ersten zwei Antragsteller zurück in den District Six und erhielten Schlüssel für ihre neuen Häuser

Der erste Besuch im District Six Museum

Noor war die erste Person, die ich bei diesem ersten Besuch des Museums kennenlernte. Er ist einer der Gründer des Museums. Er arbeitet dort als Bildungsbeauftragter und betreibt den Museumsshop. Kurz nachdem ich an diesem Morgen ankam, führte er eine Gruppe durchs Museum. Er fing damit an, dass er ihnen auf der großen Landkarte zeigte, wo sein Haus gestanden hatte. Er erzählte von seiner Familie, deren Fotos ausgestellt sind. Später wies er auf aus Hunderten von Metern bestehenden Stoffballen. Darauf sind die Namen, Adressen und andere Informationen der ehemaligen Bewohner und ihrer Nachkommen verzeichnet. Die ersten Namen waren mit Filzstift eingetragen worden, spätere wurden liebevoll von ehemaligen Bewohnern eingestickt. Das nächste Museumsobjekt, das uns Noor zeigte, war die Multimedia Installation "Streets". Sie feiert die kulturelle Vielfalt von District Six. Seine ehemaligen Bewohner aktualisieren die Installation kontinuierlich mit Eintragungen und Gegenständen. Es gibt Geräusche und Sehenswürdigkeiten des Gebiets begleitet von Aufnahmen, auf denen Bewohner Zeugnis ablegen. Besonders bewegte mich die Geschichte einer Musikband, die auseinander brach, weil ihre Mitglieder gezwungen wurden District Six zu verlassen und in weit auseinander liegenden Communities zu leben.

Der Menschenrechtstag im District Six Museum

Mein zweiter Besuch im Museum erfolgte genau zum 35. Jahrestag des Sharpeville-Massakers. Am 21. März 1960 hatte die Polizei eine Demonstration gegen die Pass-Gesetze des Apartheid-Regimes in Sharpville niedergeschossen. Im Museum gab es ein besonderes Programm. Kinder verwandelten die ehemalige Kirche, die nun als Museum dient, in einen Konzert- und Tanzraum. Sie machten Musik und tanzten an der Seite von Kap-Musikern, mit denen sie in Workshops zusammengetroffen waren. Das alles spielte sich im ehemaligen Altarraum ab, von dessen Decke bestickte und gewebte Fahnen unterschiedlicher religiöser Gruppen der alten Community hängen (von Moslems, die die Mehrheit waren, Christen und Juden).

Ein weiteres Museum, ein anderer Anlass

Ich besuchte auch das Sklaverei-Museum in Kapstadt. Als ich dort eintraf, spielte ebenfalls eine Kindergruppe. Sie trugen T-Shirts, auf denen stand: "Vergewaltigung: eine Verantwortung der Community". Im Inneren des Museums wird die Geschichte der Sklaverei weltweit dokumentiert. Ich war dort, anlässlich des Internationalen Tags der Poesie. Es gab eine Vielzahl von Aktivitäten – darunter Musik, Poesie und Filme. Ich setzte mich hin, um einen Film namens "Brown Sugar – Brauner Zucker" zu sehen. In dem Film bringt die Regisseurin ihren Großvater und ihre Familie für einen Besuch nach Constantia bei Kapstadt zurück, dorthin wo einmal ihr Zuhause und ihr Land waren. Von hier waren sie vertrieben worden. Ihr Besitz wurde enteignet. Im Film erinnert sich der Großvater an das schnelle Sterben mancher älterer Bewohner, nachdem sie von der Umsiedlung erfahren hatten. Sie waren dem Schicksal der Vertreibung durch ihren Tod zuvor gekommen.

Dieser Film über Wiederbegegnung mit der Vergangenheit erinnerte mich an den Film meines Freundes Mahmoud Issa. Er dokumentierte 1994 die Wiederbegegnung seiner Familie und anderer Bewohner mit den Überresten ihres Dorfes Lubieh, aus dem sie 1948 vertrieben wurden. Sein Vater sucht in dem Film nach seinen alten Bäumen, die er gepflanzt hatte, mitten unter den neuen Bäumen des "südafrikanischen Waldes". Als er seine drei Bäume wieder findet, isst er ihre Blätter und ritzt seinen Namen und den des Enkels, der ihn begleitet hat, in die Baumstämme. Heute sind die Dorfbewohner von Lubieh in über 26 Länder verstreut. Mahmoud Issa z.B. lebt in Dänemark. Dort widmet das Dänische Nationalmuseum eine Abteilung der Geschichte von Lubieh. Jedes Jahr reisen junge Menschen, die aus Lubieher Familien kommen, nach Israel, um die Überreste des Dorfes zu besuchen. Aber sie kommen mit fremden Pässen.

Das Zusammentreffen mit Menisa

Bei meinem letzten Besuch im District Six Museum traf ich Menisa, eine würdevolle Frau mit Krücken. Sie bestickte ein langes Stück Leinwand, auf dem die Museumsbesucher mit Filzstiften ihre Botschaften geschrieben hatten. Sie sprach mit mir über ihre Erinnerung an Kanaladorp und zeigte mir ihr Fotoalbum und ein Foto von ihr als ein wunderschönes, glückliches junges Mädchen in einem weißen Kleid, das in einer Lokalzeitung erschienen war. Sie sagte mir, dass sie meine Botschaft einsticken würde, wenn ich sie auf die Besucherleinwand schreiben würde. An diesem Tag schrieb ich auf dem Weg zum Ausgang des Museums: "Als ein Palästinenser, der in einem langjährigen Exil lebt, gibt mir dieses Museum Hoffnung und Inspiration."

Erinnerung als Existenzbeweis. Das bewegt nicht nur die Südafrikaner. Überall in Kapstadt fühlte ich mich in die eigene Erfahrung zurückversetzt. So hatte ich über vier Jahre hinweg mit 30 Kindern im Alter zwischen 10 und 12 Jahren, die aus zwei palästinensischen Flüchtlingslagern in Beirut kamen, ebenfalls daran gearbeitet, Ausdrucksformen für Erinnerung und ihre Beziehung zu unserem gegenwärtigen Leben zu finden. In diesem interdisziplinären Projekt beschäftigten sich die Flüchtlingskinder der vierten Generation mit ihren Themen, ihrem Leben und ihren Wünschen. Sie verwandten unterschiedliche Medien: Fotojournalismus, Kreatives Schreiben, Kunst und Filme, um ihre Erfahrungen und ihre Ausdrucksformen einzufangen, in der naturgemäß die überlieferte Erfahrung der Vertreibung eine große Rolle spielte. Wir dokumentierten viele Werke in einem Buch, in dessen Vorwort die Kinder schrieben: "Wir machen dieses Buch, um unsere Existenz auf dieser Erde zu beweisen."

Projektstichwort

Moa'taz Dajani ist der Gründer des Arab Resource Centers For Popular Art in Beirut. medico unterstützt ARCPA seit 11 Jahren. In Kapstadt hielt er sich auf, um einen gemeinsamen Workshop mit dem medico-Projektpartner CRC (Children Resource Center) durchzuführen. Unser Stichwort lautet: Libanon.

 


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