Mein Pakt mit der Ewigkeit

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II über mexikanische Widersprüche und linke Sturheit

02.12.2009   Lesezeit: 7 min

Paco Ignacio Taibo II gehört zu den bekanntesten mexikanischen Schriftstellern. In Deutschland wurde eine Vielzahl seiner Kriminalromane übersetzt, aber auch seine Biographie von Che Guevara. Er ist bekennender Linker. Seit vielen Jahren schreibt er Bücher über mexikanische Revolutionäre und hat sich so historische Kenntnisse angeeignet, die ihn im nächsten Jahr, wenn der 100. Jahrestag der mexikanischen Revolution gefeiert wird, zu einem der wichtigsten Gegenspieler der Regierung machen wird. Sie hat sich nämlich schon vorgenommen, die mexikanische Revolutionsgeschichte ihrem Diskurs einzuverleiben.

medico: Deutsche Medien beschreiben Mexiko fast schon als einen gescheiterten Staat. Ist das so?

Paco Ignacio Taibo II: Die Sache ist wesentlich schwieriger. Es gibt eine Gleichzeitigkeit von erster und dritter Welt in Mexiko. In der Hauptstadt haben wir mehr Kabelfernsehstationen als in Frankreich, mehr Schwangerschaftsabbrüche als in London, mehr Kinos als in Paris und mehr Universitäten als in New York. Man kann Mexiko sehr leicht nur von einer Seite betrachten. Wenn du dich in einem Armenviertel befindest, dann bewegt sich das Land auf einen Slum von Bombay zu.

Wenn man die Tageszeitungen liest, kann man aber schon den Eindruck bekommen, dass wenig verlässliche öffentliche Strukturen vorhanden sind.

Die viel beschworene politische Transformation hat nicht stattgefunden. Das Führungspersonal wurde zwar ausgetauscht, dennoch gibt es eine seltsame Kontinuität. Die gegenwärtige Regierung unter Calderón (Machtantritt im November 2006, d. Red.) kam durch Wahlbetrug an die Macht, und um sich wenigstens ansatzweise zu legitimieren, hat sie eine Reihe obskurer Stillhalteabkommen geschlossen: mit gelben Gewerkschaften, mit den korruptesten Gouverneuren der PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution, jahrzehntelang Regierungspartei in Mexiko, d. Red.), mit den reaktionärsten Kreisen der katholischen Kirche. Nach dem Motto: Du verfolgst mich nicht und ich legitimiere dich. Als Weihnachtsgeschenk an die USA gab es obendrein noch den Drogenkrieg. Er hat sich selbst zum Delirium entwickelt und bereits 13.000 Tote gekostet. Substantielle Erfolge kann die Regierung dabei nicht vorweisen. Dieser Krieg wurde begonnen, ohne dass vorher handfeste Ermittlungen durchgeführt worden wären. Zudem wird diese schlecht vorbereitete Operation von einem von Korruption durchdrungenen Militär- und Polizeiapparat geführt. Dazu kommt eine profunde Krise des Justizsystems. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein durchschnittlicher Mexikaner im Konfliktfall Recht erhält, ist sehr gering. Zu guter Letzt befindet sich auch die traditionelle Linke in einer Krise und schafft kein geeintes Transformationsbündnis. Es herrscht eine unglaubliche Trägheit, in der nur ein Wunder oder Zufall etwas verändern kann.

Das hört sich aber alles nach einem im Scheitern begriffenen Staat an?

Wäre ich ein Anarchist, würde ich sagen, der Staat ist so, wie er ist. Aus der Sicht der mexikanischen Oberschicht hat dieser in vielfacher Hinsicht gescheiterte Staat genau auf diese Weise ihr Projekt abgesichert. Für sie ist es ein erfolgreicher Staat.

**Der gescheiterte Präsidentschaftskandidat López Obrador reist durch die Provinzen und versucht, eine neue Bewegung aufzubauen. Hat das irgendeine Chance im mexikanischen System? **

Vor den nächsten Wahlen wird das Land aufwachen. Weil wir hier vor der Frage stehen: entweder die gegenwärtige Regierungspartei PAN (Partei der nationalen Aktion) wiederzuwählen oder eine neu ausstaffierte PRI, die sich eine rote Feder aufsetzt. Letzteres ist die Rückkehr des Schlimmsten, was die PRI zu bieten hat. Es wird gar nichts anderes übrig bleiben, als dagegen eine neue Front aufzubauen. Irgendwer hat behauptet, dass die Mexikaner ein Spiel fünf Mal spielen müssen, um es zu gewinnen. Während in den anderen lateinamerikanischen Ländern progressive, linksliberale, mehr oder weniger demokratische Regierungen an der Macht sind, scheinen Mexiko und Kolumbien der Schwanz dieses lateinamerikanischen Projektes zu sein. In Kolumbien kann ich das nachvollziehen, denn der bewaffnete Kampf hat die Politik extrem polarisiert, aber hier in Mexiko? Das erklärt sich nur aus der Trägheit und dem brutalen Beharrungsvermögen des mexikanischen Staates, der noch alle Schiffbrüche überlebt hat.

Was könnte eine linksliberale Regierung verändern?

In Mexiko-Stadt haben wir seit vielen Jahren eine PRD-Regierung (Partei der Demokratischen Revolution, 1989 gegründete Abspaltung der PRI, d. Red.). Es ist wahrlich keine linksradikale Regierung. Aber wenn du in Guadalajara lebst, weinst du nachts, weil du nicht in der Hauptstadt wohnst. Wenn du aus Oaxaca kommst, muss dir die PRD-Regierung in Zacateca wunderbar erscheinen, weil sie nachts nicht auf dich schießen oder dein Haus stürmen. Die Sozialprogramme in der mexikanischen Hauptstadt sind klientelistisch. Aber Tatsache ist, dass mehrere Millionen Menschen davon profitieren und eine weitere Verelendung in der Stadt verhindert wurde. Drei PRD-Bürgermeister in Folge haben diese Programme aufgelegt. Wir leben in einer Stadt, in der wir ohne Angst Polizisten ansprechen können, zumindest die in den blauen Uniformen. Mit allen anderen vermeidet man besser den Kontakt. Aber ansprechbare Polizisten sind ein neues Phänomen in Mexiko. Jetzt hat man mich sogar für einen Vortrag in die Polizeiakademie eingeladen. Das wäre früher unvorstellbar gewesen. Man hätte mich vielleicht rein gelassen, aber nicht mehr raus. Wäre Obrador Präsident geworden, hätte er vielleicht sein Wahlprogramm nicht durchführen können. Aber auf jeden Fall wäre seine Regierung gütiger mit den Mexikanern umgegangen, als es derzeit der Fall ist. Wenn man mit dem absoluten Bösen leben muss, erscheint jede Version einer "Sozialdemokratie light" wunderbar.

Hätte ein sozialdemokratischer Präsident unter den globalen Bedingungen, die Politik auf Service für die Wirtschaft reduzieren, überhaupt Handlungsspielraum?

Oh ja, Mexiko gleicht einer Pyramide. Es ist überaus zentralistisch von oben nach unten organisiert. Aber es stellt sich eine ganz andere Frage: Wird man einen solchen Präsidenten zulassen? Wir haben zwei massive Wahlfälschungen hinter uns, 1988 gegen Cuauhtémoc Cárdenas und 2006 gegen Obrador.

Ohne dass es internationale Proteste gegeben hätte…

Vergiss es, das ist unwichtig. Ohne dass die Mexikaner in der Lage gewesen wären, die Wahlfälscher zu stürzen! Das ist der Skandal. 52 Tage lang haben wir auf dem Zócalo eine wunderbare, fortlaufende Protestveranstaltung gegen die Wahlfälschung organisiert. Selten habe ich eine solche Wiederbelebung von sozialer Bewegung erlebt. Es gab wunderbare Momente. Aber mir wurde dabei auch klar, dass wir eine Minderheit sind. Ich zweifle nicht an der Wahlfälschung, sonst hätte man einer neuen Auszählung zugestimmt. Aber selbst dann hatte Obrador nur 25 Prozent der Wahlberechtigten auf seiner Seite. Wir waren eine Minderheit. Dieses Land wird dominiert von einer konservativen Mittelschicht, die nur ein Vorbild hat – die USA. Es ist uns auch in diesem Wahlkampf nicht gelungen, diese Wählerschaft in ihrem Weltbild zu erschüttern.

Was wären andere Optionen der Veränderung? Auch die zapatistische Bewegung erscheint wie blockiert.

Das bereitet mir keine Sorgen. Die Zapatisten haben immer wieder Perioden des Lichts und des Schattens erlebt. Jetzt ist eben eine Zeit des Schattens. Ich vermute, dass es eine interessante Periode ist, denn sie arbeiten in ihrer Region an alternativen Strukturen im Bereich von Gesundheit, Bildung und Ökonomie.

Die Zapatisten stehen nicht vor ihrem Ende?

Auf gar keinen Fall. Hier in diesem Land geht nichts zu Ende. In der mexikanischen Tradition gibt es nur eine Konstante – die Ewigkeit. Ich bin seit 1966 ein politischer Aktivist. Manchmal sagen mir Leute, ob es nicht an der Zeit für mich ist, mit dem Kämpfen aufzuhören. Aber ich habe einen Pakt mit der Ewigkeit geschlossen ebenso wie viele weitere tausend Aktivisten. Auch wenn wir Zeiten der Traurigkeit, der Langeweile und der Erschöpfung erleben – der Kampf ist für immer. Wenn ich nach Europa komme, überrascht mich immer wieder, wie schnell Menschen ihr politisches Engagement aufgeben. Habt ihr nur einen Pakt für fünf Jahre abgeschlossen? Und wenn sich dann nichts geändert hat, gebt ihr euer Mitgliedshemd ab und verlangt das Geld zurück, das euch diese Aktivitäten gekostet haben? Messt ihr euren politischen Einsatz nach neoliberalen Erfolgskriterien? Vielleicht ist bei uns in Mexiko aber auch nur das Böse so mächtig, dass es dich in deinem Widerstand am Leben erhält. Wenn du hier morgens aufwachst und als Erstes die neusten Schreckensbotschaften deiner Regierung hörst, bleibt dir nichts übrig als weiterzumachen. Ich habe ein schönes Hemd, auf dem steht: Geboren, um zu verlieren. Und auf der anderen Seite: Aber nicht, um zu verhandeln.

Das Interview führten Katja Maurer und Dieter Müller.

Projektstichwort

Mexiko ist in seiner Größe und Widersprüchlichkeit fast schon ein eigener Kontinent. Medico blickt hier auf eine lange Projektarbeit – wenn auch mit Unterbrechungen – zurück. In den letzten Monaten hat sich die Kooperation mit Partnern im Süden des Landes verstärkt. Wir unterstützen die Gesundheitsorganisation SADEC, die in den zapatistischen Gemeinden in Chiapas eine beachtliche Arbeit mit Gesundheitspromotoren leistet. An einer großangelegten Befragung zu Auswirkungen der Krise auf die Gesundheit beteiligen sich alte mexikanische Kollegen ebenso wie Partner aus anderen mittelamerikanischen Ländern. Ein mittelamerikanisches Netz zur Reaktivierung der Gesundheitsbewegung könnte dabei entstehen. Das Stichwort lautet: Mexiko.

 


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