Innovative Ansätze in der psychosozialen Arbeit kamen während der sandinistischen Regierungszeit von dem »Equipo Internacionalista Marie Langer«. medico unterstützte den Einsatz der Psychoanalytikerin Marie Langer und ihrer Mitarbeiter über viele Jahre. Zur Gruppe, von der Impulse für Theorie und Praxis von »salud mental« in ganz Lateinamerika ausgingen, gehörte auch Leticia Cufré. Mit ihr verbindet medico bis heute ein gemeinsamer Arbeitszusammenhang. Wie sie Nicaragua in diesem Jahr wiedererlebte, schildert sie in nachfolgendem Brief.
Liebe Freundinnen und Freunde,
In diesem Jahr fuhr ich das erste Mal nach zehn Jahren wieder nach Managua um Urlaub zu machen. Doch als ich ankam, traf mich der Schlag. Die ersten Tage waren furchtbar – der Ort, an den ich nun nach all den Jahren zurückkehrte, war mir gleichzeitig fremd und vertraut. Das Dazwischen von déja vu und jamais vu machte meine Füße schwer. Erst dachte ich, alles sei neu: neue Straßen, neue Geschäfte – einige davon unverschämt teuer, viel teurer als im mexikanischen Südosten, wo ich inzwischen wohne. Früher haben Kühe in den Straßen gegrast, heute sind sie verschwunden. Eigentlich ist die Infrastruktur nicht besonders prunkvoll, trotzdem beeindruckt sie und vertuscht das Elend. Nur die Kinder sind noch da. Die Kinder, die die Autoscheiben putzen, statt in die Schule zu gehen. Über die Jahre ist das Elend höflich geworden, nicht aber weniger brutal – die meisten Menschen überleben in dieser Stadt mit einem Dollar am Tag.
Seltsamerweise war es die Begegnung mit einem Polizisten, die mich an das alte Managua erinnerte: Ohne es zu merken, fuhr ich mit dem Auto in die falsche Richtung einer Einbahnstrasse. Ein Polizist hielt mich an und verlangte ein Bußgeld. Auf meinen Einwand hin, es sei kein entsprechendes Hinweisschild zu sehen gewesen, setzte er sich zu mir ins Auto und wir fuhren zum Straßenanfang. Wir fanden ein kleines Schild, kaum sichtbar. Daraufhin meinte er, es handele sich zwar offenkundig nicht um ein Problem der Beschilderung, wohl aber um eines der Sichtbarkeit. In Zukunft solle ich mich doch bemühen, besser hinzusehen. Diese Art der Konfliktlösung war mir vertraut. Später erfuhr ich, dass viele partizipative Elemente der sandinistischen Polizeiausbildung auch heute noch gelehrt werden. Das Erlebnis war ein Sprung in die Vergangenheit. Ich war zwar im Urlaub, dennoch begleiteten mich viele Fragen und auch Furcht. Ohne es mir vorzunehmen, suchte ich nach den Spuren des Sandinismus und der Arbeit unseres alten Teams. Wie Ihr wisst, war Nicaragua 1979 kein Land sondern eine Hacienda, die der Familie Somoza und ihren Komplizen gehörte. Die Komplizen sind noch immer da – entweder haben sie sich während der sandinistischen Jahre durchgeschlagen oder sie sind aus Miami mit ihren großen Autos zurückgekommen. Heute folgt das Land, den Normen der Weltbank und des IWF und viele blicken hoffnungsvoll auf NAFTA (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) – trotz der schlechten Erfahrungen in anderen Ländern. Nicaragua ist gespalten durch soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten. Korruption, Unterentwicklung und Neoliberalismus führen zu tiefen Verwerfungen – wie in jedem Land der Dritten Welt. Dennoch leben die Menschen hier im Vergleich zu anderen Ländern Mittelamerikas sehr viel bewusster. Sie wollen zwar nichts von Revolution oder politischen Parteien hören; dennoch ist es sehr beeindruckend zu sehen, wie schnell und gut sie sich organisieren und für ihre Rechte eintreten.
Ich traf mich mit alten Kolleginnen und Kollegen aus dem Zentrum für psychische Gesundheit in Managua. Von ihnen wollte ich wissen, was von unserer Arbeit geblieben ist und worin wir uns aus heutiger Sicht geirrt haben. Ihrer Meinung nach ist vieles erhalten geblieben. Sie erzählten mir, dass die Mediziner und Pädagogen, die wir im Bereich psychosozialer Gesundheit ausbildeten, nach wie vor unterrichten. Die von uns damals vermittelten Inhalte beeinflussen ihre Arbeit bis heute. Dazu gehört auch, dass sie neben ihrer professionellen Tätigkeit in Armenvierteln ehrenamtlich psychosoziale Dienste anbieten. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern existieren in Nicaragua trotz aller sozialer Rückschritte nach wie vor öffentliche psychosoziale Gesundheitsdienste. Hier hat der Umdenkungsprozess, den wir auch mit unserer Arbeit in die Wege leiten wollten, offenbar Früchte getragen.
Nach meiner Reise ging es mir besser, meine Unrast war ein wenig beruhigt. Während ich auf der Suche nach meinen alten Utopien war, fühlte ich mich weniger einsam. Vielleicht wollte ich Euch deswegen von meiner Reise erzählen. Ich wünsche Euch eine gute Handvoll Hoffnung und eine Prise Leidenschaft. Hoffentlich reicht es aus, den täglichen Schrecken im Fernsehen abzumildern und sich aus der Langeweile der Normierung herauszuretten. Ich glaube, wir alle verdienen es.
In Zuneigung und Liebe
Leticia
Tu etwas! Lass uns nach Nicaragua gehen!
Die Psychoanalytikerin Marie Langer
Marie Langer, Kommunistin, Psychoanalytikerin und Feministin gründete Anfang der 80er das »Equipo Internacionalista de Salud Mental«. Die Gruppe lateinamerikanischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten reiste 10 Jahre lang regelmäßig für die Ausbildung von GesundheitsarbeiterInnen ins sandinistische Nicaragua. Ihrem Ansatz der »Salud Mental Colectiva« folgend, engagierten sie sich für eine gemeindeorientierte Form der psychischen Versorgung.
Marie Langer, Mitte der 80er Jahre: »Es ist wichtig für die Leute, zu erkennen, dass die anhaltende Kriegssituation ihnen psychische Konflikte bringt, dass sie Angst und andere Gefühle verdrängen. Die Therapie in der Gruppe hilft, die Solidarität zu verstärken und Wut und Schmerz sozialisieren zu können.« Beeinflusst von Ideen der italienischen Anti-Psychiatrie entwickelte ihr Team u.a. neue diagnostische Begriffe. Bekannt wurde z.B. jener der 'eingefrorenen Trauer'.
»Unter 'eingefrorener Trauer' leiden viele Menschen, die schon während des Befreiungskrieges keine Zeit hatten, ihre Toten zu beweinen. Das wird dann manchmal abgekapselt, beiseitegeschoben und vergiftet langsam die Person und die Familie.«
Marie Langer wurde 1910 in Wien geboren, beteiligte sich am Spanischen Bürgerkrieg, floh als Jüdin vor den Nazis nach Argentinien und von dort vor der Diktatur nach Mexiko. Sie starb 1987 in Argentinien.
Aus der langjährigen Zusammenarbeit mit der Gruppe um Marie Langer in Nicaragua entwickelte sich der medico-Arbeitsschwerpunkt »psychosoziale Gesundheit«, der heute Projekte mit Partnern in Nicaragua, Guatemala, Chile, Südafrika, Palästina, Sierra Leone und Angola umfasst.