Seit 70 Jahren leben Hunderttausende palästinensische Geflüchtete im Libanon entrechtet in Lagern und abgezirkelten Stadtteilen, ausgegrenzt von der libanesischen Mehrheitsgesellschaft. Ihre Lage ist der beredte Ausdruck eines ungelösten israelisch-palästinensischen Konflikts, in dem ihre Situation gar nicht berücksichtigt wird wie im Oslo-Abkommen, oder lediglich Spielball in vermeintlich übergeordneten Interessenspolitiken ist. Die Verzweiflung äußerte sich durch Jugendgangs, die die Lager terrorisierten. Nun aber gibt es einen Aufstand der Zivilgesellschaft. Das Recht auf Rückkehr spielt dabei nach wie vor eine Rolle. Denn die Nakba, also die Vertreibung der Palästinenser*innen aus Israel, ist Ursache ihres Flüchtlingsdaseins und damit auch Bestandteil ihrer kulturellen Identität. In dem Maße, wie sie jetzt auf ihre Bürger*innenrechte pochen, wird die Forderung nach Rückkehr vor allen Dingen eine nach der Anerkennung ihrer leidvollen Geschichte.
Von Zafer Al Khateb
Seit 70 Jahren leben Hunderttausende palästinensische Geflüchtete im Libanon entrechtet in Lagern und abgezirkelten Stadtteilen, ausgegrenzt von der libanesischen Mehrheitsgesellschaft. Ihre Lage ist der beredte Ausdruck eines ungelösten israelisch-palästinensischen Konflikts, in dem ihre Situation gar nicht berücksichtigt wird wie im Oslo-Abkommen, oder lediglich Spielball in vermeintlich übergeordneten Interessenspolitiken ist. Die Verzweiflung äußerte sich durch Jugendgangs, die die Lager terrorisierten. Nun aber gibt es einen Aufstand der Zivilgesellschaft. Das Recht auf Rückkehr spielt dabei nach wie vor eine Rolle. Denn die Nakba, also die Vertreibung der Palästinenser*innen aus Israel, ist Ursache ihres Flüchtlingsdaseins und damit auch Bestandteil ihrer kulturellen Identität. In dem Maße, wie sie jetzt auf ihre Bürger*innenrechte pochen, wird die Forderung nach Rückkehr vor allen Dingen eine nach der Anerkennung ihrer leidvollen Geschichte.
Plötzlich und ohne Vorwarnung sind die Palästinenserinnen und Palästinenser im Libanon aus ihrer anhaltenden Stummheit erwacht und sind politisch aktiv geworden. Und das just in einem Moment, in dem viele Menschen im Libanon eher dazu neigen, sich aus öffentlichen Angelegenheiten herauszuhalten. In einer Zeit allgemeiner Zurückgezogenheit haben sich also die
Palästinenser*innen mit einer neuartigen Vitalität den öffentlichen Raum, die Straße, zurückerobert und das Programm einer politischen Bewegung entwickelt, die alle sozialen Schichten miteinbezieht. Im Wesentlichen geht es darum, dass die palästinensischen Geflüchteten ihr Recht auf ein Leben in Würde und unter dem Dach der Menschenrechte einfordern. Der Protest geht mittlerweile in die fünfte Woche. Die Rede ist von einer Intifada für zivile und soziale Rechte der Palästinenser*innen. Dem Protest gelingt es, verschiedene politische und soziale Gruppen zusammenzuführen. Er äußert sich durch zivilen Ungehorsam wie Boykott der libanesischen Läden. Gleichzeitig erfährt er Solidarität in der libanesischen Zivilgesellschaft.
Diesen Aufbruch, aus einem Zustand der Frustration und des Pessimismus, hin zu einer Bewegung für Gerechtigkeit und Freiheit herunterzuspielen oder ihn gar gegen vermeintlich übergeordnete palästinensische Interessen oder solche des libanesischen Staates zu stellen, wäre ein großer Fehler. Natürlich kann man mit kleinen Zugeständnissen und Symbolpolitik die Lage wieder beruhigen. (Zum Beispiel erlauben die Behörden den Palästinenser*innen plötzlich, sich bei der Einreise am Flughafen am Schalter für libanesischen Bürger*innen und nicht mehr an dem für Ausländer*innen einzureihen. Red.) Aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist die Tatsache, dass die palästinensischen Bewohner*innen des Libanon begreifen, in welcher dramatischen Lage sie sich befinden.
Die palästinensischen Geflüchteten, die im Libanon zumeist in vierter Generation leben, sind sozial extrem marginalisiert. Sie haben keine Rechte und werden durch Gesetze, staatliche Prozeduren, Polizei, Zoll und autoritäre Traditionen, durch all das, was ich als tiefen Staat bezeichne, in ihrem täglichen Leben systematisch behindert. Zwei Drittel der Geflüchteten, so das zuständige UN-Komitee UNWRA, lebt unterhalb der Armutsgrenze. Dass das noch immer so ist, liegt auch daran, dass die politischen Vertreter*innen der Geflüchteten insbesondere nach Ende des libanesischen Bürgerkrieges auf fragwürdige Weise Rücksicht auf das austarierte libanesische Gleichgewicht aus den unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen und deren Prioritäten genommen hat. Die Interessen der palästinensischen Gesellschaft haben sie hintenangestellt.
Unterdessen hat sich die Sicht auf den Libanon verändert. Die palästinensische Gemeinde im Libanon will nicht mehr nur die Souveränität des Landes achten und gleichzeitig die eigene kulturelle palästinensische Identität bewahren, zu der auch die politische Forderung nach einem Recht auf Rückkehr gehört. Sie beansprucht auch Rechte für sich selbst in ihrer jetzigen Gegenwart. Diesen Wechsel hat das offizielle Palästina, repräsentiert durch die palästinensische Autonomiebehörde (PA), bislang nicht mitvollzogen. Es gibt also einen Konflikt zwischen den palästinensischen Bewohner*innen des Libanons und der Politik der PA. Dieser darf nicht auf Kosten der gemeinsamen politischen Ziele auch gegenüber Israel gehen. Aber er kann auch nicht zu Lasten der im Libanon lebenden Geflüchteten gehen.
Schon jetzt ist der palästinensische Aufstand erfolgreich. Er hat die geplante massive Einschränkung palästinensischer Arbeiterrechte erst einmal gestoppt. Erstmals gibt es eine Einheit unterschiedlicher sozialer und politischer Bewegungen, die dadurch auch ein neues Bewusstsein ihrer Handlungsmöglichkeiten gewonnen haben. Mehr noch: Zum ersten Mal liegen die palästinensischen Angelegenheiten im Libanon nicht in den Händen des Sicherheitsdienstes oder der Armee, sondern in denen des Ministerrats. Wir sind kein Sicherheitsproblem. Es geht um unsere bürgerlichen Rechte.
Als das Oslo-Abkommen 1993 zwischen der PLO und Israel verabschiedet wurde, blieb die Situation der Geflüchteten im Libanon, unberücksichtigt. medico entschied damals entgegen dem Hilfetrend, der sich auf die besetzten Gebiete konzentrierte, die Arbeit im Libanon auszuweiten. Seither unterstützen wir Nashet in Ein El-Hilweh. Gerade arbeiten wir an der Ausweitung der Nahrungsmittelsouveränität der Bewohner*innen durch Dachgärten, weil das Pilotprojekt ein schlagender Erfolg war.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!