Mitte April zeigte eine Studie des Robert-Koch-Instituts, dass das Risiko, an dem Coronavirus zu sterben, in ärmeren Regionen Deutschlands um bis zu 70 Prozent höher ist als in wohlhabenden Gegenden. Wie schätzt Du das in globaler Dimension ein?
Auch weltweit trifft das Virus nicht alle gleich. Von dem Risiko, schwer zu erkranken über die Möglichkeiten sich zu schützen bis zum Zugang zu Impfungen – die Unterschiede sind enorm, zwischen Nord und Süd, aber auch innerhalb der Gesellschaften. Es ist ein Ungleichheitsvirus, das bestehende Ungleichheiten aufdeckt und verstärkt.
Wie wirkt sich die Pandemie auf die globale Lage der Gesundheit aus? Andere, teils ebenfalls pandemische Krankheiten sind ja nicht verschwunden.
Die Pandemie bzw. die Maßnahmen, die zu ihrer Eindämmung ergriffen werden, zeitigen vor allem in Ländern des globalen Südens besorgniserregende Auswirkungen. Vielerorts ist die Prävention durch reguläre Schutzimpfungen von Kindern eingeschränkt, werden Menschen mit HIV/Aids, Tuberkulose oder chronischen Krankheiten nicht mehr ausreichend versorgt, sind Mutter-Kind-Programme beeinträchtigt und vieles mehr. Hinzu kommt, dass Menschen aus Angst vor Ansteckung Gesundheitseinrichtungen meiden.
Wen trifft es besonders?
Das Fehlen öffentlicher Systeme der sozialen Sicherung und unzureichende Unterstützungsmaßnahmen stürzen vor allem die Menschen in Notlagen, die ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor verdienen. In vielen Ländern ist das die Mehrheit der Erwerbstätigen. Zu Hause bleiben zu müssen bedeutet, dass ihre Familien Hunger leiden. Reserven sind längst aufgebraucht. Am stärksten betroffen sind Frauen. Viel zu wenig Beachtung finden aber auch psychosoziale Auswirkungen sowie die deutliche Zunahme von Gewalt gegen Frauen und Kinder und ungewollte Teenagerschwangerschaften bis hin zur Zwangsverheiratung von Minderjährigen. Die Covid-19-Pandemie löst also weitere Pandemien aus: Pandemien der Angst, der Gewalt, des Hungers, der Armut und viele mehr.
Verwendest Du deshalb den Begriff der Syndemie?
Der Begriff soll auf die Zusammenhänge und Wechselwirkungen der multiplen Pandemie-bedingten Krisen hinweisen, die sich gegenseitig verstärken. Hieraus folgt, dass ein biomedizinischer Ansatz allein, der sich auf die Krankheit und die Behandlung von Erkrankten konzentriert, nicht zielführend sein kann. Covid-19 als Syndemie zu verstehen heißt vielmehr, die sozioökonomischen Determinanten der Pandemie und ihrer Folgen anzuerkennen. In der Konsequenz müssen Politik und Programme anders ausgerichtet werden. Denn nur mit Impfstoffen lassen sich die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht überwinden.
Was müsste getan werden, um die strukturellen Folgen der Pandemie abzufedern?
Die alte Forderung nach einem umfassenden Schuldenerlass ist von Akteur:innen aus dem globalen Süden zuletzt im Zusammenhang von Klimakrise und Klimagerechtigkeit neu artikuliert worden. Nun kommen die Folgen der Pandemie hinzu. Als erstes Land hat Sambia seine Insolvenz erklärt. Meines Erachtens braucht es auch globale Mechanismen einer solidarischen Umverteilung. Ziel muss es sein, öffentliche Gesundheits- und soziale Sicherungssysteme so auf- und auszubauen, dass das Menschenrecht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit überall und für alle gewährleistet werden kann, auch jenseits von Pandemien.
Kannst Du in all den Verwerfungen und Verheerungen auch neue Ansatzpunkte für politisches Handeln erkennen?
Ich finde es wichtig zu sehen, dass das Verständnis der Zusammenhänge zwischen Gesundheit und sozialen, wirtschaftlichen sowie politischen Rahmenbedingungen deutlich zugenommen hat, bei uns wie im globalen Süden. Eine enorm wichtige Arbeit leisten dabei Basisgesundheitsarbeiter:innen, aber auch Gemeinderadios, alternative Informationsportale und vielfältige zivilgesellschaftliche Akteur:innen. Und es wächst die Einsicht, dass es nicht nur darum gehen kann, diese Pandemie irgendwie zu beenden, sondern dass es einer tiefgreifenden Transformation bedarf, um die massiven globalen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten überwinden zu können. Auch und gerade im globalen Süden greifen Organisationen und Bündnisse all dies zunehmend auf. Sie vernetzen ihre Kämpfe. Zu Recht wenden sie sich auch an uns und fordern eine transnationale Solidarität ein.