Die Delegationen in Brüssel hatten sich viel vorgenommen: „Supporting the future of Syria and the region“, darüber sollte auf der mittlerweile dritten internationalen Geberkonferenz zur Syrienkrise Anfang März 2019 gesprochen werden. Der Dreischritt von Hilfe, Wiederaufbau und Rückkehr der Flüchtlinge standen im Mittelpunkt. Am Ende wurden Milliarden versprochen, ohne dass es eine haltbare politische Initiative der Europäer gibt. zur selben Zeit sind wir im Libanon und bekommen jeden Tag das aktuelle Geschehen im Nachbarland mit: Phosphorangriff der russischen Luftwaffe auf die Region Idlib; Phosphorangriff der US-Luftwaffe auf die Stadt Barghouz, der letzten Enklave von Daesh/IS im Nordosten des Landes; anhaltende Proteste in der Stadt Daraa gegen die Repression des Regimes; Gasknappheit in Damaskus.
Zeit für Business
Während man in Brüssel noch diskutiert, treffen sich die iranische und türkische Regierung, um über ein gemeinsames Vorgehen in den kurdischen Gebieten in Irak und Syrien zu sprechen. Gleichzeitig findet ein trilaterales Treffen der Verteidigungsminister des Irak, des Iran und Syriens in Damaskus statt. Mit wem auch immer wir im Libanon sprechen, alle gehen davon aus, dass Assad und sein Regime an der Macht bleiben und trotz der Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung straflos davonkommen wird. Gleichzeitig hat die Aufteilung und Verteilung der Pfründe begonnen: Mobilfunklizenzen werden für mehrere Hundert Millionen Dollar an zwei russische Oligarchen verkauft, iranische Firmen sichern sich den Zugang zum Mittelmeerhafen in Latakia. Es ist wieder Zeit, Geschäfte zu machen, während an vielen Orten des Landes immer noch gekämpft, gebombt und getötet wird und weiterhin über elf Millionen Syrerinnen und Syrer im Land und auf der Flucht auf Hilfe angewiesen sind.
Mitten im syrischen Desaster befindet sich das kleine Nachbarland Libanon. Nur halb so groß wie Hessen, ist es seit Jahren Zufluchtsort von 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen, bei einer Einwohnerzahl von nur vier Millionen. Der Libanon ist damit das Land mit der höchsten Flüchtlingsquote weltweit. Apropos Quote: Der Libanon hat weltweit die dritthöchsten Schulden, gemessen am eigenen Bruttoinlandsprodukt. 50 Prozent der Staatsausgaben gehen mittlerweile in die Schuldentilgung. Hinzu kommt eine seit Jahren anhaltende politische Blockade. 2018 wurde nach neun Jahren wieder ein Parlament gewählt. Erst nach neun Monaten gab es eine neue Regierung mit dem eigentlichen Wahlverlierer Rafiq Hariri aus dem sunnitischen Lager als altem und neuem Premierminister. Im Gegenzug sicherten sich schiitische Kräfte mehr Einfluss, darunter insbesondere die vom Iran unterstützte Hisbollah, die nun insgesamt vier Ministerien leitet. Mit der Regierungsbildung können nun internatio nale Kredite in Höhe von elf Milliarden Dollar an den Libanon ausgezahlt werden, offiziell für den Ausbau von Infrastruktur. Wieviel davon in der klientelistisch-religiösen Ordnung des Libanons hängen bleibt, kann man sich ausmalen.
Ein Schlammbad
Ortswechsel. Mit dem medico-Partner AMEL Association sind wir in der Bekaa-Ebene, nahe der syrischen Grenze unterwegs. Mit Hilfe des Auswärtigen Amtes unterstützt medico AMEL seit 2013 in der Gesundheitsversorgung syrischer Flüchtlinge. An vier Standorten im Land werden täglich über 160 Behandlungen durchgeführt. Im Gesundheitszentrum in Mashgara beispielsweise deckt AMEL ein ganzes Spektrum an medizinischen Leistungen ab. Darunter nicht nur Allgemeinmedizin, sondern auch Pädiatrie, Augenheilkunde und Gynäkologie. Von Mashgara aus fahren die mobilen Kliniken in die informellen Siedlungen der syrischen Flüchtlinge. Es ist kalt und nass, ein langer Winter geht zu Ende, der viel Schnee und Regen bei wochenlangen Minusgraden brachte. Die Auswirkungen sind bis heute verheerend.
Die informelle Siedlung „Haouch Harimeh 006“ besuchen wir von Mashgara aus. Damaskus und die von Israel beanspruchten Golan-Höhen liegen hier näher als die libanesische Hauptstadt Beirut. Die Unterkünfte befinden sich in einem miserablen Zustand, das Areal versinkt noch immer in tiefem Schlamm. Über Wochen stand das Wasser kniehoch im Lager und den Zelten. Als die Latrinen überliefen und die Fäkalien sich im Lager verteilten, mieteten die Leute eine Wasserpumpe und zahlten pro Tag 300 Dollar, um die Schlacke eigenhändig aus den Zelten zu pumpen. AMEL verteilte mit Unterstützung medicos im Januar Decken, Kleidung und Heizöl, ansonsten kam keine Hilfe. Ein bestürzender Eindruck.
Die verheerende Lage der syrischen Flüchtlinge verantwortet die libanesische Politik, die den Vereinten Nationen nie ein volles Mandat zur Versorgung der syrischen Flüchtlinge erteilt hat und diese im rechtlosen Zustand hält. Viele leben seit Jahren illegal im Land in über 2.000 kleinen bis mittelgroßen informellen Lagern, meist auf privaten Grundstücken. So auch in Haouch Harimeh 006. Eine Familie muss jährlich 300 US-Dollar Miete an den Landbesitzer zahlen. Im Gegenzug erhalten sie quasi nichts. Der Müll wird nicht abtransportiert, Hilfe erreicht die Leute nur sporadisch. 144 Familien aus Rakka leben hier seit nun über fünf Jahren. An eine Rückkehr denkt trotz des Mülls und Schlammes keiner. „Rakka ist zu unsicher, wir sind vor dem Krieg geflohen und wollen nicht dorthin zurück“, sagt ein Familienvater.
Eingezäunte Palästinenser
Den syrischen Flüchtlingen im Libanon könnte ein Schicksal drohen wie den Palästinensern im Libanon. Eine seit 70 Jahren ungelöste Flüchtlingskrise. Wir besuchen Ein el Hilweh, das größte palästinensische Flüchtlingslager im Land nahe der Stadt Saida. 100.000 Menschen wohnen hier auf engstem Raum. Gewalt, Drogen und Konflikte der rivalisierenden palästinensischen Fraktionen und Milizen verleihen dem Camp den Ruf einer ständigen Gefahrenzone. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind stigmatisiert, soziale, ökonomische und politische Teilhaberechte sind ihnen im Libanon verwehrt.
2018 beendete das libanesische Militär den Bau einer Mauer um das Camp, die Siedlung erinnert nun eher an die Westbank als an den Libanon. Die Eingänge in das Lager werden vom Militär bewacht, jeder Zutritt wird kontrolliert. „Das ist kein Ghetto mehr, das ist ein Gefängnis“, sagt Zafer Alkhateeb, Direktor des medico-Partners Nashet. Hinzu kommt ein demographisches Problem: Es sind vor allem junge Männer, die aufgrund der Perspektivlosigkeit das Camp verlassen, um auf Fluchtrouten nach Europa zu gelangen. Zurück bleiben die Älteren sowie Frauen und Kinder, ohne Aussicht auf Familiennachzug zu ihren Vätern und Ehemännern – schließlich funktioniert die europäische Abschottung hervorragend. Zafer Alkhateeb sieht nur einen politischen Ausweg aus der verfahrenen Lage der Palästinenserinnen und Palästinenser im Libanon: Statt auf Rückkehr zu setzen, sollten sie eine Verbesserung ihrer Rechtssituation im Libanon anstreben. Nashet verbindet diesen politischen Strategiewechsel mit konkreten Projekten im Lager, die erfolgreich sind und der kriminellen Logik zuwiderlaufen, weil sie auf soziale Beziehungen setzen – von Gemüsegärten auf Dächern bis zu einkommensschaffenden Maßnahmen für Frauen.
Kurz vor unserer Abreise aus Beirut zirkuliert ein Foto in den sozialen Medien. Es zeigt ein Graffity aus dem syrischen Daraa: „Wir werden die Würde nicht bereuen“ haben Demonstranten auf eine Mauer gesprüht. Daraa, Ausgangspunkt der zuerst friedlichen Proteste in Syrien im März 2011, ist acht Jahre später wieder ein Ort der Demonstrationen geworden: Die Menschen protestieren gegen die Errichtung einer Statue von Hafez Assad. Kurz darauf erreichen uns Meldungen, dass Einheiten der libanesischen Hisbollah auf dem Weg nach Daraa sein sollen, um gegen die Proteste vorzugehen. Seit 2011 ist der Nahe Osten durch eine Situation der Revolution und Gegenrevolution geprägt. Solange Europa eine klare politische Initiative scheut, die einen dauerhaften Friedensprozess in der Region initiieren könnte, wird die Katastrophe andauern. Dann droht der syrischen Diaspora ein ähnliches Schicksal wie der palästinensischen, nicht nur im Libanon.
Beirut ist eine Arrival City für Geflüchtete aus aller Welt. Neben syrischen und palästinensischen Flüchtlingen, die medico in einer Vielzahl von Projekten unterstützt, sind auch Projekte mit dem Migrant Community Center in Beirut in Planung. Ihre Spende stärkt diese Arbeit.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!