Die Westsahara ist einer der vergessenen Orte, an dem sich die Opfer eines Konfliktes befinden, der an den Rand „erhabener zeitgeschichtlicher Aktualität“ (Milan Kundera) verwiesen wurde. Das Territorium der Sahrauis ist seit 1974 von Marokko besetzt, das die ehemalige Kolonialmacht Spanien als Besatzerin des Gebietes beinahe übergangslos ablöste.
Die Republik Westsahara existiert vor allem als Diaspora im Exil. Ein Großteil der Bevölkerung lebt nach wie vor im von Marokko besetzten Teil rechtlos, in Armut und ohne Zukunftsperspektiven. Die Menschen werden von Geheimdiensten schikaniert, inhaftiert und gefoltert. Nach Osten trennt sie eine 2.700 Kilometer lange Sperrmauer von jenen 100.000 Sahrauis, die nach Algerien vertrieben wurden. Die Flüchtlinge leben in einer kargen Geröllwüste auf algerischem Territorium in völliger Abhängigkeit von europäischer Hilfe. Sie kommen aus jenen Küstenstädten der Westsahara, die bis heute unter der Kontrolle und Vorherrschaft des marokkanischen Militärs stehen. Kontakte zwischen den Zurückgebliebenen und den Geflüchteten gibt es kaum, manche Familien sind seit über 35 Jahren zerrissen. Alle Sahrauis warten seit Jahren auf die Einlösung des Versprechens der UNO: ein freies Referendum über ihre Zukunft.
Die Westsahara ist reich an Bodenschätzen. Das Land verfügt aber nicht nur über eines der größten Phosphatvorkommen der Welt, sondern auch über einen der größten Fischbestände Afrikas in seinen Küstengewässern. Zudem werden erhebliche Erdöl- und Gasreserven entlang des über 1.000 Kilometer langen Küstenstreifens vermutet.
Marokko veräußert den Reichtum der Westsahara gewinnbringend an die Mitgliedsstaaten der EU. Rund 48 Millionen US-Dollar wurden im Jahr 2008 durch illegalen Phosphat-Export aus den besetzten Gebieten erwirtschaftet. Hinzu kommen jährlich 36 Millionen Euro, die Marokko mit der Vergabe von Fischfanglizenzen an die europäische Fischereiflotte verdient. Internationale Konzerne untermauern mit ihren Geschäften in dem besetzten Gebiet der Westsahara den unrechtmäßigen Anspruch Marokkos auf sein Nachbarland im Süden. Die Geschäfte tragen zur Verschlechterung der Lebensbedingungen der einheimischen Bevölkerung bei und treiben Tausende Einwohner/innen zur Flucht, während die EU eng mit Marokko bei der Abwehr afrikanischer Flüchtlinge kooperiert.
Fischereiabkommen zwischen EU und Marokko
Die Meere vor der Küste Europas sind so überfischt, dass die Trawler immer weitere Distanzen auf sich nehmen, um der Nachfrage in den Mitgliedsstaaten nachzukommen. Fangrechte werden so zu einem immer kostbareren Gut.
Die EU hat aus diesem Grund mit verschiedenen Staaten Fischereiabkommen abgeschlossen, um Fischfangrechte vor den jeweiligen Küsten zu erhalten. Auch die Fabrikschiffe werden von der EU subventioniert. Die EU begründet die Erschließung neuer Fanggründe mit dem Erhalt heimischer Arbeitsplätze in der Fischereiindustrie. Ignoriert wird dabei, dass damit zugleich Existenzen in Afrika vernichtet werden.
Obwohl kein Land auf der Welt die marokkanische Annexion der Westsahara von 1976 anerkennt, verhandelt die Europäische Union mit der Regierung Marokkos über den Zugang zu den Rohstoffen des besetzten Gebietes. 36 Millionen Euro fließen seit Inkrafttreten des Fischerei-Partnerschaftsabkommens von 2007 zwischen der EU und der Besatzungsmacht jährlich nach Marokko. Als Gegenleistung wird über 100 Schiffen aus EU-Mitgliedsstaaten erlaubt, in den Gewässern der Westsahara zu fischen. Das Abkommen ist nicht nur umstritten, weil Marokko damit unrechtmäßig über die Westsahara verfügt, sondern auch weil es offen lässt, bis zu welchen Koordinaten die Fischgründe entlang der marokkanischen und westsahrauischen Küste für EU-Schiffe geöffnet werden sollen.
Nicht Fahrlässigkeit führte zu diesem Versäumnis. Die EU weigerte sich bis zur Unterzeichnung, den Geltungsbereich des Abkommens geographisch klar einzugrenzen und schließt damit wissentlich die Westsahara in die Fanggebiete mit ein. Im Gegensatz zur EU hatten die USA in ihrem Freihandelsabkommen mit Marokko die internationalen Grenzen Marokkos und der Westsahara anerkannt. 2008 bestätigte der EU-Fischereikommissar, dass in den Gewässern der Westsahara gefischt werde. In einem Rechtsgutachten des Europaparlaments wurde die Fischerei in den Gewässern der Westsahara für völkerrechtswidrig erklärt. In der Begründung wird darauf hingewiesen, dass der Fischfang im Rahmen des Abkommens zwischen der EU und Marokko in den Küstengewässern der Westsahara ohne Konsultation der Bevölkerung des Autonomiegebietes erfolgt. Außerdem profitiere die Bevölkerung der Westsahara nicht von der Vereinbarung und erhalte keine Einnahmen aus der Vermarktung ihrer Fischbestände. Dennoch wurde das Abkommen in 2011 von der Europäischen Kommission verlängert.
medico unterstützt die Kampagne FISH ELSEWHERE und fordert die unverzügliche Beendigung der EU-Fischerei in den Gewässern des besetzten Landes.
Investitionen in Fisch, nicht in Menschen
Die Ausbeutung der Fischbestände vor den Küsten Westafrikas entzieht den lokalen Fischer/ innen die Lebensgrundlage. Viele sehen sich zur Migration gezwungen. Die Fischer/innen Westafrikas, die nicht mehr vom Fischfang leben können, verkaufen ihre Pirogen an potentielle Auswanderer/ innen.
Das Europäische Parlament macht in einer Stellungnahme die Verbindung von Rohstoffausbeutung und Migration deutlich: „Das Europäische Parlament betont die hohe Abhängigkeit der Länder Westafrikas von der Fischerei als Quelle von Arbeitsplätzen, Ernährungssicherheit, Proteinen, Staatseinnahmen und Außenhandel, nach der eine der wichtigsten Ursachen der Auswanderung der Niedergang der lokalen Fischereiindustrie ist.“
Das Parlament fordert die Kommission auf, dringend die Verbindung zwischen der hohen Zahl von Immigrant/innen aus westafrikanischen Ländern, die in die Europäische Union einwandern wollen, und dem starken Rückgang der Fischbestände vor den westafrikanischen Küsten anzuerkennen. Das Fischereiabkommen hat tödliche Folgen: Bei der riskanten Flucht über den Atlantik kommen Tausende Menschen ums Leben.
medico-Partner vor Ort: Stärkung der Selbstverwaltung
medico international unterstützt die Republik Westsahara seit dem Jahr 1976. Fast 30 Jahre lang lieferte medico Nahrungsmittel und Medikamente an jene mehr als 100.000 Sahrauis, die vor den marokkanischen Fliegerbomben und gezielten Napalmangriffen vor mehr als drei Jahrzehnten in die algerische Geröllwüste flohen. Trotz der widrigen Bedingungen schufen die Sahrauis in der Wüste eine funktionierende Selbstverwaltung. Ein schwieriges Unterfangen, denn die aus der besetzten Sahara Geflohenen sind seit mehr als drei Jahrzehnten gänzlich auf internationale humanitäre Hilfe angewiesen. Gleichzeitig sensibilisiert medico die Öffentlichkeit für die Belange der Sahrauis durch Veranstaltungen und die Förderung eines abendfüllenden Dokumentarfilmes über die Geschichte der Westsahara. medico wird den Flüchtlingen auch zukünftig zur Seite stehen und das bewährte Gesundheitsprogramm weiter stärken. Die Sahrauis sind die „Vergessenen“ inmitten der Regime der nordafrikanischen Länder, die in jüngster Zeit Revolutionen, Aufstände und Krieg erleben. Sie sind diejenigen, die auf jede Solidarität, besonders aus Europa, angewiesen sind, um auch für sich ihre legitimen Bürger und Freiheitsrechte durchsetzen zu können.