Unzählige UN-Resolutionen blieben in der Vergangenheit Papier. Es gibt Resolutionen zu Indien, Russland oder Zypern, die nicht eingehalten wurden, ohne dass dies Folgen hatte. Die Gründung eines palästinensischen Staats steht ebenso aus, wie das Referendum über die Zukunft der Westsahara. Deren Bewohner leben seit mehr als 30 Jahren unter marokkanischer Besatzung. Afrikas letzter Kolonialkonflikt überdauert die Zeit.
"Der Zug ist vorbeigefahren, schnell / Ich warte am Bahnsteig / Auf einen Zug, der vorbeigefahren ist / Meine Zeit war nicht / Auf meiner Seite des Bahnsteigs / Die Uhr wurde umgestellt / Wieviel Uhr ist es? / Der Zug ist vorbeigefahren, schnell / Er ist durch mich hindurchgefahren, und ich / Ich warte." (Mahmud Darwisch)
Eigentlich haben die Sahrauis in ihrem Kampf um eine unabhängige Westsahara alles richtig gemacht. Sie nahmen ihren Unabhängigkeitskrieg 1969 auf, als die antikolonialen Bewegungen sich auf einem historischen Höhepunkt wähnten. Es schlug die Stunde der Sahrauis und der Frente Popular de Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro, kurz Frente Polisario. Gegründet von sahrauischen Studenten, die den Mai 1968 nicht nur an marokkanischen Universitäten, sondern auch im Pariser Quartier Latin erlebten. Den europäischen Marxismus übersetzten sie in die Realität der sahrauischen Feudalgesellschaft: zuallererst sei der Tribalismus zu zerschlagen, die überkommene Stammesgesellschaft.
Die Polisario verortete sich als antikoloniale und sozialistische Bewegung. 1976 gründete sie die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS). Die war und blieb bis heute allerdings eine Republik von Staatenlosen, beherbergt in Flüchtlingslagern bei Tindouf in der algerischen Wüste, bewohnt von 165.000 Menschen. medico ist von Anfang an, seit dem Winter 1976, Teil der internationalen Hilfe für die Flüchtlingsrepublik und stärkt die Selbstverwaltungsstrukturen der Lager. Zugleich versuchen wir die Öffentlichkeit für die Belange der Sahrauis zu sensibilisieren.
Zeit der Träume, Zeit der Hoffnung
Tatsächlich wurde die spanische Kolonisierung der Westsahara 1884 in Deutschland besiegelt. Auf der Berliner Afrikakonferenz, in der die alten europäischen Kolonialmächte ihre Mandats- und Einflussgebiete festlegten, sicherte sich Spanien den Küstenstreifen der westlichen Sahara. Mit der Kolonisation begann der Widerstand. General Franco schlug die sahrauischen Stämme 1934 zusammen mit Frankreich nieder und setzte dann zum Putsch nach Madrid über.
Der moderne sahrauische Unabhängigkeitskampf begann als politische Kampagne und wurde nach der Ermordung Harakat Tahrirs, ihres charismatischen Anführers, zum Sandkrieg, geführt von der Polisario. Nach dem Rückzug Spaniens 1975 besetzte Marokko die Westsahara. Die hochbeweglichen, in schnellen Jeeps vorstoßenden Polisario-Verbände brachten den gegnerischen Truppen empfindliche Niederlagen bei. Die marokkanische Armee fürchtete die Polisario wie zuvor die Fremdenlegionäre den Vietcong. Während die Guerillas des General Giap unsichtbar im Reisfeld lagen, unter Wasser, nur mit einem Strohhalm atmend, auf eine vorbeiziehende Patrouille warteten, vergruben sich die sahrauischen Einheiten im Sand. Tagelang harrten sie dort aus, sie warteten auf den geeigneten Moment zum Angriff. Und noch heute, 30 Jahre später, erzählen Sahrauis die Geschichten ihrer Kämpfer, die schon anhand der Farbe und Rieselbeschaffenheit des Sandes präzise sagen konnten, in welchem Teil der Wüste sie sich befanden.
Marokko antwortete auf die Niederlagen am Boden mit einem Luftkrieg. Dörfer wurden bombardiert, Napalm eingesetzt, Brunnen vergiftet, das lebensnotwendige Nutzvieh abgeschlachtet. Zehntausende Sahrauis flohen nach Algerien. Dann kamen die marokkanischen Siedler, den Koran in den Händen - der "Grüne Marsch". Hassan II. marokkanisierte die Westsahara und konnte sich dabei auf den Westen verlassen, der auf den König als regionales Gegengewicht zu Algerien setzte. US-Außenminister Kissinger vermittelte Waffendeals mit Taiwan, Jordanien, Südkorea und Südafrika. Die Carter-Administration liefert Cobra-Hubschrauber. Später kamen Green Berets als Ausbilder und dem König wurde per Vertrag der Kauf und Einsatz US-amerikanischer Cluster-Bomben gestattet.
Zwischenzeitlich schien sich immer wieder mal das Blatt zu wenden. Nicaragua hatte seine Revolution erlebt, die Guerilla in El Salvador wähnte sich vor dem Sieg, alle afrikanischen Staaten waren entkolonialisiert, allein Südafrika noch unter weißer Herrschaft. Der Westsahara-Konflikt war der letzte klassische afrikanische Kolonialkonflikt. Die Polisario wurde regierungsamtlich, ein Präsident, Minister und Botschafter wurden ernannt, Abkommen geschlossen. Mauretanien verzichtete auf seine Ansprüche. Die Sahrauis verstärkten die Diplomatie, die Sozialistische Internationale gewährte ihnen einen Beobachterstatus. Die UN-Hilfsprogramme liefen an. Marokko aber zog eine bis zu zehn Meter hohe Sperranlage hoch. 1.200 km Hightech zerteilen seitdem die Westsahara, Stacheldraht, Infrarot, Sprengfallen, hinter dem Wall 170.000 marokkanische Soldaten, davor ein schmaler, unfruchtbarer Streifen "befreites Gebiet" der Sahrauis.
1991 wurde auf UN-Vermittlung zwischen Marokko und der Polisario ein Waffenstillstand mit späterem Referendum vereinbart. Die Bevölkerung sollte über die Unabhängigkeit entscheiden. Die Polisario war bereit sich aufzulösen, wenn eine Mehrheit Marokko den Vorzug geben sollte. Die Sahrauis wähnten sich am Ziel. Man sprach über Wahlbeobachter, diskutierte Rückführungspläne für die Flüchtlinge. Aber die Uhren waren längst umgestellt worden – ohne dass man die Betroffenen gefragt hatte. Eine andere Zeit hatte begonnen. Keine der großen Mächte war wirklich am Referendum interessiert. Die Sowjetunion existierte nicht mehr. Paris tat, was der König wollte, lieferte zwischen 1991 und 2000 militärische Güter im Umfang von 250 Millionen Euro. Alle großen Multinationalen - Renault, Citroen, TotalFinaElf, Aerospatiale - operieren im Königsstaat.
Die Uhren werden umgestellt
Unter Überwachung der im Jahr zuvor eingerichteten UN-Friedenstruppe MINURSO sollte das Referendum 1992 stattfinden. Bis zum Jahr 2000 wurde die im UN-Sicherheitsrat beschlossene Abstimmung fünfmal verschoben. Marokko fälschte Wahllisten, sabotierte die Registrierung. Die UNO versuchte in erster Linie die Sahrauis umzustimmen. Peu à peu wurden die Konditionen des Referendums aufgeweicht. Mal ging es nur um eine Autonomie, dann um die Teilung, heute favorisiert die UNO lediglich eine Autonomie mit einer Jahre später vorgesehenen Abstimmung über den zukünftigen Status. Die Polisario beharrte auf dem Wortlaut der UN-Resolutionen. Und immer dann, wenn die Sahrauis zähneknirschend begannen, zu ihrem Nachteil nachzugeben, verweigerte Marokko kategorisch jeden Kompromiss.
Nur wenige Partner stehen den Flüchtlingen wirklich zur Seite. Algerien natürlich, und Kuba, das junge Sahrauis zu Elektroingenieuren, Landwirten oder in medizinischen Berufen ausbildete. Aber die Rückkehrer müssen sich "zuhause" der Flüchtlings- und Lagerökonomie des Nichtstuns fügen, einige flüchten nach Europa. Dabei betreibt die Polisario in den Lagern ein Regime, das in vielen Aspekten durchaus "auf der Höhe der Zeit" ist: Religiöser Fundamentalismus ist ihnen fremd, der Glaube Privatsache, bei Scheidungen behält die Frau das Zelt, Mädchen und Jungen werden zusammen unterrichtet.
Zeit der Leere, Zeit der Hilfe
Afrikas letzter Kolonialkonflikt überdauert die Zeit. Aber Marokko ist zu wichtig, und Algerien wird wichtig. Erst recht im "Krieg gegen den Terror". Den Sahrauis aber weist die Neuordnung des Maghreb keinen Platz mehr zu. Im großen, geopolitischen Spiel sind sie als "vernachlässigbare Menge" abgeschrieben. Seit Jahrzehnten versorgen NGOs die Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln und Medikamenten. Nothilfe und immerwährende Lagerhaltung für Flüchtlinge wurden zum Dauerzustand. Auf der politischen Bühne herrscht Stillstand. Nach Lage der Kräfte liegt die Verantwortung für die ausweglose Lage der Sahrauis und für ihre fortgesetzte Demütigung jetzt bei den Agenturen der UN, weil sie im Augenblick die einzigen sind, die handeln könnten. Sie müssten sich dazu gegen die Mächte stellen, die im Sicherheitsrat das Sagen haben.
Projektstichwort
medico international hält am sahrauischen Anspruch auf Freiheit und Gerechtigkeit fest und wird den Flüchtlingen auch zukünftig zur Seite stehen. Mit Unterstützung von ECHO (Amt für humanitäre Hilfe der Europäischen Union) versorgen wir die Flüchtlingslager (nahe Tindouf; Algerien) mit Medikamenten und medizinischen Bedarfsgütern. Um mit Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit politischen Druck zur Lösung des Westsaharakonfliktes aufzubauen, sind wir allein auf ihre Solidarität und finanzielle Mithilfe angewiesen. Das Spendenstichwort lautet: Westsahara.