Im Dezember 2005 bereiste eine von Brot für die Welt und medico international initiierte Untersuchungsmission Sri Lanka. Wir wollten uns vor Ort ein Bild von der Lage der Überlebenden des Tsunami und von der Arbeit der nationalen und internationalen Hilfsorganisationen machen. Mitglied der Mission war auch Shreen Abdul Saroor, Frauenrechtlerin, Friedensforscherin und Leiterin der im Nordwesten der Insel tätigen Mannar Women's Development Federation. medico-Mitarbeiter Thomas Seibert sprach mit ihr über die aktuelle Situation
medico:
Knapp anderthalb Jahre nach dem Tsunami sprichst Du vom "Großen iNGO-Schwindel" auf Sri Lanka. Wer wurde betrogen?
Shreen Abdul Saroor:
Will man verstehen, was nach dem Tsunami auf Sri Lanka geschah, muss man zunächst einmal festhalten, dass wir zwar die größte Naturkatastrophe unserer Geschichte, doch keine "humanitäre Katastrophe" erlebt haben: keinen Hunger, keine Epidemien, keine Plünderungen, nichts von dem, was die Situation von New Orleans nach "Katrina" bestimmt hat. Statt dessen waren die ersten zwei Wochen nach dem Seebeben von spontaner gegenseitiger Hilfe bestimmt: Die Leute halfen sich über die sozialen und ethnisierten Grenzen hinweg, die lokalen Behörden kooperierten nahezu reibungslos mit den lokalen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), die ihrerseits von den internationalen Hilfsorganisationen (iNGOs) unterstützt wurden, die hier schon seit längerem aktiv sind. Die srilankischen NGOs bildeten den Kern dieser Bewegung, indem sie ihre Leute – voran die Frauen – Tag und Nacht zu mobilisieren wussten und dabei die Erfahrungen aus zwanzig Jahren Bürgerkrieg ausspielten: Das war einzigartig, und genau das wurde einfach weggewischt.
Aber wie kann eine organisierte Zivilgesellschaft so schnell zusammenbrechen?
Anders als in Indien oder Thailand strömten Hunderte iNGOs ins Land und begannen sofort, Budgets ungeheuren Ausmaßes umzusetzen. Zwar geschah das oft guten Willens, doch nahezu immer ohne jede Kenntnis der durch den Bürgerkrieg geprägten sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen Sri Lankas. Damit nicht genug: Die meisten iNGOs hatten keine Verbindungen, kein Personal, keine Infrastruktur. Also kauften sie Grundstücke und Büros, brachten ihre Jeeps ins Land, ihre Gerätschaften - und ihre Konkurrenzen. Von Beginn an gab es eine Konkurrenz um "Opfer", die zu betreuen waren, um Land für die Ansiedlung der Obdachlosen, um Zugang zu Behörden und um Personal: soziale Aktivistinnen, Mediziner, Ingenieure, bis hinunter zu Fahrern oder Bauarbeitern. Alles eine Frage des Geldes: Wer heute auf Sri Lanka soziale Arbeit leistet, verdient fünf- bis zehn Mal so viel wie vor dem Tsunami. Mittlerweile satteln Absolventen der Betriebs- und Volkswirtschaft auf soziale Arbeit um, deren Motiv von Anfang an nur das Gehalt ist. Die Hilfsindustrie ist unsere größte Wachstumsbranche und zugleich das vorläufige Ende unserer nichtstaatlichen sozialen Strukturen: Sie verloren ihr Personal, mussten schließen oder wurden komplett übernommen.
Gab es da keinen Widerstand? Wer unter Bürgerkriegsbedingungen arbeiten konnte, gibt doch nicht einfach auf!?
Lass mich ein Beispiel geben. Viele iNGOs haben gezielt Frauen eingestellt, die vorher in srilankischen Organisationen gearbeitet und sich dort in Genderfragen engagiert haben. Bestimmte politische und religiöse Führer greifen das jetzt auf und schüren frauenfeindliche Ressentiments. Dabei beziehen sie sich auf die offenbare Korruption und auf den Umstand, dass die "Westler" und ihr srilankisches Personal eine eigene Subkultur bilden, ihre eigenen Restaurants und Bars haben, mit ihren großen Jeeps, ihren Videokameras, Handys und Laptops durch die Gegend kurven. Leute, die da nicht mithalten können, sehen nun tamilische und muslimische Frauen, die sie als Feministinnen kennen oder dafür halten. Dann kommt ein bekannter tamilischer Politiker und behauptet, dass nach dem Tsunami allein in Batticaloa 183 Frauen abgetrieben hätten, von denen die meisten bei iNGOs arbeiten. Prompt tauchen Flugblätter auf, die Frauen zur Kündigung auffordern. Die Situation eskaliert: Frauen werden überfallen, sogar mit Steinen beworfen. Ich war bei einer NGO im Osten, die früher fünfzehn muslimische Frauen beschäftigte. Heute sind da noch drei, die Stellen der anderen wurden mit Männern besetzt. Das ist unannehmbar! Zwingt man Frauen, ihre Arbeit aufzugeben, sollten die NGOs die Stellen demonstrativ unbesetzt lassen und zugleich offensiv eine gesellschaftliche Debatte einfordern!
Das rührt an die Hierarchie des Elends: Der Tsunami traf die Armen, er traf die tamilischen und muslimischen Armen schlimmer als die im singhalesischen Süden und er hat die Frauen stärker getroffen als die Männer...
Die Fluten töteten und verletzten viel mehr Frauen als Männer, weil die Frauen zu Hause und viele Männer unterwegs waren. Das ist natürlich keine Naturtatsache, sondern drückt ein gesellschaftliches Verhältnis aus, ein Verhältnis, das nach zwanzig Jahren Bürgerkrieg nicht nur durch seine patriarchale Tradition, sondern durch deren Verwilderung bestimmt ist. Der Tsunami hat das weiter vorangetrieben. Das begann schon in den ersten Tagen danach, wo immer wieder Frauenleichen geschändet wurden, und es setzte sich in den Lagern fort, wo sexuelle Belästigungen und Übergriffe zum Alltag gehören. Wenn es um die Wiederherstellung des Lebensunterhalts geht, etwa in der Landfrage, bleiben die Frauen außen vor. Nach traditionell tamilischem und muslimischem Recht stand Frauen in Folge von Heirat oder Erbschaft immer eigenes Land zu. 60 Prozent der besiedelten Küstengrundstücke waren in Frauenhand. Jetzt herrscht dort ein Siedlungsverbot, Ersatzland muss beantragt werden. Aber die Formulare geben vor, dass neues Land dem "Haushaltsvorstand" gehört, also dem Mann. Wir fordern, dass wenigstens die traditionellen Regelungen wieder in Kraft gesetzt werden.
Die Alltagsgewalt ist die eine, die militärische Gewalt die andere Sache. Wie reagieren die internationalen Helfer auf die Gefahr eines Wiederaufflammens des Kriegs?
Wenn hier noch vom Tsunami die Rede ist, dann nur noch in Bezug auf die Kriegsgefahr: Was wird ein neuer Krieg für die bedeuten, die gerade erst den Tsunami überlebt haben? Und: Wie werden wir mit einem neuen Krieg zurechtkommen, jetzt, wo unsere organisierten Strukturen so geschwächt sind? Unsere Krise kommt unter der Kriegsgefahr auf den Punkt: Packen doch die ersten iNGOs jetzt schon ihre Sachen zusammen. Kannst Du Dir das vorstellen? Da kommen Hunderte von Organisationen ins Land, übernehmen mit ihren nahezu unbegrenzten Budgets unsere Strukturen, etablieren sich als zum Teil quasi-staatliche Macht, und wenn's eng wird, brechen sie ihre Zelte ab. Unsere Leute aber können nicht gehen. Wir werden fünf bis sechs Jahre brauchen, um organisatorisch den Stand der Zeit vor dem Tsunami wiederherzustellen.
Aufbruch in die Moderne? In Ambalangoda, im Süden Sri Lankas, baute das deutsche THW eine neue Heimat für obdachlos gewordene Fischerfamilien, deren vormalige Strandhüttensiedlung vom Tsunami weggerissen wurde. Die gemauerten zweistöckigen Häuserzeilen wurden auf einen Hügel gesetzt, sechs Kilometer vom Wasser entfernt. Allnächtlich um 3.00 Uhr soll ein Shuttlebus die Fischer aus ihren nunmehr robusten Behausungen ans Meer bringen.
Das alles zusammengenommen – was ist die Lektion des Tsunami?
Es reicht, hier auf die zwei Begriffe zurückzukommen, die alle im Mund führen: Partizipation der Betroffenen an Hilfe und Wiederaufbau, Koordination aller Maßnahmen aus ihrer Perspektive. Dem stimmt jeder zu: die iNGOs, die Regierung, die Gebergemeinschaft. Entscheidend aber ist, was darunter verstanden wird. Für die meisten iNGOs und für die Regierung richtet sich das Angebot zur Partizipation allein an die unmittelbar Betroffenen, und sie sind es auch, die man zur Koordination einlädt: Das versichern alle, ausnahmslos. Wir verstehen darunter sehr viel mehr. Partizipieren muss die ganze Gesellschaft, auf allen Ebenen der Entscheidungsprozesse, von unten nach oben. Das ist nur als politischer Prozess möglich, in dem die Zukunft unserer Gesellschaft ausgehandelt wird. Das ist es, was ich "Ownership" nenne: Die bewilligten und versprochenen Mittel gehören den unmittelbar Betroffenen und denen, die hier leben. Darin sind wir uns auch mit den Spenderinnen und Spendern einig: Es ist ihr Geld! Viele derer, die guten Willens sind, machen sich nicht klar, was in den Zauberwörtern von Partizipation und Koordination steckt. Da ist in Sri Lanka das meiste schief gelaufen.