Anders als während der letzten großen Proteste im Jahr 2015 gehen die Menschen heute gemeinsam auf die Straße und tragen nicht – wie sonst üblich – die Fahnen ihrer jeweiligen politischen Gruppierungen. Und anders als 2015, als die Proteste auch durch den Kollaps der staatlichen Müllentsorgung ausgelöst wurden, fordern die Menschen heute, dass die Regierung nicht nur an kleinen Stellschrauben bastelt, sondern sie stellen das politische System und die es dominierende politische Klasse als solche in Frage.
Auch nach ersten Rücktritten von vier Ministern der Partei „Lebanese Forces“ beharren die Demonstrierenden auf ihren Forderungen und blockieren weiter zentrale Plätze in der Hauptstadt Beirut, sowie unter anderem Straßen im Norden und Süden des Landes und im Bekaa-Tal. Auf Anweisung des Bildungsministeriums fällt landesweit bis auf weiteres der Unterricht an Schulen und Universitäten aus. Über das Wochenende blieben viele Geschäfte geschlossen, nachdem es in der Nacht auf Freitag vereinzelt zu Ausschreitungen, Plünderungen und Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften kam. Die libanesische Armee rief die Bevölkerung auf, friedlich zu protestieren, ohne staatliches oder privates Eigentum zu beschädigen.
Ein resilientes Land?
Insbesondere von der Europäischen Union und der deutschen Bundesregierung wurde der Libanon in den zurückliegenden Jahren immer wieder für seine hohe Resilienz angesichts der anhaltenden Krisen in Syrien und dem Irak, in deren Verlauf über 1,5 Millionen Menschen in den Libanon geflohen sind, gelobt. Doch nun erschüttern die Folgen einer seit Jahren mitgeschleppten Finanz- und Wirtschaftskrise das Land.
Als „resilient“ wird der Libanon vor allem bezeichnet, weil das Land seit dem Einmarsch der israelischen Armee im Süden des Landes 2006 und angesichts des seit 2011 in Syrien herrschenden Krieges politisch vergleichsweise stabil geblieben ist. Die aktuellen Proteste aber zeigen, dass ein solcher Resilienzbegriff für den Bereich der Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit unangemessen ist. Wie wäre sonst zu erklären, dass die aktuellen Proteste, die sich gegen die anhaltende Korruption und das Missmanagement des libanesischen Staates richten, also keine neuen, sondern schon lange vorherrschende Probleme.
Auch wenn die libanesische Regierung bereits erste Gesetzesvorhaben zurückzog, lassen sich die Ursachen für die Proteste nicht so schnell aus der Welt schaffen. Ebenso wenig die hohe Staatsverschuldung von 86 Milliarden US-Dollar – bei einer Quote von etwa 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eine der höchsten Schuldenquoten weltweit. Während der Libanon also von externen Akteuren für seine Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit gelobt wird, begünstigt das marode politische System des Landes nur eine kleine Elite. Ein wirklicher Staat mit einer hoheitlichen Fürsorgepflicht existiert bis heute quasi nicht.
Die durchweg positive Bezugnahme auf das als resilient gepriesene System Libanon verleitet Analyst*innen und politische Entscheidungsträger*innen in jüngster Zeit zunehmend dazu, ähnliche politische Arrangements als Lösungen für Konflikte in Ländern wie Libyen, dem Jemen und Syrien in Betracht zu ziehen. Doch es lohnt sich zu betonen, dass die Ursachen für die anhaltende soziale Krise, mit der sich weite Teile der libanesischen Bevölkerung tagtäglich konfrontiert sehen, im Ausgang des libanesischen Bürgerkriegs 1990 liegen. Ähnlich wie mit dem Dayton-Abkommen, das 1995 den Bosnien-Krieg beendet hat, ist mit dem Taif-Agreement ein Friedensvertrag geschlossen worden, der die Kampfhandlungen beendete, aber nicht als Grundlage einer neuen Verfassung dienen konnte. Deshalb ist in den jeweiligen Vertragswerken auch explizit darauf verwiesen worden, dass sie möglichst schnell durch eine richtige Verfassung ersetzt werden sollen.
Power-Sharing: ein geschlossenes System
Nichtsdestotrotz wird der Libanon, genau wie Bosnien, bis heute auf Grundlage dieses Abkommens aus dem Jahr 1990 regiert. Das daraus entstandene politische System, an dem nur geringe Anpassungen vorgenommen wurden, sieht im Fall des Libanon eine Gewaltenteilung entlang der damaligen Trennungslinien vor. So soll sichergestellt werden, dass alle damals einflussreichen Gruppierungen in einem sogenannten „Power-Sharing“-System an der Regierungsführung beteiligt sind. Für das politische System des Libanon bedeutet dies, dass die verschiedenen religiösen Gruppen zu festen Quoten im Parlament vertreten sind und beispielsweise das Amt des Präsidenten von einem maronitischen Christen, das des Ministerpräsidenten von einem sunnitischen und das des Parlamentspräsidenten von einem schiitischen Muslim besetzt werden muss. Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte muss wiederum ein Christ sein.
Unter diesem geschlossenen System leiden vor allem auch Frauen, die trotz des vergleichsweise toleranten und offenen Images, dessen sich die libanesische Gesellschaft häufig erfreuen darf, nur sehr gering an formalen politischen Prozessen beteiligt sind. Insgesamt zeichnet sich die Parteienlandschaft des Libanon durch einen hohen Grad von Klientelismus und patriarchaler Einflussnahme aus. So werden die Wahlkandidat*innen von den Führern der jeweiligen politischen Lager bestimmt, wodurch jeder politische Wettbewerb quasi überflüssig gemacht wird: Statt Unterstützung von unten zählt nur die Gunst von oben.
Weil sich fast alle politischen Parteien nach dem Bürgerkrieg entlang konfessioneller Linien herausgebildet haben und viele von ihnen unmittelbar aus bewaffneten Gruppierungen hervorgegangen sind, verfestigten sich die konfessionellen Linien und bestimmen bis heute die politische Landschaft des Libanon. Auch wenn sich der libanesische Bürgerkrieg anfangs vor allem um die Anwesenheit der palästinensischen Befreiungsbewegung (PLO) drehte, die nach bewaffneten Auseinandersetzungen mit dem jordanischen Militär ab 1970 ihr Operationsfeld in Jordanien verloren hatte und verstärkt im Libanon präsent wurde, wird er gemeinhin als ein Konflikt zwischen religiösen und ethnischen Gruppierungen verstanden. Diese Lesart des Konflikts verwischt die politischen und sozialen Gründe, die zum Ausbruch des 15-jährigen Bürgerkriegs führten und sich in seinem Verlauf weiter herausgebildet haben.
Soziale Leistungen als Bindungsinstrument
Die Infrastruktur des Libanon ist seit Jahrzehnten in einem desaströsen Zustand. Seit Gründung des Landes 1920 gab es zu keinem Zeitpunkt eine 24-stündige Stromversorgung und selbst in der Hauptstadt Beirut mit ihrer luxuriösen Innenstadt ist das Leitungswasser nicht trinkbar. Den politischen Eliten gelingt es unter diesen Umständen, ihre Macht dadurch zu festigen, dass sie ihre jeweiligen Communities mit Zusatzleistungen versorgen. Auch die im Westen oft als reine Terrororganisation verstandene Hisbollah ist im sozialen Bereich aktiv und stützt ihre Machtstellung viel stärker auf dieses Engagement als auf ihre militärische Stärke oder das Narrativ als Widerstandsbewegung gegen den israelischen Staat, das sich nur aufgrund der anhaltenden Besetzung von Teilen des Südlibanon durch Israel bis heute aufrechterhalten lässt.
Wer es sich leisten kann, hat einen Generator, der die Engpässe in der Stromversorgung überbrückt und lässt seine Hausleitungen nachts von einem Tanklaster mit Trinkwasser füllen. Die Regierungen des Libanon verzichten bisher darauf, Daten zu Demografie und sozialer Lage zu erfassen. Dies auch weil das politische Establishment befürchtet, durch dokumentierte demografische Veränderungen unter Druck zu geraten, das als Übergangslösung konzipierte System der politischen Repräsentation nach dem Taif-Agreement zu reformieren. Ohne die Daten ist aber nicht zu sagen, wie viele Menschen im Libanon überhaupt in Armut leben.
Angesichts der Tatsache, dass der Libanon in internationalen Vergleichen hinsichtlich sozialer Ungleichheit regelmäßig auf den hintersten Plätzen landet, während eine entfesselte Marktwirtschaft fortlaufend wenige Gewinner und viele Verlierer produziert, steht allerdings fest, dass es nur vergleichsweise wenige der knapp 6 Millionen Einwohner*innen sein können, die sich sauberes Trinkwasser und durchgehend Strom leisten können – es bleiben Luxusgüter.
Herausforderung des politischen Systems
Die wachsende Unzufriedenheit der libanesischen Bevölkerung mit der Inkompetenz und Selbstblockade der Führung des Landes führte im Jahr 2018, als die Libanes*innen erstmals seit 9 Jahren ein neues Parlament wählen durften, zu einem starken Stimmenzuwachs für ein säkulares Parteienbündnis. Vor dem Hintergrund der großen Unzufriedenheit mit dem politischen System und einem lange schon hohen Maß an politischer Apathie haben die Müllkrise von 2015 und der Ausgang der Kommunalwahlen von 2016 gezeigt, dass sich ein großer Teil der Gesellschaft durch die etablierten politischen Parteien nicht ausreichend repräsentiert fühlt.
2016 gelang es einem überkonfessionellen zivilgesellschaftlichen Bündnis mit Unterstützung einer von Freiwilligen geführten Wahlkampagne unter dem Titel „Beirut Madinati“ (Beirut meine Stadt) erstmals die politischen Eliten der Hauptstadt Beirut herauszufordern, die ebenfalls seit Jahren von denselben politischen Gruppierungen dominiert werden.
Die Teilerfolge der libanesischen Zivilgesellschaft und die anhaltenden breiten Proteste wecken die Hoffnung, dass sich nun endlich etwas ändern wird. Die Proteste sind größer, werden breiter getragen und reißen auch nach Tagen landesweit nicht ab. Während sich Berichte mehren, dass Unterstützer der Amal-Bewegung im Süden versuchen, Menschen gewaltsam am Protestieren zu hindern, hat Hassan Nasrallah, der die mächtige Hisbollah anführt, seinen indirekten Widerstand gegen die Proteste verkündet und möchte an der jetzigen Regierung festhalten. Auch wenn die Hisbollah als stärkster politischer Akteur im Libanon betrachtet werden muss und Nasrallahs Einfluss weit reicht, gehen nach wie vor viele Menschen auf die Straßen, die zum eigentlichen Unterstützerkreis der Hisbollah gezählt werden. Auch sie folgen nicht blind den Anweisungen der politischen Eliten, sondern sind bereit und fähig, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen.
Weil die Hoffnungen, die auf den Erfolgen von Beirut Madinati und ähnlichen Bündnissen vor allem auf ihrem überkonfessionellen Charakter fußen, laufen allerdings auch sie Gefahr, für andere Faktoren sozialer Ungleichheit blind zu sein. Während dies was die Beteiligung von Frauen innerhalb der Bewegung angeht, nicht unbedingt zu befürchten ist, stellen sich angesichts des vergleichsweise hohen Einflusses akademisch-urbaner Milieus beispielsweise durchaus Fragen bezüglich der sozialen Kategorie class.
Dass die derzeitigen Proteste in nahezu allen Bevölkerungsgruppen breiten Zuspruch finden und am Sonntag wieder Zehntausende auf den Straßen waren, weckt aber zumindest die Hoffnung, dass der politische Stillstand überwunden werden kann, während sich die vereinende Erfahrung der tagelangen Proteste in das kollektive Bewusstsein der libanesischen Zivilgesellschaft einprägen und sie in ihrem Aufbau als Rückgrat einer Gesellschaft, die einen Platz für alle hat, unterstützen wird.