Miri Weingarten arbeitet seit Jahren für mehrere israelische Menschenrechtsorganisationen, darunter für den medico- Partner Ärzte für Menschenrechte. Aktuell leitet sie in London JNews, ein neues alternatives jüdisches Medienprojekt. Im Interview berichtet sie über die israelische Reaktion auf den Aufstand in Ägypten.
Wie reagieren Israelis auf die Revolution in Ägypten?
Angst geht um, weil das Bild der Araber vor allem durch die Medien bestimmt wird. Hier sehen wir immer nur die arabischen Führer, ihre Position zu Israel und sogenannte „islamische Bewegungen“, die allesamt als extremistische Handlanger von Terroristen dargestellt werden. Die meisten Israelis sprechen weder Arabisch, noch haben sie – jenseits eines Strandbesuchs auf dem Sinai – jemals ein arabisches Land besucht. Das alltägliche Leben und die arabische Kultur ihrer Nachbarn ist ihnen so fremd, dass sie alles – einschließlich der Palästinenser – lediglich als bedrohliche „arabische Masse“ wahrnehmen. Aber die junge Generation ändert sich auch. Es gibt manche Israelis, die sich mit den Aspirationen der Ägypter identifizieren konnten: Auf einmal sah man in den Demonstranten in Kairo sich selbst und einige forderten angesichts der allgegenwärtigen Korruption sogar ein israelisches „Ägypten“. Für die alte israelische Linke ist der ägyptische Aufstand eine Revolution. Nach langen, bedrückenden Jahren vernehmen sie neue Stimmen, die nicht mehr nur die Phrasen der alten Regime wiederholen, sondern konkrete Veränderung versprechen. Hinzukommt: Weil die Tunesier und Ägypter ihre Wut gegen die eigenen Regime richteten, könnten sie auch die Palästinenser anspornen, sich ihrer eigenen kleinen Autokraten zu entledigen sowie die Besatzung direkt und ohne Vermittlung selbst anzugreifen.
Will Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten bleiben?
Die israelische Regierung präsentierte sich viele Jahre als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ und gewann hierdurch viele Sympathien im Westen. Das war insoweit verlogen, weil sowohl Israel wie auch der Westen zugunsten eigener Stabilität und Ressourcenkontrolle die Demokratie in der Region eher verhinderten. Die Regierung fürchtet sich aus mehreren Gründen vor den aktuellen Veränderungen. In den letzten dreißig Jahren basierte die gesamte politische und militärische Strategie Israels auf dem Friedensvertrag mit der regionalen Supermacht Ägypten. Ohne diese Rückendeckung hätte es keine zwei Kriege im Libanon, keine Niederschlagung der palästinensischen Aufstände und keine Blockade von Gaza geben können. Auch ein etwaiger israelischer Angriff auf den Iran wäre mit ägyptischer Unterstützung ungleich leichter. Jetzt könnte sich eine neue Zukunft abzeichnen, in der die ägyptische Armee, die zweitstärkste im Nahen Osten, bewaffnet und trainiert durch die USA, nicht mehr einem mit Israel alliierten Regime dient, sondern nach freien Wahlen den politischen Willen der Bevölkerung respektieren muss. Das ist die große Unbekannte, die natürlich zu Furcht, ja Panik führt.
Ist die Hoffnung der Einen immer die Katastrophe der Anderen?
Die Zukunft Israels kann nur darin liegen seine Abhängigkeit vom Westen, der seinen Einfluss auf die Region langsam verliert, zu beenden und endlich anzuerkennen, dass wir ein Land im Nahen Osten sind. Das gesamte regionale Machtverhältnis muss neu bestimmt, austariert werden. Wenn wir annehmen, dass die gegenwärtigen Prozesse zu mehr Demokratie führen und damit die arabischen Regierungen den Willen ihrer Bevölkerungen stärker berücksichtigen müssen, so erhöht das nicht die Kriegsgefahr, sondern führt eher zu einer neuen Souveränität gegenüber Israel. Beispielweise dürfte eine neue ägyptische Regierung nicht mehr bereit sein, ägyptisches Erdgas an Israel für ein Drittel des Weltmarktpreises zu liefern oder die Blockade des Gazastreifens mitzutragen. Wir fortschrittlichen Israelis müssen uns jetzt auf den Weg machen. Wir brauchen den direkten Kontakt zur ägyptischen Zivilgesellschaft, damit wir erfahren können, was der Tahrir-Platz für uns bedeutet. Einfach wird das nicht, denn auch jene Israelis, die ihr Leben lang gegen die Besatzung gekämpft haben und das volle Vertrauen ihrer palästinensischen Kollegen genießen, werden von jungen Ägyptern äußerst misstrauisch beäugt. Dennoch ist es unsere einzige Chance, wenn wir künftig als ein alternativer Partner zum israelischen Besatzungsregime wahrgenommen werden wollen.
Ist ein Tahrir-Platz auch in Israel denkbar?
Momentan sieht es umgekehrt aus. Die Furcht, die ich beschrieben hatte, führt bislang nur zu gesteigerter Aggression und Engstirnigkeit. Dabei müssten alle, die bei Verstand sind, eigentlich merken, dass der begonnene Wandel unumkehrbar sein wird. Israel muss sich aus dem militärischen, politischen und sozialen Isolationismus befreien. Schlussendlich werden es die Palästinenser und die Besatzung selbst sein, die Israel daran hindern werden einfach nur weiterzumachen. Wir müssen uns von der Dichotomie eines „barbarischen Ostens“ und einer „westlichen Zivilisation“ befreien. In einer Konstellation, in der sich Menschen, die Gerechtigkeit wollen, gegen autoritäre Regime stellen, können auch wir unseren Platz auf der „richtigen Seite“ der Geschichte finden. Eine gemeinsame Zukunft kann nur jenseits der aktuellen konfessionellen Stammesidentität und strukturellen Ungleichheit liegen.
Das Interview führte Tsafrir Cohen