Seit über 20 Jahren setzt sich Frau P. für die Rechte von Mädchen und Frauen ein. Als Lehrerin und Direktorin einer Mädchenschule sowie als Aktivistin in verschiedenen Frauenrechts-Organisationen und zuletzt Mitbegründerin eines Protestnetzwerks gegen die Taliban hat sie sich leidenschaftlich dem feministischen Kampf für Selbstbestimmung von Frauen verschrieben. Sie träumte von einem Afghanistan, in dem Mädchen und Frauen ein unveräußerliches Recht auf Bildung, auf freie Heiratswahl und Arbeit, auf politische und öffentliche Mitbestimmung und Repräsentation besitzen. Sie träumte von der Befreiung der afghanischen Frauen – knapp zwei Jahre nach der Machtübernahme durch die Taliban ist dieser Traum einer totalitären, misogynen Dystopie gewichen.
Heute hat sie alles verloren, für das sie ihr Leben lang gekämpft hat. Traumatisiert von der physischen Gewalt durch die Taliban, von unzähligen Todesdrohungen per Anruf oder Whatsapp-Nachricht, der Verhaftung früherer Kolleg:innen und der angedrohten Zwangsverheiratung ihrer 17-jährigen Tochter versteckt sich Frau P. seit Monaten in Todesangst mit ihren Kindern in Mazar-e Sharif bei den Wenigen, denen sie noch vertraut.
Obwohl sie sich lange schwor, niemals aufzugeben, ist ihre letzte Hoffnung heute die Aufnahme in Deutschland über das Bundesaufnahmeprogramm (BAP). Die Aussetzung der Visaverfahren durch die Bundesregierung hat diese Hoffnung fast erstickt – denn sie weiß nicht, wie lange sie sich noch verstecken kann, bis die Taliban sie finden. Die etlichen Verzögerungen und Hürden des BAP setzen ihr Leben aufs Spiel. Mit jedem Tag, den sie ausharren muss, steigt die Gefahr.
Sie widmete ihr Leben dem Widerstand gegen die Unterdrückung von Frauen…
Geboren Mitte der 80er Jahre in Baghlan* (Ort geändert aus Sicherheitsgründen) erlebte Frau P. als Teenagerin die Gräuel des Bürgerkriegs sowie den Aufstieg und die grausame Herrschaft der Taliban. Während Mädchen und Frauen von den Taliban im ganzen Land weggesperrt, entrechtet und zu Menschen zweiter Klasse gemacht wurden, schwor sich Frau P. ihr Leben dem gewaltfreien Widerstand gegen die Unterdrückung von Frauen zu widmen. Als wissbegierige junge Frau und Lehrerin sah sie Bildung als Schlüssel zur Selbstermächtigung von Mädchen, um ihr Leben selbstbewusst in die eigene Hand zu nehmen und ihre Zukunft selbstständig und frei zu gestalten. Sie motivierte ihre Schülerinnen, ihre Schulbildung bis zum Abitur fortzusetzen und ein Studium zu beginnen.
Angetrieben von ihren feministischen Idealen vernetzte sich Frau P. immer weiter innerhalb der afghanischen Zivilgesellschaft, trat verschiedenen Vereinigungen bei, kooperierte mit diversen Organisationen und staatlichen Institutionen, gründete eigene Initiativen und übernahm wichtige Positionen in NGOs. Auf diese Weise machte sie sich überregional einen Namen als angesehene Frauenrechts-Aktivistin – so erhielt sie bspw. eine Ehrung des Präsidenten, wurde für ein politisches Amt nominiert und nahm mehrmals als Vertreterin bei landesweiten Friedensverhandlungen teil.
… und wurde zum Ziel für Extremisten
Zugleich avancierte sie in konservativen und extremistischen Kreisen immer mehr zur verachteten Person – öffentlich als „Ungläubige“ denunziert, als „Kollaborateurin des Westens“ und „Spionin“ verunglimpft, wurde sie immer wieder zur Zielscheibe von Einschüchterung und gewaltsamen Angriffen gegen sie. So konnte sie sich im Herbst 2015 in letzter Minute bei Nachbarn verstecken, als eine Gruppe Mullahs ihr Haus attackierten und dort einzubrechen versuchten. Zugleich waren sie und ihre Kinder der Gewalt ihres eigenen Mannes ausgesetzt, der sich ihrer Arbeit heftig widersetzte und versuchte, ihrer Tochter die Ausbildung zu verweigern. Als die häusliche Gewalt unerträglich wurde und er drohte, die damals erst 12 Jahre alte Tochter zu verheiraten, beschloss sie, ihn zu verlassen und ihre Kinder allein aufzuziehen.
Doch obwohl sie als alleinerziehende Mutter und Aktivistin zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt war, hielt sie umso beharrlicher an ihren Zielen fest. Als die Taliban im Sommer 2021 nach und nach die Macht im Land übernahmen, war sie federführend bei der Bildung eines landesweiten Netzwerks von Frauenrechtsaktivistinnen, das gegenseitige Unterstützung und zahlreiche Protestaktionen organisierte. Wenngleich die Repression der Taliban gegen die Aktivistinnen zunahm, entschied sich Frau P. zusammen mit ihrer Gruppe im Untergrund weiterzuarbeiten und Safe Spaces für Frauen aufzubauen.
Die Taliban zwingen sie zur Zwangsheirat ihrer Tochter
Doch ihr anhaltender Aktivismus blieb nicht unbemerkt - immer häufiger erhielt sie Drohanrufe von Unbekannten, die sich als „Mujaheddin“ ausgaben, und sogar vom Taliban-Gouverneur aus Baghlan selbst. Im Frühling 2022 wurde sie zuhause von zehn Taliban aufgesucht und in das Büro des Gouverneurs geladen, wo sie schwere Einschüchterungen erleiden musste, verhaftet und in einer Zelle brutal zusammengeschlagen wurde. Nach zwei Tagen der Misshandlungen wurde sie durch die Bürgschaft von Ältesten des Bezirks freigelassen. Auch wenn diese die Zwangsverheiratung von Frau P. vermeiden konnten, zwangen die Taliban sie, dafür ihre Tochter zur Heirat mit einem Talib-Kämpfer zu übergeben. Die einzige Bedingung, die sie aushandeln konnten, war, damit bis zur Volljährigkeit ihrer Tochter zu warten.
Nach ihrer Freilassung veranlasste Frau P. sofort, dass ihre Kinder bei Freunden in Mazar-e Sharif unterkommen, während sie in Baghlan blieb, um dem verhängten Hausarrest nachzukommen. Als jedoch im vergangenen Winter einige ihrer Mitstreiterinnen von einer Verhaftungswelle der Taliban heimgesucht wurden, beschloss sie kurzerhand, selbst zu fliehen. Später erfuhr sie, dass mehrere der Frauen seitdem verschwunden sind, während andere vergewaltigt wurden.
Auf dem Weg nach Mazar-e Sharif wurde sie an einem Kontrollpunkt festgenommen, als man ihren Namen auf einer Fahndungsliste fand. Sie wurde in ein Verhörzentrum gebracht, wo sie so schwer misshandelt wurde, dass sich irgendwann Älteste aus der Region einschalteten – denn es sei eine Schande, eine Frau zu töten. Sie handelten aus, Frau P. in ein Krankenhaus zu bringen, aus dem sie es schaffte, nach Mazar-e Sharif zu ihren Kindern zu fliehen.
Sie wurde verhaftet und schwer misshandelt – jeden Tag hat sie Angst, dass die Taliban sie finden
In der Zwischenzeit wurde ihr Haus in Baghlan beschlagnahmt, zahlreiche Verwandte sowie ehemalige Kolleg:innen wurden seither von den Taliban verhört und nach dem Aufenthaltsort von Frau P. befragt. Nachdem ein Bekannter von ihr ein Dokument, das zur Einreichung des Antrags für das BAP benötigt wird, für sie von einer Behörde in Mazar-e Sharif beglaubigen ließ, wurde dieser zwei Tage danach von Taliban zuhause aufgesucht und zusammengeschlagen. Außerdem erhält sie seit einigen Wochen trotz neuer Nummer wieder vermehrt Drohanrufe und -nachrichten, auch der Gouverneur von Baghlan rief sie wieder an und teilte ihr mit, dass sie sie suchen – sie solle sich umgehend stellen oder sie würde mit dem Tod bestraft. Anfang des Monats wurde ein früherer Kollege inhaftiert und in ein berüchtigtes Folter-Gefängnis in Kabul gebracht.
Um ihre Kinder zu schützen, versteckt sie sich seitdem alleine bei einer ehemaligen Kollegin in Mazar-e Sharif, während sich ihre Tochter um ihre kleinen Brüder kümmert. Frau P. ist schwer traumatisiert und leidet unter Panikattacken aufgrund andauernder Verfolgungsgefahr. Die Gelenke ihrer Arme sind seit der letzten Festnahme schwer geschädigt und konnten nie richtig heilen. Jeden Tag hat sie Angst, dass die Taliban sie finden. Jeden Tag wartet sie auf eine positive Rückmeldung auf ihren Antrag im BAP. Die Aussichten auf ein Leben in Sicherheit sind gering, das weiß sie. Und dennoch träumt sie davon, eines Tages in einem Land zu leben, in dem sie und ihre Tochter ein selbstbestimmtes Leben führen und den Kampf für die Rechte der Frauen Afghanistans gemeinsam in der Diaspora fortsetzen können.
Vincent op ’t Roodt
Dieser Artikel erschien im Rahmen von #RealityCheck, einer gemeinsamen Kampagne von Kabul Luftbrücke, dem Lesben- und Schwulenverband, Artists At Risk und medico international, die zum Ziel hat, die Bundesregierung mit der Realität von Schutzsuchenden aus Afghanistan zu konfrontieren. RealityCheck (kabulluftbruecke.de)