Von Ċetta Mainwaring & Maurice Stierl (Coalition for the El Hiblu 3)
Elf Kinder starben oder verschwanden im Jahr 2023 laut einem UNICEF-Bericht jede Woche bei dem Versuch, das zentrale Mittelmeer zu überqueren. UNICEF schätzt, dass seit 2018 1.500 Kinder im zentralen Mittelmeer gestorben sind – jedoch sei „die wahre Anzahl der verstorbenen Kinder unmöglich zu verifizieren und liege wahrscheinlich sehr viel höher“. Unter diesen jungen Opfern der Grenzpolitik sind unter anderem der zweijährige Alan Kurdi, dessen Leiche 2015 an der türkischen Küste angespült wurde, und die vierjährige Loujin Ahmed Nasif, die 2022 auf einem von maltesischen Behörden ignorierten Boot verdurstete. Vor wenigen Wochen, an Europas externalisierter Grenze, starb zudem die sechsjährige Marie, die gemeinsam mit ihrer Mutter von tunesischen Behörden in die Wüste getrieben und dort dem Tod überlassen worden war.
Auch wenn Politiker:innen den Tod von Kindern regelmäßig als bedauerliche Tragödie bezeichnen, handelt es sich dabei um ein völlig vorhersehbares Ergebnis der EU-Grenzpolitik. Das Fehlen legaler und offener Fluchtwege für Menschen on the move fördert die Schmuggelökonomie und zwingt Menschen zu der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer. Dort wird das bereits hohe Risiko von Schiffbruch und Tod durch die Praxis der unterlassenen Hilfeleistung durch staatliche Behörden, oder auch durch gewaltsame Pushbacks von EU-Mitgliedstaaten noch erhöht. Auch Europas enge Partner, beispielsweise in Tunesien und Libyen, begehen seit Langem ungeheuerliche Gewalttaten gegen Menschen auf der Flucht.
Während unsere Politiker:innen manche dieser Todesfälle beklagen – vor allem, wenn Kinder zu Schaden kommen – erwartet die Überlebenden dieser gefährlichen Fahrten ein anderes Schicksal. Wer ertrinkt, gilt als Opfer; wer überlebt, wird bei der Ankunft an Europas Küsten leicht zum Verbrecher erklärt und kriminalisiert. Kinder und Minderjährige sind da keine Ausnahme.
Seit mehr als drei Jahren solidarisieren wir uns nun mit Abdalla, Amara und Kader. Die drei Jugendlichen kamen im März 2019 in Malta an, nachdem sie mitten im Meer von einem sinkenden Schlauchboot gerettet worden waren. Mit gerade einmal 15, 16 und 19 Jahren erfüllte sich ihr Traum, in Europa anzukommen. Schnell aber wurde ihre Ankunft in Malta für sie zum Alptraum, der ihnen ihre Jugend rauben sollte.
Die drei Jugendlichen waren von Libyen aus in See gestochen, auf einem kleinen, überfüllten Boot, in das bald Wasser eindrang. Die etwa einhundert Menschen an Bord fürchteten, Europa nicht zu erreichen. Sie fürchteten, das Schicksal jener Tausender zu teilen, die im Mittelmeer ums Leben kamen.
Aus Angst wurde Erleichterung, als ein Öltanker, die El Hiblu, das Boot erreichte und die Menschen in Seenot aufnahm. Als sie an Bord kletterten, merkte der Erste Offizier, dass Amara Englisch sprach und zwischen der sechsköpfigen Schiffsbesatzung und den neuen Passagieren übersetzen konnte. Obwohl alle sicher an Bord waren, kam es kurz darauf zu Spannungen. Denn der Tanker wurde von EU-Behörden angewiesen, die Geretteten nach Libyen zurückzubringen, und nahm entsprechend Kurs.
Angesichts der gewaltvollen Erfahrungen, die die Geretteten in Libyen gemacht hatten, brach an Bord eine große Verzweiflung aus. Einige drohten, ins Meer zu springen, um nicht zurückkehren zu müssen. Andere skandierten: „No Libya!“. In dieser Situation bat der Erste Offizier Amara darum, zu übersetzen. Auch Abdalla und Kader halfen dabei, zwischen der verängstigten Crew und den verängstigten Passagieren zu vermitteln.
Drei Jugendliche, die ihre Familien auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen hatten, und sich bis zu diesem Moment nicht kannten, halfen so durch ihre Sprachkenntnisse, eine unübersichtliche Situation friedlich zu lösen: Der Öltanker änderte den Kurs und steuerte gen Norden, weg von der libyschen Küste, in Richtung Malta. Doch noch bevor die El Hiblu in Malta anlegen konnte, hatten die internationale Presse und Politiker:innen wie der damalige italienische Innenminister Matteo Salvini die Situation bereits zu ihren Zwecken instrumentalisiert. Die drei Jugendlichen wurden als Piraten und Entführer diffamiert.
Bei ihrer Ankunft in Malta wurden die drei mehrerer Verbrechen beschuldigt, unter anderem terroristischer Handlungen, der Bedrohung der El Hiblu-Crew und der Entführung des Schiffes – Vorwürfe, die mit lebenslangen Freiheitsstrafen geahndet werden können. Während der ersten Tage in Haft war Amara noch davon überzeugt, dass den Behörden ein Fehler unterlaufen sein musste. Sie würden sicher bald realisieren, dass Übersetzer keine Terroristen sind. Doch kurz darauf die Desillusionierung: Die drei Jugendlichen wurden für knapp acht Monate inhaftiert. Zunächst sogar im Hochsicherheitstrakt des Corradino, einem Gefängnis für Erwachsene, obwohl zwei der Beschuldigten minderjährig waren.
Seit ihrer Entlassung Ende 2019 aus dem Gefängnis müssen die drei strenge Kautionsauflagen einhalten, während das maltesische Justizsystem im Schneckentempo arbeitet. Fast viereinhalb Jahre sind mittlerweile vergangen, und die Generalstaatsanwältin Victoria Buttiġieġ hat noch immer keine formale Anklage gegen die drei jungen Männer erhoben. Gleichzeitig hat sie die Anschuldigungen auch nicht fallen lassen, was die drei und ihre Unterstützer*innen auf Grundlage der vor Gericht präsentierten Beweise seit langem fordern. Das Ermittlungsverfahren zieht sich weiter in die Länge, die monatlich angesetzten Anhörungen werden regelmäßig abgesagt. Diese ständigen Verzögerungen sind ein bewusster Versuch, die drei jungen Männer zu zermürben und ihnen jegliche Hoffnung zu nehmen.
Der Fall der El Hiblu 3 veranschaulicht, wie Zeit instrumentalisiert und als Waffe gegen Menschen on the move eingesetzt wird. Nicht nur auf dem Meer, wo Boote durch verschleppte Rettungsmaßnahmen oft länger als nötig in Seenot sind, sondern auch an Land, wo das Ankommen durch Kriminalisierung um Jahre verzögert oder unmöglich gemacht wird.
Als Unterzeichner der UN-Kinderrechtskonvention hat Malta die Verantwortung, sicher zu stellen, „dass jedes Kind, dem die Freiheit entzogen ist, menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Personen seines Alters behandelt wird.“ Dieser Verantwortung sind die Behörden eindeutig nicht gerecht geworden.
Abdalla, Amara und Kader sind heute als die El Hiblu 3 bekannt. Sie sind durch ein Rechtsverfahren miteinander verbunden, das ihre Jugend überschattet und sie seit über vier Jahren in einem rechtlichen und emotionalen Limbo gefangen hält. Bis heute können sie sich kein Leben in Malta und Europa aufbauen. Ohne jede Sicherheit hinsichtlich ihrer Zukunft, können sie es sich nicht erlauben, jung zu sein. Malta hat ihnen ihre Jugend geraubt.
Aus dem Englischen von Clara Taxis.