Eine Reportage von Susanne U. Schultz
Nicht selten sind auch Malier unter den Toten, wenn ein Flüchtlingsschiff auf dem Mittelmeer
sinkt. Etwa auf jenem, das am 28. Juli 2014 zwischen der Insel Lampedusa und Libyen unterging.
Das Besondere an diesem Unglück war – und das beunruhigte sogar die malische Regierung –, dass 69 der 87 schiffbrüchigen Malier aus dem Kreis Bafoulabé in der westmalischen
Region Kayes stammten. Die jungen Männer, fast alle zwischen 15 und 35 Jahren, waren gemeinsam aus ein paar nebeneinander liegenden Dörfern aufgebrochen. Perspektivlosigkeit in Mali und die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa hatten sie in die Migration getrieben.
Mit ihnen starb diese Hoffnung auch für viele zurückgebliebene Familien in Kayes. Zivilgesellschaftliche Organisationen, allen voran die medico-Partnerorganisation AME gemeinsam mit dem lokalen EMDK (Espace Migration Developpement de Kayes), wurden daraufhin vor Ort aktiv: Sie statteten den betroffenen Familien in Bafoulabé Kondolenzbesuche ab und organisierten Workshops in der Region Kayes, um mehr über die Probleme der Menschen dort zu erfahren und Lösungsansätze zu entwickeln.
Bei meinem Besuch in Kayes, vier Monate nach dem Schiffsunglück, höre ich oft, Kayes sei schon immer „die Region der Migration in Mali“ gewesen. Sie ist nicht nur von malischen Auswanderern, Abgeschobenen und Rückkehrern geprägt, sondern ist in den letzten Jahren auch verstärkt zu einem Drehkreuz und Zuwanderungsort für Menschen aus anderen Ländern geworden, von denen viele in den vier Goldminen der Region tätig sind. Madiba Siby von der AMRK (Association des Migrants de Retour de Kayes), einer Organisation, die ebenfalls mit der AME kooperiert, erklärt: „Achtzig Prozent des malischen Goldes kommt von hier, aber die Leute gehen trotzdem weg. Die ausländischen Firmen, die hier den Goldabbau betreiben, beschäftigen lieber Nigerianer, Ghanaer oder Togolesen.“ Da ihnen der Zugang zum industriellen Goldabbau verschlossen ist und sie auch sonst keine Einkommensmöglichkeit haben, sehen viele junge Malier im Moment nur eine Alternative zur Auswanderung: der informelle Goldbergbau.
Im südlichen Teil der Region Kayes sind in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren zahlreiche Goldgräberdörfer und -städte entstanden. Wie Magnete ziehen sie junge Männer an. Die körperliche Arbeit im Goldabbau ist hart und beeinträchtigt Gesundheit und Umwelt. Die Goldsucher steigen in tiefe Schächte hinab und filtern mit Hilfe von toxischen Chemikalien die herauf geholte Erde. Nicht selten fordert die informelle Goldsuche Menschenleben.
Das Dorf der Auswanderer
In Marená, einem kleinen Dorf rund sechzig Kilometer von Kayes-Stadt entfernt, sind etwa
dreißig Prozent der Bevölkerung irgendwo im Ausland. Der Einfluss der Diaspora ist allgegenwärtig.
Überall ragen leuchtend bunt bemalte Betonhäuser über die einfachen Lehmbauten und Strohhütten hinaus. Madiba hatte auf dem Weg ins Dorf bereits angekündigt: „Hier siehst Du, wie die Migration Neid produziert. Die jungen Leute denken: Der Nachbar hat es geschafft, der ist nach Frankreich gegangen und kann sich jetzt was leisten. Das will ich auch.“
Der Bürgermeister von Marená, selbst ein freiwilliger Frankreich-Rückkehrer, berichtet, dass es heute eher mehr Auswandernde gebe als noch vor einigen Jahren, und beklagt: „Europa ist mörderisch geworden und unsere Politiker tun nichts. Die Menschen sterben, unsere Jungen und Mädchen ertrinken im Mittelmeer!“ Man müsse vor Ort investieren, betont er und verweist stolz auf das Gesundheitszentrum, die Schule und die neue Moschee, die mit Unterstützung der malischen Diaspora geschaffen worden seien. Von den jungen Männern, mit denen wir danach in einer kleinen Werkstatt in der Dorfmitte sprechen, hören wir nichts mehr vom positiven Einfluss der Diaspora auf Marená. Vier der Anwesenden waren vor einigen Monaten auf dem Weg nach Italien in Libyen festgehalten worden. Jetzt sind sie unfreiwillig wieder in ihrem Dorf. Drei von ihnen waren gemeinsam mit 160 anderen auf einem Boot, das auf dem offenen Meer kurz vor Lampedusa auseinanderbrach.
Knapp vor dem Untergang wurden die Insassen von der libyschen Küstenwache eingesammelt und zurück nach Libyen gebracht: „Wir waren da in einem Camp, drei Tage ohne Essen und Trinken. Dann hat uns der Schmuggler zurück nach Tripolis gebracht“, berichtet einer von ihnen. „Dort entschieden wir, zurück nach Marená zu gehen.“ Bei dem gemeinsamen Aufbruch der insgesamt zehn jungen Männer in Richtung Europa sei das ganze Dorf dabei gewesen. Ganz ähnlich muss es in Bafoulabé gewesen sein, wo es sogar 69 waren.
Nun sind sie zurück. Die meisten wollen erst einmal bleiben und ihren Familien bei der Ernte helfen. Viele wollen dann aber auf jeden Fall wieder in die Ferne, auch wenn es ihnen lieber wäre, bei ihren Familien zu sein. Bis sie die finanziellen Mittel für die Ausreise zusammen haben, wird es allerdings dauern. „Meine Familie und ich haben alles verkauft, um meine Ausreise zu finanzieren. Jetzt, nachdem ich zurück bin, haben wir nichts mehr“, erklärt ein großer, zurückhaltender und doch bestimmter junger Mann. Er würde gerne arbeiten, als Gartenbauer, wie vor seiner Abreise, doch er hat kein Geld für eine Bewässerungspumpe.
Nach der Rückkehr ist alles noch schlimmer als vorher. Eine Ausreise ist teuer, es müssen Schmuggler und Vehikel bezahlt werden. Oft dauert es Wochen und Monate, bis jemand sein Ziel erreicht. Auch aus der Aufarbeitung des Schiffsunglücks in Bafoulabé wird klar: Keines der Opfer gehörte zum ärmsten Teil der Bevölkerung. Zum Schiffsunglück von Bafoulabé und den vielen Toten im Mittelmeer sagen die Männer einstimmig: „Solche Tragödien gehören zum Leben. Wenn man sich entschieden hat loszuziehen, kann es auch sein, dass man stirbt. Aber das macht uns keine Angst.“ Madiba weiß aus Erfahrung: „Eine längere Rückkehr von Abgeschobenen und unfreiwillig Zurückgekehrten gibt es tatsächlich selten. Die meisten gehen nach einer Weile wieder los.“ Gefangen in einem ausweglosen Kreislauf von hoffnungsfrohem Aufbruch und enttäuschter Rückkehr nehmen sie den Kampf mit dem europäischen Grenzregime immer wieder auf.
Die Verantwortung der Regierung
Abgesehen von einem verklärten Bild von Europa, das Malier aus der Diaspora vermitteln, wenn sie ihren relativen Reichtum zur Schau stellen, ist es vor allem auch die konkrete Einwirkung der Zielländer vor Ort, die die Menschen in die Migration treibt. Etwa wenn internationale Firmen die Ressourcen in Kayes ausbeuten, ohne dass die lokale Bevölkerung profitiert. Solange sich daran nichts ändert, wird es auch weiterhin kollektiv organisierte Ausreisen und spätere Schiffsunglücke im Mittelmeer geben.
Im Fall von Bafoulabé ist eindrucksvoll zu sehen, wie die Zivilgesellschaft auf den dramatischen Vorfall reagiert hat. Mohammed A. Niang von der EMDK erklärt: „Unsere Arbeit ist noch nicht zu Ende. Wir sind dabei, aus den in den Workshops erarbeiteten Empfehlungen einen Aktionsplan zu entwickeln und einen Forderungskatalog an die Entscheidungsträger in der malischen Politik zu formulieren. Die Ausbildungs- und Einkommensmöglichkeiten für Malier müssen verbessert werden, aber auch der konkrete Schutz der Menschen und ihrer Rechte.“ Und sein Mitstreiter Ibrahim Sarr meint: „Auch der Staat hat Verantwortung an dem Unglück. Er ist gefordert, Migrationswillige zu informieren und ihnen Schutz und Orientierung zu bieten.“ Zudem sollten rückkehrende Migranten unterstützt und ihre Bedeutung für Mali wertgeschätzt werden. Denn eins ist klar: Man wird die Migration nicht stoppen, aber man kann die Risiken der Migration mindern und die Lebensbedingungen derer verbessern, die bleiben wollen.
Besonders in Afrika ist Migration ein Indikator für die soziale Ungleichheit der Globalisierung. Die medico-Partner in der Region halten niemanden auf, versuchen aber auf die Gefahren einer solchen Reise hinzuweisen und kümmern sich um all jene, die zurückgeschickt wurden. In Mali versorgt die Selbsthilfeorganisation der Ausgewiesenen AME die malischen Abgeschobenen des europäischen Migrationsregimes.
Weil Bamako auch das Drehkreuz der zentralafrikanischen Migration ist, kümmert sich die ARACEM, ebenfalls eine Assoziation von Abgeschobenen, um die nicht malischen Abgeschobenen im Land. Der medico- Partner Amadou M‘Bow von der Vereinigung für Menschenrechte (AMDH) in Mauretanien kritisierte jüngst im West Africa Democracy Radio die afrikanischen Führer als Hauptverantwortliche für die Flüchtlingskrisen.
Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 2/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen internal link in current>Jetzt abonnieren!