Afghanisches Reality-TV

20.08.2004   Lesezeit: 6 min

Kabul im Juni 2004. Ein extremer Kontrast nach vier Tagen bei den afghanischen Entminern von OMAR und MDC. Der erste Kontakt mit afghanischen Frauen. Eine sehr freundliche und offene Atmosphäre, aber zugleich eine große Anstrengung, weil die Englischkenntnisse so begrenzt sind, dass ein weitreichenderes Gespräch nur schwer zu führen ist.

Short Cuts in Kabul

Versammelt sind ca. 25 der 33 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Filmkurses bzw. der beiden Kurse, denn es gibt einen für Frauen und einen für Männer. Diese Kurse haben Ende Februar begonnen. Sie finden 3 mal pro Woche von 13:30 bis 15:30 statt. Sie dauern insgesamt sechs Monate. Die erste Hälfte umfasst Theorie und Praxis des Drehbuchschreibens, der Regie und des Filmschnitts usw. Anschließend wird an einem konkreten Filmprojekt gearbeitet. Aktuell ein Kurzfilm (20-25 Minuten) mit dem Titel »The son of the mother« (so lautet ihre Übersetzung). Es geht um einen ca. 10jährigen Jungen, der zur Schule geht, dort aber häufig einschläft, weil er zuvor noch auf dem Basar arbeitet. Er wäscht Autos. Seine Mutter ist krank und hat kein Geld. Einen Vater gibt es nicht. Sie zeigen mir die »cuts« einer Szene in der Schule. In einem Raum von Kabura wird gerade an einer weiteren Szene gearbeitet. Abends bei dem Jungen zu Hause. Die Mutter liegt krank auf einer Matratze. Neben ihr die Tochter. Der Junge liegt auf dem Boden und macht seine Schulaufgaben beim Licht einer kleinen Petroleumlampe. Die Mutter sagt ihm, er solle aufhören und die Lampe ausmachen, weil sie kein Geld haben, um Petroleum zu kaufen. In dem kleinen Raum sind 20 Leute, drei Ausbilder, die Schauspieler und Kursteilnehmerinnen. Zwei Frauen filmen, ein Jugendlicher bedient die Filmklappe. Geplant ist eine weitere Szene in der Schule und eine auf dem Basar. Im Juli und August sollen dann weitere Kurzfilme produziert werden.

**Emanzipation mit der Kamera **

Ich werde aufgefordert, mit den Kursteilnehmern zu sprechen, die sich im »Klassenzimmer« eingefunden haben. Ich frage sie, zu welchen Themen sie gerne Filme drehen würden. Sie antworten schnell: über das Verhältnis zwischen Mann und Frau, über die afghanische Gesellschaft, über ihr Leben als Flüchtlinge. Die Übersetzung fällt meist deutlich knapper aus als die teilweise erheblich längeren Ausführungen in Dari. Sie alle wollen, dass Afghanistan wieder vorankommt und aufgebaut wird nach all der Zerstörung. Sie wollen einen eigenen Beitrag dazu leisten. Auch einzelne Frauen äußern sich, wenngleich die männlichen Teilnehmer dominieren. Die Familien der jungen Frauen haben sich ihrer Teilnahme nicht widersetzt. Ich frage, woher sie von dem Kurs erfahren haben. Die Information wurde über afghanische NGOs, die Universität, Schulen usw. gestreut; die Anwesenden kommen aus diesem Spektrum. Bemerkenswert finde ich auch, dass eine Frau und ein Mann aus dem Ministerium für Frauenangelegenheiten teilnehmen. Als die Ministerin von dem Kurs erfuhr, hat sie Khara, den Direktor von Kabura, gefragt, ob diese beiden Mitarbeiter teilnehmen könnten. Das Ministerium wolle für seine Anliegen auch Filme produzieren. Immer wieder wird medico für die Unterstützung gedankt. Ein Teilnehmer sagt, dass sie mehr Kameras bräuchten. Khara wirft ein, dass sie mittlerweile doch vier Kameras hätten. Am Ende wird deutlich, dass erhofft wurde, nach dem Kurs könne jeder Teilnehmer eine eigene Kamera erhalten. Ich erwidere, dass medico eine eher kleinere Organisation sei und nur begrenzte Mittel für ein solches Projekt zur Verfügung stellen könne. Ein anderer Teilnehmer (der Mann vom Frauen-Ministerium) sagt, wir sollten ihnen ermöglichen, zu einer Fortbildung nach Deutschland zu kommen. Später werde ich noch mehrfach darauf angesprochen, was denn ein Visum für Deutschland kosten würde.

Die ganze Zeit wird gefilmt. Jede Möglichkeit wird für das praktische Training genutzt. Ich empfinde den Umgang zwischen Kursleitern und Kabura-Staff und den Teilnehmern sehr angenehm und offen. Ein teilweise chaotisches Treiben, Leute kommen und gehen, sowohl während der Begrüßungsrunde, wie auch beim anschließenden Gespräch mit Khara. Manchmal reden mehrere Leute wild durcheinander. Unklar bleibt, was davon übersetzt wird, auch was von meinen Ausführungen zurückübersetzt wird. Khara versucht sich zwischendurch immer wieder in Englisch, was ihm jedoch sehr schwer fällt.

Probleme des Verstehens

In dieser unübersichtlichen Situation fällt es mir schwer, den Übergang zur Geldübergabe zu finden. Ich habe die zweite Rate, also USD 5.500 in bar dabei, worüber ich Khara vorab per E-Mail informiert hatte. Ich bin mir nicht sicher, wann der geeignete Anlass dafür gekommen ist. Denn ich will nicht einfach so das Geld zücken. Ich versuche den Übergang und frage nach der Abrechnung für die erste Rate. Khara sagt, er würde sie uns zuschicken. Ich erwidere, es sei doch einfacher, sie mir zu übergeben, solange ich in Kabul bin. Er wiederholt das »will send« und ich bin mir unsicher, ob er damit vielleicht meint, dass er sie mir hier in Kabul zukommen lassen wird. Ich sage ihm, wie lange ich noch hier sein werde, und dass er sie doch für mich bei unseren Entminern von OMAR abgeben könnte. Dann spreche ich meine E-Mail an und dass ich ja auch die 2. Rate für sie dabei hätte. Ich gebe ihm den Umschlag und die Empfangsbescheinigung, die er mir unterschreiben muss. Er hat verstanden und schickt den übersetzenden Teilnehmer und mich zu den Studenten nach draußen, da sie sich von mir verabschieden wollten. Als wir zurückkommen, ist die Bescheinigung unterschrieben.

Zu keinem Zeitpunkt wurde mir gesagt, wie sich Kabura den Verlauf meines Besuchs vorstellt. Da ich weiß, dass in der Regel um 16 Uhr überall Schluss gemacht wird, übernehme ich die Initiative und leite die Verabschiedungsrunde ein. Es ist doch schwer, wenn man weder mit der Sprache noch den Gewohnheiten vertraut ist. Wie auch bei anderen Anlässen bleibt der Zweifel, ob man vielleicht unhöflich war, jemanden düpiert hat.

Zuvor hatte ich noch nachgefragt, ob sie nun auch von anderen NGOs unterstützt werden. Sie haben einen Antrag eingereicht aber noch keine Rückmeldung bekommen. Auch den Studenten hatte ich gesagt, dass es wichtig sei, weitere mögliche Hilfsorganisationen zu kontaktieren und sie auf ihr Projekt aufmerksam zu machen. Es sei immer besser, mehrere Unterstützer zu haben. Wenngleich ich nur zwei Stunden bei Kabura war, bin ich erschöpft, denn das Sprechen und Zuhören ist sehr anstrengend, wenn die sprachliche Kommunikation so schwierig ist. Der Kontrast zu unseren Partnern OMAR und MDC ist auffällig. Sie sind den Umgang mit westlichen NGOs und Gebern gewohnt. Bei Kabura habe ich plötzlich den Eindruck, inmitten des vorsichtig tastenden, seine Sprache suchenden intellektuellen Milieus Afghanistans angekommen zu sein. Im Denken hat die Taliban-Herschaft eine Wüste aus Verboten hinterlassen. Da sind vier medico-Kameras, ein Video-Gerät und die wenige Hilfe, die wir leisten können, mehr als ich für möglich gehalten hätte.

Dieter Müller

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