Im Vorfeld der Parlamentswahlen eskaliert erneut die Gewalt. Betroffen sind davon auch medico-Partner
In Afghanistan stehen Wahlen bevor. Ein solches Ansinnen verheißt im Land am Hindukusch nichts Gutes. Denn alles, was die fragile Machtbalance zwischen Kabuler Regierung, Provinzgouverneuren, Warlords und all den anderen nationalen und internationalen Akteuren in Frage stellt, führt sogleich zu einer Eskalation der Gewalt. Davon betroffen sind in erster Linie die Zivilbevölkerung und zivile Organisationen, die zwischen den unklaren Frontlinien versuchen, Überlebensbedingungen zu sichern und demokratische Handlungsspielräume zu erringen. Zum Beispiel die afghanischen Entminungsorganisationen, deren Arbeit auch von medico international gefördert wird.
Seit die Nachrichten über die Koranschändungen im US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo um die Welt kreisten und klar wurde, dass man an der umstrittenen Durchführung von Parlamentswahlen in Afghanistan im Herbst festhalten wird, ist die ohnehin gefährliche Arbeit der Minenräumer auf dramatische Weise riskant geworden. Mehrfach wurden die Entminungsorganisationen im Mai angegriffen. Der medico-Partner Mine Detection Dog Center (MDC) musste zum Beispiel erleben, wie drei neue Fahrzeuge in Wardak in Brand gesetzt wurden. Am 12. Mai wurde ein Team angegriffen, das sich auf dem Rückweg in die Unterkunft schon in Sicherheit wiegte. Auf einer regulären Straße gerieten sie in einen Hinterhalt. Eine höchstwahrscheinlich mit Fernzünder gezielt eingesetzte Mine sprengte ein Fahrzeug der Gruppe in die Luft. Alle Insassen kamen ums Leben: der Fahrer, der Sanitäter und der Gruppenführer. Zwei Wochen später noch ein Attentat auf der zentralen Verbindungsachse zwischen dem an den Iran grenzenden Nordosten, der Provinz Herat, und dem nach wie vor im Kriegszustand befindlichen Süden, der Provinz Kandahar. Erneut starben zwei Minenräumer.
Terrorbekämpfung durch Terrorförderung
Minenräumer gelten genauso wie beispielsweise afghanische Wahlhelferinnen, die Frauen zur Beteiligung an den Abstimmungen gewinnen wollen, als "weiche Ziele". Da sich die ausländischen Streitkräfte gut schützen und nicht leicht zu gefährden sind, geraten die zivilen Organisationen ins Blickfeld des Konflikts. Sie werden als Symbole einer von außen oktroyierten Politik betrachtet. Ob sie es tatsächlich sind, spielt dabei keine Rolle. Die Spielräume für die große Mehrheit der Afghanen, die sich zwischen den Fronten bewegen, werden so immer kleiner.
Geschuldet ist diese Situation einer Politik des ausländischen Interventionismus, dessen Leidtragende die Afghanen bereits seit Jahrzehnten sind. Das Muster ist immer das gleiche: All die Länder, die als Interventionsmächte oder Anrainerstaaten in Afghanistan aktiv sind, verfolgen zuerst ihre jeweils partikularen Interessen. So auch dieses Mal. Darunter leiden zum Beispiel die Pläne, die auf den UN-Konferenzen zu Afghanistan auf dem Petersberg diskutiert worden sind. Die USA etwa versuchen, eine Zentralregierung zu stabilisieren, halten sich aber zugleich auch die Option einer Einflussnahme über die Warlords offen. In gewisser Weise ist der Kontakt mit den Kriegsherren auch notwendig, schließlich wurde der Krieg gegen die Taliban mit Hilfe der Warlords gewonnen und müssen diese nun mit Geld, Privilegien oder Posten ruhiggestellt werden. Auf diese Weise entpuppt sich der sogenannte "Anti-Terror-Krieg" als höchst paradox. Ihm geht es eher um Machterhalt als um Terrorbekämpfung. Man bekämpft den Terror, indem man ihn gleichzeitig fördert. Um die afghanischen Warlords einzubinden, wurde ihnen die Wiederbelebung des Drogengeschäfts gestattet, obwohl es doch der Drogenhandel ist, der die ganze Region destabilisiert und die Konflikte schürt. Man schreibt Wahlen aus als Beweis für die vorgebliche Demokratisierung und weiß doch nur zu gut, dass die Parlamentswahlen die Macht derer stärken werden, die man angeblich bekämpft. In dem Klima der Unsicherheit und des Terrors, das sie häufig selbst schüren, können Provinzfürsten und Warlords davon ausgehen, dass sie die Wahlen in ihren Einflussregionen kontrollieren können. Eine Chance auf freie Meinungsäußerung werden deshalb auch die Parlamentswahlen im Herbst nicht bieten.
Stärkung der Warlords
Im Gegenteil: Afghanische Projektpartner von medico befürchten, dass die Provinzgouverneure und Warlords gestärkt daraus hervorgehen werden. Im Windschatten ihres Terrors. Dieses Patt des Schreckens hat auch ökonomische Folgen. Nichts bewegt sich in Afghanistan, nur der Drogenanbau und -handel sind boomende Sektoren. Das Land rangiert auf den allerletzten Plätzen in der Länderliste für Wirtschaftsentwicklung. Hinzu kommen die direkten Folgen des Krieges. Was in der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen wird, ist Alltag der Minenräumer: die Beseitigung der Hinterlassenschaften aus diesem Krieg. 12 km von Herat entfernt räumt beispielsweise der medico-Partner OMAR ein Tal, das mit Bomblets der von den USA eingesetzten Streubomben übersät ist: eine 200.000 Quadratmeter große Fläche (entspricht 30 Fußballfeldern) voll von BLU-97, geschätzte Blindgängerquote 50 Prozent. Bislang gaben die Produzenten dieser Streubomben eine Blindgängerquote von lediglich 5-7 Prozent an. Lange nach dem offiziellen Ende der Intervention starben in dem Gebiet sechs Zivilisten und fünf weitere wurden schwer verletzt. Seit dem 1. Februar werden nun endlich die Kriegshinterlassenschaften beseitigt. In diesen drei Monaten waren es 511 der hochexplosiven BLU-97. Die Beseitigung der Sprengkörper gilt auch unter Fachleuten als extrem gefährlich, da schon geringste Erschütterungen die Explosion der Blindgänger auslösen. Zudem muss mit Splitterflug im Umkreis von 300 Metern gerechnet werden. Nur speziell geschulte Minenräumteams dürfen die BLU-97 sprengen. Wie schnell es dennoch zu einem Unfall kommen kann, zeigte sich Anfang Mai, als ein Sektionsleiter der Minenräumer vor Ort stolperte und dadurch ein Bomblet zur Detonation brachte. Er verlor seinen Arm und weitere Minenräumer wurden durch herumfliegende Splitter verletzt.