Bangladesh: Die Pillendreher von Dhaka

18.08.2006   Lesezeit: 10 min

Alternative Wege der Medikamentenversorgung. Wie ein genossenschaftlich organisiertes Gesundheits-Unternehmen preiswerte Arzneimittel produziert und nebenbei mit den Mythen der Pharma-Multis aufräumt.

Golam Mohammad lässt sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen: "Kein Problem! Das machen wir." Frei von eitler oder gar auftrumpfender Selbstgefälligkeit erläutert er, wie einfach es ist, Arzneimittel herzustellen: "Man braucht ein Rezept, der Rest ist wie beim Kochen." Dr. Mohammad weiß, wovon er spricht. Seit Jahren leitet er die Firma "Gonoshasthaya Antibiotic Limited" (GAL), die in Bangladesh mit großem Erfolg pharmazeutische Wirksubstanzen und Antibiotika produziert. Der Betrieb ist Teil von "Gonoshasthaya Kendra", die fraglos zu den interessantesten NGOs weltweit zählt. Daran ändert auch der Name nichts, der zwar in unseren Ohren reizvoll klingen mag, im Bengalischen aber schlicht "Volksgesundheitszentrum" bedeutet.

Wir treffen Dr. Mohammad auf dem weitläufigen Campus von "Gonoshasthaya Kendra", kurz: GK, das in Savar, unweit der Hauptstadt Dhaka liegt. Die unprätentiöse Art des Pharmakologen spiegelt sich auch in seinem Büro. Nichts von schicker Möblierung oder postmoderner Kunst, wie sie auf den Leitungsetagen einschlägiger Pharma-Multis zu finden ist. Stattdessen die Insignien eines Praktikers: Geräte zur Qualitätskontrolle, Aktenschränke, Schutzkittel und auf dem Schreibtisch ein Stapel abgegriffener Mappen, deren Deckblätter noch die generischen Namen von Medikamenten, hier und da auch die dazugehörenden chemischen Formeln erkennen lassen: Ciprofloxacin, Nevirapin, Etambutol , ….

Hinter den mythisch anmutenden Namen stehen Dinge, die für Menschen in vielen Teilen der Welt allerdings von sagenhafter Bedeutung sind. Man weiß, dass es sie gibt, aber kaum jemand hat sie je zu Gesicht bekommen. Glücksgüter eben, die nur wenigen Privilegierten vorbehalten zu sein scheinen. Doch die Namen symbolisieren nicht besondere göttliche Gunst, sondern verweisen auf an sich Alltägliches. Sie stehen für Antibiotika, Arzneimittel gegen HIV/AIDS, Präparate zur Behandlung von Tuberkulose - allesamt Medikamente, die als unentbehrlich gelten, zu denen aber ein Drittel der Weltbevölkerung keinen gesicherten Zugang hat.

Ginge es nach Dr. Mohammad, dann müsste das nicht so sein. "Arzneimittel herzustellen, ist alles andere als eine Geheimwissenschaft. Was man braucht, sind ein paar chemische Rohstoffe und Informationen über die Herstellungsverfahren. Haben wir die, können wir selbst die neuesten Präparate nachbauen. Wir schauen uns die Formel an, überlegen, wie wir einzelne Molekülgruppen zueinanderbringen können, und klären schließlich, wie die bei der Herstellung auftretenden chemischen Reaktionen zu kontrollieren sind. Aber das ist alles heutzutage lösbar."

Viele der dringend in der Welt benötigten Arzneimittel sind patentgeschützt. Patente sichern Firmen ein exklusives Vermarktungsrecht und bieten sowohl Anreiz als auch Ausgleich für die meist kostspielige Erforschung und Entwicklung von Medikamenten. Wer Patente für Arzneimittel hält, kann das, was er zuvor womöglich investiert hat, leicht wieder amortisieren und darüber hinaus sehr viel Geld verdienen. Wie andere Monopole auch ermöglichen es Patente, die Preise zu diktieren.

Solche Regelungen wären dann kein Problem, wenn alle, die patentgeschützte Medikamente benötigen, sich diese auch leisten könnten. Bekanntlich ist aber genau das nicht der Fall. Nahezu ein Drittel der Weltbevölkerung muss mit weniger als 2 Dollar am Tag auskommen. Und das, was die ärmsten Länder aus öffentlichen Mitteln für Gesundheit aufwenden können, liegt auch nur bei 10 - 20 Dollar pro Kopf und Jahr. Die Behandlung allein mit Lopinavir/Norvir, einem AIDS-Mittel der zweiten Generation, das der Pharma-Multi Abbott unter dem Markennamen Kaletra® exklusiv anbietet, kostet bis zu 10.000 Dollar pro Patient und Jahr. Solche Relationen sind offenkundig widersinnig - und angesichts der Tatsache, dass 95% der HIV/AIDS-infizierten Menschen in Afrika leben, skandalös. Viele der ärmeren Länder tun sich deshalb schwer, Patente auf Produkte anzuerkennen, die über Leben und Tod entscheiden. Sie verweisen darauf, dass der Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln nicht von der Kaufkraft der Patienten, sondern allein von deren gesundheitlichen Bedürfnissen abhängen darf. Medikamente gehören der Allgemeinheit! Dieser Überzeugung war auch der US-Amerikaner Jonas Salk, der Mitte der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts den ersten Impfstoff gegen Polio entwickelte. "Kann man die Sonne patentieren?", retournierte Salk das Unverständnis, das ihm damals von Seiten der Pharma-Industrie entgegenschlug, als er seine Entdeckung freigab.

Die Freigabe des Polio-Impfstoffs wurde zur Erfolgsgeschichte. Überall auf der Welt nahm die Zahl der Polio-Erkrankungen dank umfangreicher Impfprogramme drastisch ab. Auch in Bangladesh, das noch bis Mitte der 80er Jahre zu den Ländern mit dem höchsten Polio-Risiko zählte. Heute gilt die Krankheit in dem Land am Mündungsdelta des Ganges als ausgerottet.

Bangladesh, das Land der Bengalen, ist erst seit 1971 unabhängig. In einem kurzen, aber blutigen Separationskrieg konnte es sich damals von pakistanischer Vorherrschaft befreien. Die gesundheitlichen Fortschritte, die seitdem erzielt wurden, sind auch der Verdienst von Dr. Zafrullah Chowdhury, dem Gründer von GK, der die Organisation noch heute leitet - als "Projects Coordinator", wie es seine Visitenkarte ausweist.

Dr. Zafrullah ist ein hoch angesehener Mann, ein "national hero" gewissermaßen. Als junger Arzt verließ er seinen sicheren Arbeitsplatz in England und organisierte den Sanitätsdienst der Befreiungskräfte und die medizinische Versorgung der Flüchtlinge (letzteres übrigens bereits mit Unterstützung von medico). Später beriet er die Regierung bei der Formulierung einer der fortschrittlichsten Arzneimittelgesetzgebungen der Welt. Mit einer Art "Positivliste" gelang es, 1.700 gefährlichen und nutzlosen Medikamenten die nationale Zulassung zu entziehen, während gleichzeitig staatliche Förderprogramme die Entwicklung einer eigenen Arzneimittelproduktion vorantrieben und die Unabhängigkeit von den Pharma-Multis erhöhten. Noch heute nutzt Dr. Zafrullah seinen Einfluss, um dem Vormarsch neoliberaler Politik Einhalt zu gebieten. 1992 erhielten GK und Dr. Zafrullah den Right Livelihood Award, den alternativen Nobelpreis.

Und das, was GK seit 1972 aufgebaut hat, lässt sich allerdings sehen. Es entstanden eine Schule für Basisgesundheitshelfer, eine Universität mit medizinischem und biotechnologischem Zweig, mehrere Hospitäler und schließlich Produktionsanlagen für unentbehrliche Arzneimittel und pharmazeutische Wirksubstanzen sowie ein großes Tagungszentrum, in dem im Jahr 2000 die erste alternative Weltgesundheitsversammlung, die People's Health Assembly mit 1.000 Teilnehmern stattfand. GK unterhält ein Krankenversicherungssystem für ca. 8.000 Familien, betreibt Berufsausbildungsprogramme insbesondere für Frauen und sorgt für die medizinische Grundversorgung und Gesundheitsaufklärung in Hunderten von Dörfern. "Wir haben uns darum bemüht, Gesundheit zu entmystifizieren und die Verantwortung für die Gesundheit in die Hände von Dorfgesundheitshelfern zu legen", sagt Dr. Zafrullah: "So sind nicht nur Jobs entstanden, sondern haben heute auch diejenigen Zugang zu Versorgungsangeboten, die diesen früher nicht hatten."

Bemerkenswert ist, dass GK neben Zuschüssen von internationalen Hilfsorganisationen die Hälfte seines Budgets selbst erwirtschaft. Dafür sorgen eigene Unternehmen, beispielsweise eine Kleiderfabrik, eine Druckerei, aber auch die pharmazeutischen Betriebe. Die Hälfte der dort erzielten Gewinne geht in die Sozialprogramme von GK, die andere Hälfte wird reinvestiert.

Die pharmazeutischen Produktionsanlagen am Rande der medizinischen Hochschule laufen auf Hochtouren. Hier hat sich nicht der Spleen weltfremder Philanthropen Raum geschaffen, sondern ist ein überaus erfolgreiches soziales Unternehmen entstanden. Die "Gonoshasthaya Antibiotics Limited" (GAL) gehört zu den wenigen Betrieben Bangladeshs, die überhaupt Wirksubstanzen für Arzneimittel herstellen. Beliefert werden nicht nur die eigene "Gonoshasthaya Pharmaceuticals Limited" (GPL), sondern auch die anderen Arzneimittelhersteller im Lande sowie staatliche Krankenhäuser.

Nicht ohne Stolz zeigt uns Dr. Mohammad die drei neuen Konverter, die demnächst in Betrieb gehen werden. 20.000 Dollar kostet einer dieser aus China bezogenen Kessel, die allerdings etwas von großformatigen Kochgeräten haben. Nur, dass nicht Hitze zugeführt werden muss, sondern das Gegenteil: Kälte. Und so sorgt ein weitverzweigtes Kühlsystem für die Kontrolle der in den Konvertern ablaufenden exothermen Reaktionen. Überall stehen Fässer mit Kühlmitteln, längst war der Erweiterungsbau, der nun kurz vor der Fertigstellung steht, überfällig.

Die Nachfrage nach pharmazeutischen Wirksubstanzen ist groß. Auch aus dem Ausland treffen bereits Anfragen ein. Zu den wichtigsten Abnehmern aber zählt fraglos noch immer die gerade ein paar hundert Meter entfernt liegende "Gonoshasthaya Pharmaceuticals Limited" (GPL), die jene Medikamente produziert, die der WHO als unentbehrlich gelten. Im Gegensatz zu den Anlagen der GAL sind die Produktionskapazitäten der GPL nicht ausgelastet. Dr. Maqsud, der ärztliche Leiter der Arzneimittelproduktion, erklärt uns den Grund; er klingt für eine armes Land wie Bangladesh einfach nur absurd: "Unsere Produkte sind zu billig! Sie kommen gar nicht erst ins Angebot. Denn die Zwischenhändler und die lokalen Apotheker verkaufen lieber teurere Produkte, die ihnen eine größere Verdienstspanne ermöglichen."

Darf man unter solchen Umständen Werbung für die eigene Sache machen? Die Leute von GK zögern. Aus prinzipiellen Gründen, aber auch um die Erträge, die schließlich den Sozialprogrammen zugute kommen, nicht zu schmälern, verzichtet GPL auf das übliche Marketing. Schon gar nicht bietet GK Ärzten oder Apothekern sogenannte "Incentives", die zumeist aus kleinen Geschenken bestehen, die die Freundschaft erhalten und die "Produktbindung" bei den Verschreibern fördern sollen. Andererseits, so Dr. Maqsud, sei natürlich auch nicht viel gewonnen, wenn die eigenen Grundsätze schließlich dem Ziel im Wege stehen, Menschen mit erschwinglichen Arzneimitteln zu versorgen. Angeregt denken wir über alternative Formen eines Marketings nach, das den inhaltlichen Ansprüchen von GK gerecht werden könnte. Wir verabreden den weiteren Austausch, denn auch wir von medico wissen aus eigener Erfahrung um solche Widersprüche.

Ziel ist es, die pharmazeutischen Betriebe von GK "fit" zu machen für die Zukunft. Denn die Erfolge, die in den zurückliegenden Jahren erkämpft werden konnten, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die andere Seite nicht untätig geblieben ist. Auch diejenigen, für die das Herstellen von Arzneimitteln keine soziale Verpflichtung, sondern allein eine lukrative Chance des Geldverdienens ist, haben sich gerüstet. Zug um Zug haben die Multis dafür gesorgt, dass das Bemühen um Gesundheit dem sozialpolitischen Kontext entzogen und auf eine Frage verbesserter Wettbewerbsbedingungen reduziert wurde.

Seit 1996, seit dem Inkrafttreten des Abkommens über den Schutz intellektueller Eigentumsrechte (TRIPS) und besonders seit dem Auslaufen der Übergangsregelungen für die meisten Entwicklungsländer 2005 entscheidet über die Frage des Zugangs zu unentbehrlichen Arzneimitteln nicht mehr die WHO, sondern die WTO, die Welthandelsorganisation. Deren Mitgliedsländer, und das sind nahezu alle, verpflichten sich, 20-jährige Patente auf neue Medikamente anzuerkennen, darunter auch jene, die aufgrund der Resistenzentwicklung weltweit dringend benötigt würden. Nur für die Least Developed Countries (LDC), die am wenigsten entwickelten Länder, zu denen Bangladesh zählt, gilt noch eine weitere Übergangszeit bis 2016, in der auch patentgeschützte Präparate für den eigenen Bedarf und den Export an andere LDC kopiert werden dürfen. Die indischen Generikafirmen, die bislang einen großen Teil der Welt mit erschwinglichen Arzneimitteln versorgt haben, können dies seit 2005 für neu auf den Markt kommende Wirkstoffe nicht mehr tun.

"Sicher, wir könnten schon dazu beitragen, das entstandene Vakuum zu füllen", sagt Dr. Mohammad. "Die Produktion von Wirksubstanzen für afrikanische Länder - das können wir schon machen." Überall ist die mit dem Inkrafttreten des TRIPS-Abkommens neu eingetretene Lage ein Thema. Auch die Regierung Bangladeshs ist nicht untätig beblieben. Ohne Parlamentsdebatte, ohne öffentliche Anhörung hat sie 2005 eine neue Arzneimittelpolitik verabschiedet, die das Land für ausländische Firmen öffnet. Die nationale Liste essentieller Arzneimittel wurde auf wenige Präparate zusammengestrichen, das Festpreissystem demontiert und es werden Anreize für die Ansiedelung von Pharma-Multis geschaffen. Für die pharmazeutischen Betriebe von GK könnte es künftig enger werden. Für die Versorgung ärmerer Menschen mit erschwinglichen und unentbehrlichen Arzneimitteln auch.

Thomas Gebauer


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