medico: 2020 kam es zu großen Protesten in Mali, denen sich (auch) das Militär anschloss, das im Anschluss zwei Mal putschte. Bis heute wird das Land von einer Militärregierung geführt. Ihr werden immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen und extralegale Tötungen vorgeworfen – oft auch in Zusammenarbeit mit der russischen Wagner-Miliz. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung steht jedoch ein großer Teil der Bevölkerung Malis hinter der Militärregierung. Warum hat sie so viel Unterstützung im Land?
Bettina Rühl: Zum einen, weil die Menschen von der Vorgängerregierung enttäuscht waren. Vor allem was ihre Sicherheit angeht, die Sicherheit ihres Lebens und ihres Besitzes. Seit vielen Jahren gibt es ein massives Sicherheitsproblem im Land. Das klingt vielleicht sehr abstrakt, aber es geht darum, dass Menschen um ihr Leben fürchten, weil bewaffnete Gruppen in Dörfer eindringen, plündern und manchmal, in nur einer Nacht, mehrere hundert Menschen töten.
Wir ahnen vielleicht eher, was das für die politische Stabilität eines Landes bedeutet, wenn wir uns mal vorstellen, was in Deutschland los wäre, wenn das hier passieren würde. In Mali hat es die letzte demokratisch gewählte Regierung nicht geschafft, Sicherheit zu gewährleisten. Der zweite Grund für die tiefe Unzufriedenheit der Menschen war die massive Korruption. Die Militärregierung hat mit dem Versprechen, die Korruption zu bekämpfen bei der Bevölkerung gepunktet.
Was für Außenstehende sicherlich schwer zu verstehen ist, ist die Toleranz gegenüber Menschenrechtsverletzungen. Die traditionellen Institutionen und der Westen haben ein massives Legitimitätsproblem. Wenn die UNO, Human Rights Watch oder wer auch immer Berichte über Menschenrechtsverletzungen vorlegen, halten das die Menschen oftmals für Fakenews oder Propaganda. Etwas, das zum Beispiel aus Frankreich kommt. Hinzu kommt das Gefühl, dass es bei diesen Verbrechen schon die „Richtigen“ getroffen habe, also Anhänger islamistischer Gruppen. Menschen, die näher an solchen Übergriffen dran sind, sehen das natürlich anders. Doch Mali ist groß, und wenn hunderte Kilometer zwischen Informationsursprung und -empfänger:in liegen, wirkt sich das auf das Vertrauen der Empfänger:innen aus.
Vor mehr als 30 Jahren, 1991, wurde nach dem Ende der Militärdiktatur Moussa Traorés die parlamentarische Demokratie in Mali eingeführt – auch auf Drängen des damaligen französischen Präsidenten Mitterrand und durch den massiven Einsatz von Entwicklungshilfe. Französisch wurde zur Amtssprache, obwohl ein Großteil der Bevölkerung der Sprache nicht mächtig ist. Du sprichst davon, dass die westliche repräsentative Demokratie nicht zu den vorhandenen traditionellen Strukturen in Mali passte. Wie haben die postkolonialen Verhältnisse die Beziehung der Gesellschaft zum Staat und zur Demokratie geprägt?
Es stimmt, dass es großen Druck von außen gab. Aber man muss auch sehen, dass es in der malischen Bevölkerung einen wirklichen Demokratisierungswunsch gab, begleitet von massiven Protesten Anfang der 1990er Jahre für ein Ende der Militärdiktatur. Es ist also nicht so, dass Mali gezwungen wurde, eine parlamentarische Demokratie einzuführen.
Gleichzeitig ist der malische Staat bis heute strukturell durch eine französische Staatsauffassung geprägt und stark zentralistisch organisiert, auch wenn es im Laufe der Jahrzehnte starke Anstrengungen gab, ihn zu dezentralisieren, die Macht mehr in die kommunalen und regionalen Verwaltungen zu legen. Das hat jedoch nicht wirklich funktioniert und führte oft zu neuen Problemen, wie der Multiplikation von Korruption, weil alle neuen Verwaltungsebenen jetzt auch einen Teil des Kuchens beanspruchten.
Demokratie hat ja alle möglichen Formen, beispielsweise ist unsere Demokratie in Deutschland eine ganz andere als die britische. Aber was vielen Malier:innen aufstößt ist zum Beispiel das Konzept von „ein Mensch, eine Stimme“. Das wirkt für viele absurd, weil damit beispielsweise ein 20-Jähriger Mensch, sei es Mann oder Frau, genau so viel zu sagen hat wie ein 70 Jahre alter Mensch mit einer langen Lebenserfahrung. Respekt vor dem Alter hat einen hohen Stellenwert und im stark traditionellen Kontext scheint es nicht zu passen, dass die Stimme eines jungen Menschen ebenso viel Gewicht haben soll wie die eines Alten.
Gleichzeitig gab es auch andere, eigene demokratische Formen, zum Beispiel in der Konfliktlösung, den sprichwörtlichen „Palaver-Baum“, wo die Menschen zusammenkommen, lange diskutieren und gemeinsam Konflikte schlichten. Im Unterschied zu solchen durchaus positiven Erfahrungen erlebten die Menschen in der „modernen“ Demokratie beispielsweise eine Justiz, die von Anfang an ziemlich korrupt war. Es gibt also einiges, bei denen die malische Bevölkerung mit großem Unverständnis auf Konzepte von Demokratie schaut.
Würdest du von einer Krise des Nationalstaats in der Region sprechen?
Das Problem ist, dass Mali und die anderen afrikanischen Staaten nie Nationalstaaten im europäischen Sinne waren: Eine Nation, ein Staat. Mali ist ein Vielvölkerstaat, es werden mindestens 15 verschiedene Sprachen gesprochen. Und auch in Europa ist in gewisser Weise eine Krise des Vielvölkerstaats zu beobachten. Warum ist Jugoslawien zerbrochen? Warum bekämpften sich die Menschen dort? Oder warum pochen die Bask:innen und Katalan:innen auf ihre Unabhängigkeit?
Der Ausgangspunkt der Krise in Mali und in anderen Staaten der Region ist meiner Meinung nach, dass die Regierungen den Bevölkerungen einfach jede staatliche Leistung schuldig geblieben sind. Wenn eine Regierung über die Grenzen ihrer Hauptstadt hinaus Wirksamkeit zeigen würde, zum Beispiel in Form von Schulen, klinischer Versorgung, Straßenbau, wenn die staatlichen Leistungen außerdem gerecht verteilt würden, dann würden sich ethnische Fragen meiner Überzeugung nach nicht so dringend stellen.
Die Malier:innen haben sich übrigens sehr lange als Nation verstanden, aber egal ob sozialistisch oder demokratisch – keine der Regierungen hat geliefert, es ging den Leuten immer schlechter. Jetzt suchen sie nach einer Alternative.
Parallel zur Einführung einer repräsentativen Demokratie kam auch der Neoliberalismus nach Mali, der Internationale Währungsfonds erzwang harte Sparmaßnahmen, die die Armut vergrößerten und die soziale Ungleichheit verschärften. Was waren das für Reformen und wie haben sie sich ausgewirkt?
Das waren vor allem Sparprogramme, die wir auch aus anderen Ländern kennen. Öffentliche Ausgaben, zum Beispiel für Schulen oder die Krankenversorgung, sollten reduziert werden. Das ist in einer Gesellschaft, in der es schon aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche nicht viele private Anbieter gibt bzw. eine Mehrheit sich diese einfach nicht leisten kann, ein drastischer Einschnitt. Wir haben das ja vor nicht allzu langer Zeit auch in Griechenland gesehen.
Parallel dazu gab es in Mali dann auch noch eine ausufernde Korruption und eine Elite, die sich einen großen Teil des Reichtums unter den Nagel riss. Die öffentlichen Mittel kamen durch Veruntreuung und Korruption vor allem bei der Elite an. Dadurch ist die soziale Kluft massiv auseinander gegangen und ein Großteil der Bevölkerung wurde wirtschaftlich abgehängt.
Und diese Verarmungsprozesse werden heute mit dem westlichen Konzept von Demokratie in Verbindung gebracht?
Ja, also gerade in Mali gibt es diesen Zusammenhang. Eine Rolle spielt aber auch, dass zur Zeit das Selbstbewusstsein von Gesellschaften und Menschen im globalen Süden stärker wird. Und viele Malier:innen sagen jetzt: „Das was ihr uns da als Demokratie vorgestellt habt, wollen wir nicht. Wir müssen uns von euch nicht alles vorschreiben lassen, als hättet ihr das Wohl der Menschheit und die Demokratie erfunden. Wir hatten hier schon im 13. Jahrhundert unsere eigene Demokratie.“ Mali ist ein sehr alter Kulturstaat, damals war Timbuktu eine Weltstadt, mit einer Vielzahl an Universitäten, die Gelehrte von überall anzog. Es gibt eine alte malische Verfassung, die auch UNESCO-Weltkulturerbe ist, die nie verschriftlicht, sondern mündlich überliefert wurde und den Menschen immer noch im Bewusstsein ist.
Von August 2014 bis August 2022 befand sich neben der MINUSMA-Mission der Vereinten Nationen noch Frankreich im Rahmen der Opération Barkhane mit einer Vielzahl von Soldaten im Land. Wie wird das Engagement Frankreichs und des Westens im Land wahrgenommen? Welche Rolle spielt das koloniale Erbe Frankreichs in Mali?
Es ist ein strukturell koloniales Erbe: der Staatsaufbau, die Amtsträger, eine Elite, die es ohne Frankreich so nicht gäbe. Der französische Einfluss geht weit über die Soldat:innen, die dort stationiert waren, hinaus. Frankreich ist in Mali, aber auch der ganzen Region, regelrecht verhasst. Aus guten Gründen. Der Staat wird als unglaublich arrogant empfunden. Gerade in Mali wird sehr unterschieden zwischen Franzosen und Deutschen. Deutschland hat immer noch einen guten Ruf, weil die Bundesrepublik 1960 als erstes Land die Unabhängigkeit Malis anerkannte. Die Dankbarkeit hält bis heute an.
Frankreich hingegen hat im Zuge seiner diversen Militäroperationen, die 2012 begonnen haben, immer mal wieder militärisch operiert, ohne die malische Regierung zu informieren. Die später weggeputschte Regierung hat das hingenommen, weil sie keine Alternative hatte. Aber die Militärregierung ließ sich das so nicht mehr bieten. Einerseits.
Andererseits habe ich schon das Gefühl, dass es sich sowohl die malischen militärischen Übergangsregierungen, als auch die Bevölkerung zurzeit zu einfach machen, wenn sie den Franzosen alle Schuld an den Missständen in Mali zuschieben. Es ist nicht so, als hätte nur Frankreich den Karren in den Dreck gefahren. Mali ist seit Jahrzehnten unabhängig und der Frankreichhass dient auch als eine Art Sündenbock. Es gibt viel berechtigte Kritik, aber wichtig wäre es aus meiner Sicht auch, klarer zu fragen, wo die Verantwortung der eigenen Elite liegt.
Das deutsche MINUSMA-Kontingent soll bis Anfang 2024 abgezogen werden. Im Mai gab die Ampelkoalition bekannt, ihre Sahelpolitik neu ausrichten zu wollen. Im Fokus steht dabei der Niger, der im Vergleich zu Mali oder Burkina Faso noch offener ist für westlichen Einfluss. Dort konzentriert sich das militärische und auch das entwicklungspolitische Engagement der Bundesregierung vor allem auf die Verhinderung von Migration. Wie schätzt du die neue Sahelpolitik ein?
Ich glaube schon, dass die Situation in Mali eine sehr spezielle war und Niger im Umfang des Engagements eine ganz andere Struktur hat. Zu den bisher dort stationierten 150 Soldaten sind jetzt nochmal 60 hinzugekommen. Im Vergleich zu über tausend in Mali. Auch gibt es weitaus weniger französische Kräfte als in Mali. Ich glaube der nigrischen Regierung, dass es ihr bei der Kooperation mit westlichen militärischen Kräften tatsächlich nicht nur um den Kampf gegen Migration geht, sondern darum, die Grenzen ihres Landes zu sichern.
Der Niger hat eine sehr unerfreuliche Nachbarschaft. Der Islamische Staat hat im malischen Grenzgebiet viele Gebiete unter Kontrolle, Boko Haram ist im benachbarten Nigeria aktiv, dort operieren auch viele kriminelle Gruppen, Burkina Faso ist kein friedliches Land. Islamistische und kriminelle Kräfte aus den Nachbarländern operieren immer wieder auch in den nigrischen, grenznahen Regionen. Ich war selbst im vergangenen Jahr in der Grenzregion zu Mali, wo die Sicherheitslage extrem angespannt ist. Die Menschen dort haben keine Angst vor Migrant:innen, sondern vor den islamistischen Milizionären, die über die Grenze kommen.
Die Europäische Union bildet dort Polizisten und militärische Spezialkräfte aus. Ich finde das berechtigt. Denn wenn man mit Menschen in den Grenzdörfern spricht, dann möchten sie, dass der nigrische Staat sie schützt. Aber für das europäische Engagement spielt der Kampf gegen Migration natürlich eine zentrale Rolle. Ich glaube, dass die EU und Deutschland tatsächlich befürchten, dass die ganze Region unregierbar wird. Ich glaube, dass es mit der neuen Sahelstrategie darum geht zu verhindern, dass die ganze Region brennt. Ich glaube jedoch nicht, dass der Westen viel dagegen wird ausrichten können.
In Mali hat sich die Sicherheitssituation etwas verbessert, sagen Leuten vor Ort. Die Militärregierung greift viel härter durch und hat Zugang zu neuen Waffen von der russischen Wagner-Gruppe.
Das stimmt. Aber ich glaube auch, dass man sehr differenziert auf die verschiedenen Regionen in Mali blicken muss. Die Militärregierung hat nach meinen Informationen das Land strategisch in verschiedene Regionen eingeteilt und ist im Zentrum des Landes in vielen Gegenden präsent. Also da wo in der Tat auch die meisten Terrorangriffe auf die Bevölkerung verübt worden sind und die meisten ethnisch gefärbten Konflikte stattgefunden haben. Da gibt es partiell eine Verbesserung. Offenbar sind auch die Operationsbasen der islamistischen Gruppen in der Region zerschlagen worden.
Aber beispielsweise im Dogonland scheint die Beruhigung eher daran zu liegen, dass die Bevölkerung Abkommen mit den islamistischen Gruppen geschlossen hat. Nun zahlen die Menschen Steuern an sie und können dafür unbehelligt auf ihre Felder. Ein malischer Analyst formuliert es so: „Die Basen sind zerschlagen, punktuell gibt es Erfolge. Aber das führt nicht dazu, dass der Staat mit seinen Dienstleistungen zurückkommt. Es werden keine neuen Gesundheitszentren oder Schulen eröffnet, auch die Verwaltung kommt nicht zurück.“ Es ist also ein militärischer Erfolg ohne zivile Folgen, der so vermutlich nicht haltbar sein wird.
In anderen Regionen wiederum ist es so, dass die islamistischen Gruppen zwar kein Terrain kontrollieren, aber stark genug sind, regelmäßig Angriffe auf das Militär und auch zivile Ziele zu verüben. Es ist also ein sehr widersprüchliches Bild: Punktuell gibt es Erfolge, aber ich würde auf keinen Fall sagen, dass sich die Sicherheitslage insgesamt verbessert hat. Es gibt immer noch Zehntausende neue Leute, die auf der Flucht vor der IS-Terrormiliz sind, weil die malische Armee ihr nichts entgegensetzen kann.
Wie schätzt du den Einfluss von Russland und China in Mali und in der Sahelzone generell ein?
China ist ja schon länger wirtschaftlich und politisch präsent, und übrigens nicht alleine. Auch die Türkei und Russland sind vor Ort, mit primär wirtschaftlichen Motiven. In der Region sind alle Flughäfen von der Türkei und nicht mehr von Frankreich und auch nicht von China gebaut. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch sehen Regierungen vor Ort, dass sie nun Alternativen zum Westen haben. Das wird sicherlich Folgen haben. Die Forderung aus dem Umkreis der BRICS-Staaten nach einer alternativen Weltwährung anstelle des US-Dollars wurde sicher durch die Sanktionen des Westens befeuert. Jetzt, wo Russland aus dem Swift-System geflogen ist, werden sich einige Länder entscheiden müssen, in welches Finanztransfersystem sie möchten. Auch, weil sie nun tatsächlich glauben, eine Alternative zum Westen zu haben.
Dabei muss man allerdings das „Wir sind anders als die anderen Ausbeuter“-Narrativ der Türkei und Russlands genau betrachten. In der Zentralafrikanischen Republik ist der Wagner-Einfluss am stärksten und das Militärunternehmen hat dort Konzessionen für alles, was wertvoll ist: Diamanten, Holz, Gold. Sie machen es nicht anders als es zuvor westliche Nationen gemacht haben – vielleicht noch skrupelloser und brutaler.
Die Menschen in Mali haben Recht, wenn sie sagen, dass Frankreich nur seine eigenen Interessen vertritt. Aber alle anderen verfolgen auch nur ihre eigenen Interessen. Da wird es noch ein böses Erwachen geben. Aber erst einmal ist da ein starkes Gefühl, dass es eine Alternative zu den Franzosen zu geben scheint.
Aufgrund internationaler Sanktionen von der EU und der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS hat die malische Militärregierung einem demokratischen Prozess zugestimmt und eine neue Verfassung ausgearbeitet. Im Juni wurde diese in einem Referendum mit einer großen Mehrheit bestätigt (bei einer Wahlbeteiligung von knapp 40 Prozent). Wie schätzt du diese neue Verfassung und ihren Entstehungsprozess ein?
Ich habe die Verfassung selber nicht gelesen, aber ich habe mit einem der Autoren gesprochen, einem sehr ernst zu nehmenden Wissenschaftler, und ich habe mich mit der Einschätzung der Friedrich-Ebert-Stiftung beschäftigt, die sie als solide bezeichnet hat. Auch andere westliche Leute haben das – und ich sage bewusst „westliche Leute“, da ich gerade diesen Blick interessant finde. Der Präsident bekommt in der neuen Verfassung mehr Macht, er kann das Parlament auflösen. Das Kabinett ist jetzt dem Präsidenten verantwortlich und er ernennt auch den Ministerpräsidenten. Es ist also eine massive Stärkung seiner Macht. Das widerspricht dem Wunsch der Bevölkerung nach Dezentralisierung, von der vorher viel die Rede war.
Andererseits bekommt Mali nun eine zweite Kammer, also einen Senat, der zum Teil von traditionellen und geistlichen Autoritäten besetzt sein wird. Das hat sich die Bevölkerung explizit gewünscht. Das spiegelt genau die Ebene von Autoritäten wieder, die jenseits des westlichen Verständnisses von Demokratie steht. Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist die institutionalisierte Korruptionsbekämpfung. Erstmals gibt es jetzt einen eigenen Rechnungshof.
Zudem muss nun jede:r Politiker:in, der/die ein Amt antritt, das eigene Vermögen offen legen. Und zwar jedes Jahr wieder, und dann auch etwaige Veränderungen begründen. Das halte ich für einen ernstzunehmender Ansatz.
Nun gibt es jedoch ein großes Aber: Es sind sich alle einig, dass Mali kein zu wenig hat an sehr guten Gesetzes- und Verfassungstexten. Auch die alte Verfassung war nicht schlecht. Das Problem ist die mangelnde Umsetzung. Daran wird sich auch die neue Verfassung messen lassen müssen. Bezeichnend finde ich auch die sehr niedrige Wahlbeteiligung trotz einer massiven Kampagne der Militärregierung für das Referendum und die Verfassung. Fast der gesamte Norden des Landes hat nicht abgestimmt. Alle Kritiker:innen haben sich enthalten. Sie argumentierten, dass eine Übergangsregierung eigentlich keine Legitimität besitzt, eine so durchgreifende Veränderung durchzusetzen.
Welche zivilgesellschaftlichen Kräfte gibt es noch in Mali, die für eine Demokratisierung des Landes jenseits von ausländischem Einfluss kämpfen?
Es gibt natürlich unterschiedliche Gruppen. Aber momentan sind jenseits der Unterstützer:innen der Regierung nur noch wenige vernehmbar. Viele scheinen in Deckung gegangen zu sein. Die klassischen Parteien gelten als Parteigängerinnen Frankreichs und werden als Blockadekräfte wahrgenommen. Ich nehme wahr, dass kritische Stimmen – wenn überhaupt – nur ohne Angabe ihres Namens bereit sind zu sprechen.
Das Gespräch führten Kerem Schamberger, Caspar Ermert und Katharina Tomas.