Nur wie?

Afghanistan schreiben

02.12.2021   Lesezeit: 5 min

Hier beginnt das Vergessen, dort wächst die Not. Decken und Lebensmittel allein werden nicht helfen.

Von Thomas Rudhof-Seibert

Was zur Hölle soll ich hier schreiben? Soll ich wiederholen, was ich gerade in einem Artikel gelesen habe? Einem Artikel, dessen Autorin berichtet, in einem Park in Kabul gleich mehreren Müttern begegnet zu sein, die ihr totes Kind im Arm trugen? Kinder, die verhungert oder an Infektionen gestorben sind, die leicht zu heilen wären, wenn es einen Arzt und wenn es Medikamente gäbe? Die verhungert sind, weil sie Kinder von Flüchtlingen sind, die in diesem Park Zuflucht gefunden haben, der eigentlich nur eine verdorrte Lichtung am Rand Kabuls ist? Eine Lichtung, in der jetzt Zelte aus Jute und Stofffetzen stehen? Deren Bewohner:innen seit drei Tagen nichts mehr gegessen haben? Flüchtlinge, die seit drei Tagen nichts als ungesüßten schwarzen Tee zu sich genommen haben? Tee, den sie auf Feuern kochen, in denen sie Plastikflaschen und alte Schuhe verbrennen, weil sie sonst nichts haben, die Flammen zu nähren?

Oder soll ich wiederholen, was der afghanische Kinderarzt sagte, der gerade im deutschen Fernsehen zu Wort kam? In einem Zwei-Minuten-Beitrag, in dem er berichtet, dass er stündlich entscheiden muss, wen von seinen Patient:innen er sterben und wen er leben lässt, weil er nicht genug Medikamente für alle hat? Oder soll ich Zahlen sprechen lassen? Soll ich schreiben, dass 18 Millionen Afghan:innen hungern, mehr als die Hälfte der Bewohner:innen des verheerten Landes? Dass laut Schätzung der UN 95 Prozent der Afghan:innen vom Hunger bedroht sind? Jetzt, da nach einem Dürresommer der Winter beginnt, in dem es vielerorts -20 Grad kalt wird? Dass die Menschen also auch von der Kälte bedroht sind, weil es vielen an einer winterfesten Unterkunft, an Decken, an Kleidung fehlt?

Oder soll ich von den afghanischen Flüchtlingen schreiben, die aus dem Land geflohen sind? Nach Osten, nach Pakistan, wo seit Jahren schon fast drei Millionen Afghan:innen leben? Genauso viele, wie auch im Iran leben, also westlich von Afghanistan? Soll ich schreiben, dass seit der Flucht der NATO-Truppen und seit der folgenden Machtübernahme der Taliban weitere Hunderttausende Afghan:innen westwärts in den Iran und ostwärts nach Pakistan geflohen sind? Dass Pakistan und der Iran bereits Zehntausende wieder nach Afghanistan zurückgeschoben haben, mit Gewalt, unter die Gewalt der Taliban, in die Kälte, in den Hunger? Soll ich von den Afghan:innen schreiben, die es bis in die Türkei geschafft haben, wo aktuell 500.000 von ihnen leben, als illegale Einwander:innen, schutz- und rechtlos? Oder soll ich über die Afghan:innen schreiben, die heute zwischen der weißrussischen und der polnischen Grenze umherirren, zusammen mit Hunderten, Tausenden Menschen aus dem Irak, Syrien, Gambia oder Mali? Die in die Europäische Union, die nach Deutschland wollen, aber von der EU und von Deutschland an der Ankunft gehindert werden, denen die Ankunft verweigert wird?

Oder soll ich noch einmal von den afghanischen medico-Partner:innen schreiben, den Aktivist:innen der Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO)? Unseren afghanischen Partner:innen, die drei Tage nach der Machtergreifung der Taliban mit eilends gemieteten Bussen nächtlich quer durch das ganze Land an die Ostgrenze geflohen und glücklich nach Pakistan gelangt sind? Die jetzt als illegale Einwander:innen in verschiedenen Herbergen Islamabads leben? Herbergen, die medico bezahlt, von Geldern, die eigentlich zur Förderung der politischen Arbeit von AHRDO vorgesehen waren? Fast zweihundert Menschen, die täglich, stündlich schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung auf die versprochene Ausreise nach Kanada warten, jetzt schon den dritten Monat?

Oder soll ich von uns hier schreiben, den Leser:innen dieses Artikels, von uns hier auch, die wir solche Artikel schreiben? Die wir hier trotz allem gesichert unter einer Regierung leben, die für all das, was ich hier geschrieben habe, mitverantwortlich ist. Weil sie sich an einer Intervention beteiligt hat, der es nie wirklich um die Afghan:innen, sondern allein um „Deutschlands Sicherheit“ ging, die „am Hindukusch verteidigt“ werden sollte. Weil ihr Verständnis von „Deutschlands Sicherheit“ strukturell die Mitverantwortung am Elend überhaupt der Welt einschließt: über das Elend Afghanistans hinaus. Dessen Bewohner:innen sie Hals über Kopf der Gewalt der Taliban ausgeliefert hat.

Es heißt jetzt überall, dass den Afghan:innen schnell geholfen werden muss, mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Decken und Kleidern. Weil jetzt der Hunger und die Kälte kommen, weil der Hunger und die Kälte längst ihr Werk tun. In dem Park am Rand von Kabul zum Beispiel, in dem einer Journalistin, die über Afghanistan schreibt, gleich mehrere Mütter begegnen, die ihr totes Kind im Arm tragen. Sicher braucht es Nahrungsmittel, Medikamente, Decken und Kleider. Aber das hilft, wenn überhaupt, dann nur heute, nicht morgen und nie allen. Wirklich helfen wird nur ein radikaler Wechsel der deutschen Politik, der Politik der europäischen Länder, der Länder des Nordens. Das wird nicht ausreichen, natürlich nicht. Aber ohne einen radikalen Wechsel auch der deutschen Politik wird sich nichts ändern. Für uns hier ist dieser Wechsel das Einfache, das unendlich schwer zu tun ist und dennoch getan werden muss. So schnell und so grundstürzend als irgend möglich. Darüber wollte ich schreiben. Das möchte ich zu lesen geben. Solange so über Afghanistan geschrieben werden muss, wie ich es hier anders nicht tun konnte. Dabei geht es nicht nur um Afghanistan.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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