medico: Wie ist die aktuelle Situation an der polnisch-belarusischen Grenze? Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf die Menschen, die dort noch festsitzen?
Katarzyna Czarnota: Was wir bisher an Reaktionen der polnischen Regierung auf die ukrainische Krise beobachten – besonders auch in krassem Kontrast zur Krise an der polnisch-belarusischen Grenze: Alle Grenzübergänge sind für die aus der Ukraine kommenden Flüchtenden geöffnet worden. Dafür sehen wir an der ukrainisch-polnischen Grenze eine Trennung und Ungleichbehandlung der Geflüchteten, die nach Polen kommen.
Gleichzeitig hält die Krise an der belarusischen Grenze weiter an. Dort sitzen immer noch zahlreiche Geflüchtete fest. In den letzten Tagen haben wir mehrere Anfragen für humanitäre Hilfe erhalten. Uns hat eine Gruppe kontaktiert, die zehn, fünfzehnmal nach Belarus zurückgedrängt wurde und in einem sehr schwierigen Terrain aus Mooren und Sümpfen unterwegs ist. Andere wurden bei Minusgraden in Flüsse gestoßen. Außerdem stehen wir in Kontakt mit einer Gruppe von ungefähr 50 Personen, die von den belarusischen Behörden irgendwo in der Nähe des Grenzgebiets in Zelten untergebracht wurden. Sie berichten von folterähnlicher Behandlung ohne Zugang zu Nahrungsmitteln. In der Vergangenheit ist ihnen ein gewisses Maß an Nahrungsmitteln und Wasser gewährt worden – jetzt haben sich diese Bedingungen noch einmal wesentlich verschlechtert.
Ich würde auch gerne noch von einer anderen Gruppe berichten, die bisher nur wenig Medienaufmerksamkeit bekommen hat: Gestern hatten wir einen Einsatz, bei dem ukrainischen Männern geholfen wurde, die ohne Papiere ankamen und ziemlich verloren waren. Wir rechnen mit weiteren Fällen von Personen, die zum Militärdienst gezwungen werden sollen und die ihre Dokumente zurücklassen, um aus der Ukraine zu fliehen.
Trotz des Krieges in der Ukraine und des Einmarsches belarusischer Soldaten in die Ukraine gibt es also immer noch zahlreiche Menschen, die von Belarus aus versuchen die polnische Grenze zu erreichen?
Ja genau. Zurzeit wird die ganze Aufmerksamkeit auf die ukrainische Grenze gelenkt. Alle internationalen NGOs sind da und helfen. Aber dabei werden die Menschen an der belarusischen Grenze in der sogenannten roten Zone vergessen. Humanitäre, medizinische und juristische Helfer:innen haben immer noch keinen Zugang zu diesem Gebiet.
Und an der ukrainischen Grenze wird selektiert, sagt sogar das polnische Innenministerium: Ukrainische Staatsangehörige hätten beim Grenzübertritt Vorrang und diejenigen, die keine ukrainische Staatsangehörigkeit oder einen Aufenthaltsstatus nachweisen könnten, würden gründlich überprüft und gegebenenfalls in geschlossene Unterkünfte gebracht.
Wir gehen davon aus, dass einige Menschen aus Drittländern ihre Dokumente im Zuge der überstürzten Flucht nicht mitnehmen konnten und beobachten rassistische Diskriminierung beim Zugang zu Leistungen für Drittstaatsangehörige. Es ist ganz klar, dass die Regierung die Situation ausnutzt, um an der Grenze ihre rassistische Politik und Racial Profiling zu etablieren. In den grenznahen Städten gab es mehrere Fälle von rassistischer Gewalt. Grupa Granica und andere Aktivist:innen sowie Menschenrechtsverteidiger:innen erhalten derzeit auch immer mehr Informationen über Diskriminierung und Rassismus aus ganz Polen.
Wir sehen auch Drittstaatsangehörige, die mehrfach vertrieben wurden und jetzt zum dritten oder vierten Mal geflüchtet sind. Beispielsweise wissen wir von einer Gruppe Palästinenser:innen, die bereits als Geflüchtete in Syrien geboren wurden, die dann im Zuge der Repression des syrischen Regimes in den Libanon vertrieben wurden, von dort in die Ukraine flohen und die jetzt in Polen gestrandet sind und damit zum vierten Mal vertrieben wurden.
Wie schätzt du die Entwicklungen an der polnisch-ukrainischen Grenze ein?
Es wird in der Grenzzone ein großes Chaos geben, weil die Beamt:innen nicht in der Lage sind, die Staatsangehörigkeit und den Aufenthaltsstatus der Menschen zu überprüfen. Die Aufnahmezentren sind schnell überfüllt. Ich denke, dass die polnische Regierung in den kommenden Tagen weitere Schritte und Maßnahmen ergreifen wird, um die Segregation und die Ungleichbehandlung zu legitimieren.
Dazu muss man das Ausmaß des Rassismus, das insbesondere seit der Wahl im Jahr 2015 systematisch von den polnischen Regierungen ausgeübt wird, verstehen. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ damals wurde als politisches Instrument benutzt. Die soziale Akzeptanz von Gewalt und die Bereitschaft, sie auszuüben sind so hoch, dass Menschen oftmals angegriffen werden, einfach weil sie anders aussehen. Vor einiger Zeit wurden in der Straßenbahn mehrere Menschen angegriffen, die eine andere Sprache sprachen, in diesem Fall Deutsch. Sowas ist in Polen alltägliche Realität. Studierende aus Spanien wurden verprügelt, Palästinenser:innen und sogar Pol:innen, die einfach anders aussehen. Seit die rechtsextreme Regierung im Jahr 2015 an die Macht kam, hat sie den Nationalismus in den öffentlichen Medien verbreitet und der Staat hat die entsprechenden Bewegungen gefördert und dafür gesorgt, dass sie wachsen.
2015 und 2016 gab es einfach sehr viel Gewalt in Polen, weshalb wir jetzt sehr besorgt sind über die Geschehnisse in der Grenzregion und in Przemyśl, wo Geflüchtete aus dem Nahen Osten und Afrika, die gerade aus der Ukraine angekommen waren, von den Hooligans der örtlichen Fußballmannschaft angegriffen wurden. In den Medien und im öffentlichen Diskurs wird das gerechtfertigt. Ich denke, dass die Regierung deshalb beschlossen hat, jetzt andere Maßnahmen für Drittstaatsangehörige einzuführen, die im Wesentlichen auch dazu dienen, die staatlich organisierte Gewalt gegen die Menschen zu rechtfertigen.
Wie sieht die Arbeit der Grupa Granica angesichts der aktuellen Krise aus?
Wir mussten uns auf die Situation an der polnisch-ukrainischen Grenze einstellen, aber gleichzeitig wird die Grupa Granica weiterhin Hilfe an der polnisch-belarusischen Grenze leisten. Eine der Hauptschwierigkeiten ist dabei die Anpassung unserer Kommunikationsstrategie. Wir versuchen, uns für Drittstaatsangehörige und generell People of Color einzusetzen, um einen gleichberechtigten Zugang zu Leistungen zu ermöglichen. Dabei ist unsere Arbeit oft mit dem Vorwurf konfrontiert, dass wir gegen die "echten Geflüchteten" aus der Ukraine sind und stattdessen diejenigen unterstützen, die als Bedrohung für die nationale Sicherheit angesehen werden.
Im Grunde versuchen wir, überall dort tätig zu werden, wo die Regierung nicht handelt und sie dabei zu kritisieren. Wenn Aufnahmezentren überfüllt sind, bringen wir die Menschen weiter zu Unterkünften an, die über unsere Netzwerke bereitgestellt werden. Wir gehen auch in die Ukraine, um schutzbedürftigsten Menschen dort zu helfen und zu evakuieren.
Außerdem führen wir Medienkampagnen durch, machen Lobby- und Advocacy-Arbeit sowohl in Polen als auch auf EU-Ebene indem wir mit verschiedenen Parlamentsabgeordneten in Kontakt stehen und wir bieten Rechtsberatung an. Zum Beispiel haben wir ein Dokument in ukrainischer, russischer, englischer und polnischer Sprache veröffentlicht, das erklärt, welche Dokumente man beim Grenzübertritt mit sich führen sollte und welche Regelungen für Drittstaatenangehörige gelten.
Was wird in dieser Situation am dringendsten benötigt?
Eines der drängendsten Probleme ist, dass sich der Rassismus in Polen immer weiter ausbreitet und der damit verbundene ungleiche Zugang zu Versorgungsleistungen. Insofern konzentrieren wir uns im Moment auf die Kommunikation und das Eintreten für Drittstaatsangehörige, Schwarze Menschen und People of Colour.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist für uns das Eintreten für eine umfassende und integrative Migrationspolitik in Polen. Wir sprechen hier bewusst von einer humanitären Krise – gegen die Erzählung der Regierung von einer "Migrationskrise" oder eines "hybriden Krieges". Gerade jetzt bietet sich hier eine große Chance, unser Fachwissen und die Mobilisierung der Bevölkerung zu nutzen, um dringend notwendige Änderungen in der Migrationspolitik und zur Achtung der Menschenrechte zu erreichen.
Interview: Kerem Schamberger und Nina-Violetta Schwarz
Transkription: Anna Pagel
Grupa Granica ist ein Netzwerk aus 14 migrationspolischen Organisationen, einige von ihnen existieren bereits seit den 1990er Jahren, und Aktivist:innen, die sich der Bewegung angeschlossen haben. Ziel des Bündnisses ist es, den institutionellen Rassismus in Polen zu bekämpfen und die Hindernisse für Migrant:innen abzubauen.