Wir erreichen Wanjira Wanjiru per Videocall in den Räumen des Mathare Social Justice Centre (MSJC), das medico seit einiger Zeit unterstützt. Wanjira war 2014 Mitgründerin des Zentrums in Nairobis größtem Slum Mathare; eine halbe Million Menschen leben hier. Seitdem wurde das MSJC zu einem Ort der sozialen Bewegungen und des Community Organizing – immer mit dem Ziel, die sozialen Rechte aus der kenianischen Verfassung auch für die Menschen im benachteiligten Slum Mathare Realität werden zu lassen.
Während unseres Calls ist Wanjira sichtlich aufgeregt. Sie erzählt von Planungen für eine Demonstration am Folgetag: Für eine Kanalisation, für Müllbeseitigung und menschenwürdigem Wohnraum – vor allem aber gegen die Vernachlässigung des Slums nach den Überschwemmungen. Es könne zu Polizeigewalt kommen, sagt sie uns. Am nächsten Tag wird ihre Befürchtung wahr: Ein massives Polizeiaufgebot greift die Demonstration an, im MSJC werden alle anwesenden Aktivist:innen verhaftet.
medico: Ihr habt in den Fluten vor etwa 10 Tagen Freund:innen verloren, andere mussten zusehen, wie all ihr Hab und Gut weggeschwemmt wird. Wie hast du die letzten Tage erlebt?
Wanjira Wanjiru: Es regnet hier immer noch jeden Tag und das Wasser steigt weiterhin. Mit jedem Regen werden die Häuser erneut geflutet. Glücklicherweise ist niemand mehr gestorben, die Menschen sind wachsamer. Sie vermeiden es, zu schlafen, weil sie nicht vom Wasser überrascht werden wollen. Die vom Roten Kreuz zur Verfügung gestellten Zelte, in denen die Menschen schlafen, sind ebenfalls überflutet. Es gibt dort weder Toiletten noch Bäder. Die Situation ist furchtbar.
Wie ist die gesundheitliche Situation der Bewohner:innen?
Die größte Angst der Bewohner:innen ist im Moment die Verunreinigung des Wassers. Durch die Überschwemmungen gelangte viel verunreinigtes Abwasser in den Fluss. Ärzt:innen haben vor einem Choleraausbruch gewarnt und die Menschen dazu aufgerufen, ihre Hände zu waschen, Wasser abzukochen, sehr auf Hygiene zu achten. Mittlerweile haben viele Menschen Harnwegsinfektionen.
Besonders gefährdet sind gerade auch die Menschen, die ihre HIV-Medikamente verloren haben. Außerdem sind die Ärzte seit fast zwei Monaten im Streik, das heißt die medizinische Versorgung ist im Moment ohnehin schlecht. Wir sind dabei, mit anderen Organisationen ein medizinisches Lager aufzubauen, in dem sich Menschen ihre Medikamente besorgen können und eine basale Gesundheitsversorgung erhalten.
Die Fluten sollen die verheerendsten der letzten 40 Jahre gewesen sein. Warum hat es Mathare dieses Mal so hart getroffen?
Die Auswirkungen der Klimakrise sind real. Das wird überall auf der Welt ersichtlich. Dass es so viel regnete, hängt damit und mit El Niño zusammen. Aber die Zerstörung in Mathare liegt nicht am Klimawandel. Das hat vor allem mit schlechter Planung und struktureller Gewalt zu tun.
Was meinst du damit?
Expert:innen haben früh vor den schweren Regenfällen gewarnt. Im November letzten Jahres wurden 8,2 Milliarden Shilling (etwa 58 Mio. Euro) für Katastrophenmanagement bereitgestellt. Aber in Mathare ist nichts passiert, unsere Regierung hat nichts getan. Es tut weh, das zu sehen.
Letztes Jahr hatten wir eine Kampagne mit dem Slogan „Let the River flow“, mit der wir uns für einen sauberen Fluss und für Parks entlang des Flusses eingesetzt haben. Wir hatten ein Flussfest. Wir haben versucht, Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Häuser entlang des Flusses und die Menschen, die dort leben, evakuiert werden müssen, weil es nicht sicher ist, dort zu leben. Wir hatten die Befürchtung, dass eine Überschwemmung katastrophale Folgen haben würde. Aber wohin sollen die Menschen gehen, wenn wir sie auffordern, das Flussufer zu verlassen? Die Häuser entlang des Flusses und in Mathare generell sind für die Bewohner:innen von großer Bedeutung. Land wurde dort über Generationen weitergegeben. Und einige Leute haben das Land von der Regierung verkauft bekommen, sogar die Anrainergrundstücke.
Wir haben immer wieder gesagt: Die Wohnungen in Mathare sind nicht menschenwürdig. Seit zehn Jahren setzen wir uns für bessere Wohnverhältnisse ein. Das ist es, was wir unter sozialer Gerechtigkeit verstehen: das Recht auf Wohnung, das Recht auf Wasser, das Recht auf angemessene Gesundheitsversorgung, das Recht auf Nahrung. All diese Menschenrechte, die wir haben sollten.
Gleichzeitig gibt es Vertreibungen.
Wir haben gesehen, was in Mukuru kwa Njenga, einem benachbarten Slum, passiert ist. Unsere Freund:innen dort wurden gewaltsam vertrieben, um Platz zu machen für „bezahlbaren Wohnraum“, von dem unklar ist, wann und für wen es ihn geben wird. Es war wie ein Krieg zwischen den Menschen und der Regierung. Alle Jugendlichen kämpften darum, ihre Häuser behalten zu können, und die Regierung kämpfte darum, sie zu vertreiben. Dann gab es ein Gerichtsverfahren – und bis heute leben Menschen in Mukuru in Zelten, weil sie nirgendwo hinkönnen. Als unsere Leute in Mathare hörten, dass es auch hier „bezahlbarer Wohnraum“ geschaffen werden solle, haben sie Angst bekommen, dass sie wie die Leute in Mukuru behandelt würden und begannen, sich zu organisieren.
Dann kamen die Überschwemmungen und die Regierung begann ohne Vorankündigung mit dem Abriss von Häusern und Unterkünften entlang der Flussufer im Slum Kiamaiko. Das passiert gerade. Die Häuser der Armen werden abgerissen und die Menschen aufgefordert, in höher gelegene Gebiete zu ziehen. Eine echte Alternative oder Entschädigung wird ihnen aber nicht geboten. Die Menschen sind wütend.
Deshalb werden wir morgen eine Demonstration veranstalten. Gestern war der Präsident hier und sagte, dass alle Menschen, die freiwillig vom Flussufer wegziehen, 10.000 Shilling (umgerechnet 70 Euro) erhalten sollen, um ein anderes Haus zu finden. Niemand hat Vertrauen in dieses Versprechen. Die Menschen ziehen nicht freiwillig um, ohne zu wissen, wohin. In wohlhabenden Vierteln gibt es auch Grundstücke am Fluss, aber dort wird niemand gezwungen zu gehen. Das ist eine ungleiche Anwendung des Gesetzes.
Welche Bedeutung haben Land und Wohnraum in Kenia?
Mathare ist ein Tieflandgebiet, während der Kolonisierung wurde das Hochland von den Weißen eingenommen, das Tiefland den Einheimischen überlassen, die als Arbeitskräfte dienten. Auch nach der Unabhängigkeit Kenias lebten die Menschen weiter im Tiefland. Doch langsam gibt es Bestrebungen, Land zurückzufordern. Auch darum geht es bei der morgigen Demonstration, um die Forderung nach Land. Die Mehrheit der Menschen in Kenia ist nach wie vor landlos. Dabei hat Land für die Menschen große Bedeutung. Denn wenn man Land hat, hat man ein Haus, einen Garten und kann sich selbst ernähren. Wenn man kein Land hat, wird man anfällig für Ausbeutung. Dann muss man arbeiten, um zu essen, um die Miete zu bezahlen, um zu überleben. Das Recht auf angemessenen Wohnraum ist in der kenianischen Verfassung verankert. Was die Menschen morgen fordern, ist ein garantiertes Recht. Die Menschen haben das Gefühl: Die Verfassung steht hinter ihnen.
Was ist schlecht daran, wenn neue Häuser gebaut werden?
Der Präsident hat gesagt, man werde bezahlbare Häuser für die Bewohner:innen von Mathare bauen. Was passiert also? Die Regierung stellt das Land Unternehmen zur Verfügung, die dort Häuser bauen und sie verkaufen. Diese Häuser kosten Millionen von Shilling. Niemand aus Mathare kann sie sich leisten. Für wen werden diese „bezahlbaren Häuser“ also gebaut? Wir überlegen gerade, ob Menschen aus Mathare diese Häuser besetzen können. Denn sie werden in unserem Namen gebaut.
Mit den Überschwemmungen wird noch deutlicher als ohnehin schon, dass die Armen auf sich allein gestellt sind und ihnen keine Hilfe von außen zuteil wird. Und wenn Hilfe kommt, dann meist nur für ein paar schöne Bilder. Immer kurz vor den Wahlen kommen Politiker nach Mathare und spielen mit der Hoffnung der Menschen. Sie wissen, dass die armen Menschen ihnen Gehör schenken, ihre Hoffnung auf sie setzen.
Zum Beispiel war der Vizepräsident nach der Überschwemmung hier und brachte 500 Matratzen für die über 2000 betroffenen Menschen. Der Chief nahm die Matratzen und hat sie weiterverkauft. Das ist also überhaupt nicht effektiv. Wenn man Opfer einer Überschwemmung ist und hört, dass der Vizepräsident kommt, erwartet man natürlich, dass er helfen wird. Man erwartet, dass sich die Situation verbessert. Und dann erfährt man, dass sie nur 500 Matratzen mitgebracht haben, die nicht an die wirklichen Opfer verteilt, sondern vom Chief verkauft werden. Das ist furchtbar.
Ihr plant eine Analyse der Ursachen für die Zerstörung durch die Sturzfluten und eine Public Interest Litigation, eine Klage zur Wahrung des öffentlichen Interesses. Was versprecht ihr euch davon?
Wir planen auch Gedenkbäume für die Toten am Flussufer. Wir wollen an sie erinnern. Aber die Menschen haben auch das Gefühl: Wir müssen die Regierung zur Rechenschaft ziehen. Denn wenn sie zuvor bessere, wirklich bezahlbare Häuser gebaut hätten, hätten die katastrophalen Folgen der Überschwemmungen verhindert werden können. Wir ziehen die Regierung vor allem für den Verlust von Menschenleben zur Rechenschaft. Die Bewohner:innen von Mathare haben Kinder, Ehepartner:innen verloren. Wir können uns nicht damit abfinden, dass es sich um eine Naturkatastrophe handeln soll.
Das Interview führten Felix Litschauer, Hendrik Slusarenka und Nora Horn.
Nach verheerenden Überflutungen leisten medico-Partnerorganisationen, darunter auch das Mathare Social Justice Centre, Soforthilfe für die Menschen in den Slums von Nairobi und unzugänglichen ländlichen Gebieten.