Israel/Palästina

Annexion oder schlechter Status Quo?

19.12.2019   Lesezeit: 10 min

Es zeichnet sich eine Formalisierung des Rechts der Stärkeren ab, in dem die Besatzungsmacht und nicht mehr das Völkerrecht entscheidet. Von Mariam Puvogel, Ramallah

Als US-Außenminister Mike Pompeo Mitte November verkündete, die USA würden von nun an israelischen Siedlungsbau in der seit 1967 militärisch besetzten Westbank nicht mehr per se als völkerrechtswidrig einstufen, löste dies eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen innerhalb und außerhalb Israels und Palästinas aus. Regierungen in Europa, sowie Politiker_innen der Demokrat_innen in den USA äußerten sich überwiegend kritisch und wurden nicht müde, die inzwischen zynisch klingende Phrase zu wiederholen, hiermit würde nun die Chance auf eine Zwei-Staatenlösung endgültig beendet (von der wir seit Oslo nie weiter entfernt waren). Kommentare aus dem progressiven Lager in Palästina fielen auffallend nüchtern aus. Denn die Wende in der Haltung der USA zum Siedlungsbau kann in der Tat auch schlicht als Formalisierung der ohnehin seit Jahren praktizierten amerikanischen Nahostpolitik eingeordnet werden, wie vor allem palästinensische Aktivist_innen feststellen.

In einem Café in Ost-Jerusalem treffe ich Nadim, der hier aufwuchs und sich seit vielen Jahren in queeren palästinensischen Gruppen engagiert. Der junge Aktivist stellt trocken fest: „Im Mai 2018 wurde entschieden, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen. Im April 2019 wurden die von Israel annektierten Golanhöhen anerkannt. Jetzt folgt die dritte Zäsur in der amerikanischen Nahostpolitik und gleichzeitig vielleicht die Einleitung einer neuen Ära des ehrlicheren, offeneren Umgangs mit den eigenen Interessen. Es ist ja nicht so, als ob die USA in den letzten 20 Jahren tatsächlich etwas gegen die Siedlungsexpansion getan hätten. Nur haben wir jetzt mit David M. Friedman zum ersten Mal einen amerikanischen Botschafter, der keinen Hehl daraus macht, dass die Grüne Linie keinerlei Bedeutung mehr hat und der sich offen für ein 'Greater Israel'[1] einsetzt.“

Dabei begründete US-Außenminister Mike Pompeo den Wandel in der Rechtsauslegung zum Siedlungsbau bezeichnenderweise indem er sagte, es müsse endlich den bestehenden Tatsachen Rechnung getragen werden; es müsse anerkannt werden, dass eine Lösung des „Konflikts“ nicht über die Durchsetzung internationalen Rechts gelingen würde. Damit vollziehen die USA die Logik der israelischen Siedlungspolitik mit, die bereits in den ersten Jahren der Besiedlung darauf abzielte, durch den Bau von Siedlungen Fakten zu schaffen, die dann als Ausgangspunkt von Verhandlungen galten.

Formalisierung des Rechts des Stärkeren

Dass Pompeo nun erklärte, es sei unrealistisch geworden, den Abzug der Siedler_innen aus den besetzten palästinensischen Gebieten zu fordern, ist eine Haltung, die auch andere Staaten ermutigen dürfte, Völkerrecht so lange zu brechen, bis die dadurch geschaffenen Fakten als nicht mehr revidierbar gelten. Damit wird auch die israelische Rechtsauslegung nachvollzogen, die sich vorbehält, auch gegen internationales Recht selbst zu entscheiden, welche Siedlungen legal sind und unter welchen Umständen die nach israelischem Recht (noch) nicht legalisierten Außenposten anerkannt werden können.

Es zeichnet sich eine Formalisierung des Rechts der Stärkeren ab, in dem die Besatzungsmacht und nicht mehr das Völkerrecht darüber entscheidet, wie das Recht innerhalb eines besetzten Gebietes aussieht.

Die Erklärung der Trump-Administration fällt zudem in eine Zeit, in der auch in Israel Positionen salonfähig geworden sind, die offen für eine Annexion großer Teile der Westbank plädieren. Als Noch-Premierminister Netanjahu während des Wahlkampfs im September 2019 erklärte, in den Siedlungen im Jordantal nach seiner Wiederwahl „israelische Souveränität“ anwenden zu wollen (was eine formale Annexion bedeuten würde) blieb ein größerer Aufschrei in Israel aus.

Das inzwischen gegen den langjährigen Premierminister eröffnete Korruptionsverfahren ändert nicht viel an den düsteren Aussichten für die palästinensische Bevölkerung, denn auch Netanjahus Rivale Benny Gantz von der Partei Blau-Weiß machte deutlich, dass er eine Annexion der betroffenen Gebiete unterstütze. Er bezichtigte seinen Rivalen gar, diese Idee von ihm übernommen zu haben. Wenn sich die zwei Kandidaten für das höchste politische Amt in Israel darum streiten, wer zuerst die Idee völkerrechtswidriger Annexion habe umsetzen wollen, macht dies deutlich, dass das Projekt eines „Greater Israel“ längst keine Idee des rechten Randes mehr ist.

Annexion oder schlechter Status Quo im Jordantal?

Während in Israel nun zum dritten Mal dieses Jahr Wahlkampf betrieben wird, sind wir mit dem medico-Partner Breaking the Silence auf einer Tour in der Westbank, in der wir uns die verschiedenen historischen Etappen von Landraub und Enteignung vor Ort erschließen, um die gegenwärtige Lage besser einordnen zu können. Yehuda Shaul, einer der Gründer der israelischen Organisation, in der sich ehemalige Soldat_innen für ein Ende der Besatzung engagieren, schwankt zwischen Pessimismus angesichts der herrschenden Verhältnisse und der Entschlossenheit, nicht aufzugeben in den Bemühungen, einen Kurswechsel der israelischen Politik bzw. der passiven Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber den anhaltenden Rechtsbrüchen und Menschenrechtsverletzungen anzustrengen: „Dass die Annexion des Jordantals inzwischen als Wahlkampfversprechen dient, ist weder überraschend noch kommt sie aus dem luftleeren Raum. Das 'Annexions-Lager' in Israel ist über die letzten 15 Jahre beständig gewachsen und gräbt dem Lager derjenigen, die zwar für eine vollständige Kontrolle der Westbank, nicht aber für dessen Einverleibung sind, zunehmend das Wasser ab.“ Ironisch fügt er hinzu: „Wer sich jetzt Gedanken um die Zukunft der Siedler_innen macht, es besteht kein Grund zur Sorge. Keines der beiden dominierenden Lager zieht palästinensische Selbstbestimmung, egal in welcher Form, in Betracht. Größter Vorbehalt der politischen Eliten, die sich gegen die Annexion aussprechen, ist die Befürchtung, bei einer Annexion auch für die noch nicht vertriebene palästinensische Bevölkerung in den annektierten Gebieten zuständig zu werden bzw. diese dann unfreiwillig zu gleichberechtigten Bürger_innen machen zu müssen.“

Bei einer Fahrt durch das Jordantal, wo Landraub und Enteignung palästinensischer Bauern seit Jahrzehnten zum Alltag gehören, wird schnell klar, warum die an Jordanien grenzende Region eine so zentrale Rolle für den israelischen Staat spielt und für die palästinensische Gesellschaft einen nicht zu verkraftenden Verlust darstellen würde. 60 Prozent aller landwirtschaftlichen Produkte kommen aus dem Tal, das auch „Brotkorb Palästinas“ genannt. Nachdem das Gebiet 1967 erobert wurde, begann der israelische Staat – anders als an anderen Orten der Westbank – umgehend mit der Entwicklung langfristiger Konzepte für das Gebiet. Einer der ersten Pläne wurde direkt nach dem Krieg von Yigal Allon entwickelt, dem damaligen Arbeitsminister, der die strategische Bedeutung des Tals erkannte und keinen Hehl daraus machte, dass die Besatzung hier keine temporäre Angelegenheit werden sollte. So sah der Allon-Plan[2] bereits in den 1960er Jahren die Annexion großer Teile des Jordantals und des Gazastreifens vor, während die bevölkerungsreichen Teile Jordanien zugeschlagen und Palästina so „aufgelöst“ werden sollte.

Zusätzlich hob Allon die Bedeutung von Militärbasen und Truppenübungsplätzen für eine starke israelische Präsenz im Tal hervor. Auch die Siedlungen sollten als „Sicherheitsgürtel“ eine zweite Front Richtung Jordanien bilden. Bis heute gibt es in keinem anderen Teil der Westbank so viele Militärübungsplätze wie im Jordantal. Etwa die Hälfte des Tals wurde von Israel zu Militärzonen erklärt, in denen regelmäßig Übungen stattfinden. Hier führt die israelische Armee Manöver durch, während derer die Bevölkerung nach Bedarf stunden- oder tageweise aus ihren Dörfern vertrieben wird, Felder zerstört werden und oft noch scharfe Munition und Sprengkörper auf Weideflächen zurückbleiben.

Obwohl der Allon-Plan in Gänze nie umgesetzt wurde (nicht zuletzt scheiterte er an der Absage Jordaniens), bildet er bis heute die Basis israelischer Strategien und ist ein Vorläufer der heutigen Annexionspläne. Die vom israelischen Staat gebaute Verbindungsstraße vom nördlichen Jordantal durch die Hügelkette oberhalb des Tals in Richtung Südwesten wurde dem ehemaligen Militär zu Ehren „Allon Road“ benannt. Diese Straße markiert genau die Demarkationslinie für die gegenwärtigen Annexionspläne.

Trotz dieser langen Geschichte von Annexionsplänen für das Gebiet hebt Yehuda Shaul die Kontroverse innerhalb der israelischen Rechten um diese Frage hervor: „Viele argumentieren zu Recht, dass eine Annexion keinen direkten Vorteil für die Siedlerbewegung hier bedeuten würde. 90 Prozent der Ressourcen im Jordantal sind bereits seit Jahrzehnten unter Israels Kontrolle. Die Siedler_innen leben gut hier, sie zahlen 60 Prozent weniger Steuern als innerhalb Israels und profitieren von der Einrichtung der sogenannten 'Zonen nationaler Priorität', in denen durch Subventionen in den Bereichen Wohnungsbau, Bildung und Landwirtschaft Anreize für Israelis geschaffen werden, sich an bestimmten Orten niederzulassen. Warum also sollte jetzt riskiert werden, dass durch eine formale Annexion des Jordantals dann doch einmal internationaler Protest stärker werden könnte? All die Jahre hat der Staat hier beständig und umfassend Fakten geschaffen und kein Siedler muss Angst haben, dass irgendeine Regierung in den nächsten Jahren den Status quo antasten würde. Diejenigen, die trotzdem für eine formelle Annexion plädieren, sind vor allem die nationalreligiösen Hardliner, die die Sache weniger pragmatisch betrachten und das Gefühl haben, mit dieser amerikanischen Regierung eine Chance bekommen zu haben, die sie nicht verstreichen lassen dürfen.“

Nicht das Völkerrecht ist das Hindernis, sondern die ständigen Verletzungen desselben

Auf ihre eigene Rolle als Organisation innerhalb dieser ziemlich hoffnungslos anmutenden Gemengelage erwidern die Partner_innen von Breaking the Silence fast trotzig: „Uns ist klar, dass momentan der Druck, den es bräuchte, um diese Prozesse aufzuhalten, nicht aus unserer Gesellschaft kommen wird. Das linke Lager ist in den letzten Jahren beständig geschrumpft und inzwischen so marginal, dass wir uns quasi alle namentlich kennen. Optimistisch gesehen engagieren sich noch 4 Prozent der israelischen Bürger_innen gegen die Besatzung. Die Grüne Linie wurde vor langer Zeit aus unseren Schulbüchern gestrichen, für viele Israelis sind heute Siedlungen einfach nur noch Dörfer und Städte außerhalb der Zentren. Dass wir die palästinensischen Gebiete bis jetzt militärisch besetzen, wird verdrängt. Das Beste, worauf wir hoffen, ist in den nächsten Jahren wieder eine solide Minderheit von 10 Prozent zu werden. Dafür kämpfen wir, indem wir versuchen, die junge Generation zu erreichen. Auf unsere Touren kommen Schüler_innen, Studierende und Pfadfinder_innen, also junge Israelis aus verschiedenen sozialen Schichten. Die Bildungsarbeit in der Gesellschaft ist wichtig – letztlich wird es aber nur Druck aus dem Ausland sein, der unsere Institutionen zwingt, sich an internationales Recht zu halten.“

Zurück in Ost-Jerusalem fasst Nadim die gegenwärtige Lage zusammen: „Die amerikanische und die israelische Regierung sind sich in vielen politischen Kernfragen einig. So auch in der absurden Vorstellung, internationales Recht sei ein Hindernis für Frieden in diesem Land. Tatsächlich ist aber nicht das Völkerrecht das Hindernis, sondern die ständigen Verletzungen desselben. Die USA sagen nun, die Palästinenser_innen sollen aufhören, die Einhaltung internationalen Rechts überhaupt noch einzufordern und stattdessen bilateral in einem Kräfteverhältnis verhandeln, das asymmetrischer nicht sein könnte und in dem die israelische Seite von vornherein klar stellt, dass politische und soziale Gleichberechtigung keine Option ist. Pompeo scheint keinerlei Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Sonst wüsste er, dass internationales Recht und die Rechenschaftspflicht gegenüber diesem nicht nur kein Hindernis, sondern vielmehr die Vorbedingung für jeden gerechten Frieden sind. Alles andere ist eine Grabstille, in der die Sieger den Unterworfenen ihr Recht diktieren. Das Wort Frieden hat letztere Ordnung nicht verdient.“

Spendenstichwort: Israel/Palästina


[1] Eine Vision der israelischen Rechten, in der auch die Westbank (und vor 2005 der Gazastreifen) als Teil des Staates definiert wird. Um dem Anspruch religiöse und historische Legitimität zu verleihen, indem die biblische Vergangenheit bemüht wird, bezeichnen Vertreter_innen eines “Greater Israel” die Westbank als „Judäa und Samaria“.

[2] Die palästinensische Bevölkerung sollte in die dicht besiedelten Zentren der Westbank umgesiedelt werden, die dann zusammen mit dem nördlichen Teil des Gazastreifens in einen Jordanisch-Palästinensischen Staat integriert werden sollten, der von Amman aus regiert werden würde. Ein von Israel militärisch kontrollierter Korridor sollte zudem den Verkehr zwischen Jordanien und den palästinensischen Enklaven der Westbank erlauben.

Mariam Puvogel

Mariam Puvogel war bis Ende 2020 medico-Büroleiterin Israel und Palästina.


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