Gemeinsam mit einer Gruppe Wissenschaftler:innen hast du im Oktober 2023 die „Berliner Erklärung – In Verteidigung der Migrationsgesellschaft“ lanciert, die von über 3.000 Personen unterschrieben wurde. Wie ist es dazu gekommen?
Hintergrund ist unser seit 2019 in Berlin laufendes Forschungsprojekt mit dem langen Titel „Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft“. In diesem Projekt gehen wir der Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt mit einer Forschung zur Solidarität nach. Angesichts der Erosion demokratischer Strukturen brauchen wir ein Umdenken, das nicht nur tagespolitische Fragen aufwirft, sondern auch die Verfasstheit der Gesellschaft thematisiert. Hier ist der Solidaritätsbegriff relevant, nicht der verwässerte, rein appellative, sondern ein (infra-) struktureller: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit von gesellschaftlicher Solidarität und wie kann sie multipliziert werden?
Gleichzeitig erleben wir, dass die öffentliche Diskussion immer rauer wird, insbesondere in Bezug auf Migration. Die migrationspolitischen Gesetzesverschärfungen, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene, haben uns dann dazu veranlasst, diese Erklärung zu verfassen. Wir wollten die Idee einer Demokratisierung durch Migration in Erinnerung rufen. Als wir die Erklärung im Oktober 2023 verfassten, stellten wir erneut fest, dass eine Reihe von Standards aufgegeben worden war, für die viele von uns seit Jahrzehnten gestritten hatten. Nicht zufällig verweist unser Projekttitel auf die Migrationsgesellschaft. Sie ist die Realität, aber in einer unguten Weise Gegenstand von Auseinandersetzungen. Davor wollten wir warnen.
Wie kann man diese Aufgabe von Standards, den Erdrutsch, als den viele die politische Situation empfinden, erklären?
Wir haben es mit einer sehr gefährlichen Dynamik zu tun. Rechte Kräfte erklären Migration schon lange zum zentralen Problem und treiben die Regierungen vor sich her, auch in Deutschland. Dabei war die jetzige Bundesregierung angetreten, um eine klimafreundlichere, eine migrationsfreundlichere, eine geschlechtergerechtere Politik zu verfolgen. Sogar den Kampf gegen Rassismus hatte sie sich auf die Agenda geschrieben. Doch wir erleben in vielerlei Hinsicht das Gegenteil. Das war auch schon so, bevor Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Spiegel-Cover die Losung „Im großen Stil abschieben“ ausgab oder die Reform des europäischen Asylrechts, GEAS, durchgewunken wurde. Migrationsbekämpfung kommt im demokratischem Gewand daher, stellt aber eine massive Konzession an die rechten Kräfte in Europa dar, um – paradoxerweise – das europäische Projekt unter den gegebenen geopolitischen Spannungen retten zu wollen. Gleichzeitig wird behauptet und natürlich auch gehofft, dass man damit die menschliche Mobilität in den Griff bekommt. Das ist eine sehr gefährliche und riskante Wette auf die Zukunft. Denn wir wissen aus vielen, auch historischen Studien, dass sich Migration nicht unterbinden lässt.
Es gab ja lange Zeit eine Art Gewissheit, dass sich in Deutschland eine stabile Mehrheit gegen den Rechtsruck stellen würde. Warum sind die vielen Akteure, die für eine offene Gesellschaft streiten, in den letzten Jahren so in die Defensive geraten?
Ich sehe dafür mehrere Gründe. Ein wichtiger ist: Wir haben nach 2015 eine allmähliche Legitimationskrise der Solidaritätsbewegung, auch Willkommenskultur genannt, erlebt. Viele, vielleicht zu viele Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Migrationsfrage stellen, wurden aus einer humanitären Logik heraus, im Verweis auf einen Humanitarismus, beantwortet. Dieser Geist hilft in vielen Situationen, er gibt der solidarischen Praxis Sinn und begründet, warum Menschen helfen. Wir haben das erneut zu Beginn des Krieges in der Ukraine erlebt: Gesellschaftlichee Kräfte werden mobilisiert und ermöglichen Menschen, im Alltag zu leben, in welcher Gesellschaft sie leben wollen.
Aber dieses Handeln kann sich erschöpfen, wenn es nicht institutionell bestätigt und unterstützt wird. Rechtlich gab es im Bereich der Migration jedoch eine Verschärfung nach der anderen. Damit wurde diesem zivilgesellschaftlichen Handeln zuwidergehandelt. Es braucht nicht nur Empathie, sondern auch Menschenrechtsverpflichtungen und internationale Rechte. Es müssten Anstrengungen unternommen werden, um die Migrationsgesellschaft demokratisch zu konkretisieren. Gleichzeitig ist die öffentliche Infrastruktur zusammengespart worden. Und die müsste in solchen Situationen gestärkt werden, weil sie allen zur Verfügung steht: Straßen, Schulen, Schwimmbäder etc.
In der Erklärung fordert ihr noch: „Nun gilt es, in Verteidigung der Migrationsgesellschaft aufzustehen und zu widersprechen.“ Und nun, plötzlich, regt sich etwas: In den letzten Wochen sind Millionen Menschen auf die Straße gegangen, gegen den Rechtsruck und die AfD. Woher kommt dieser starke Gegenwind auf einmal?
Vieles erinnert an den Geist der Willkommensgesellschaft, über den lange Zeit geschwiegen wurde. Es ist paradox, dass die Migrationspolitik so lange auf Regierungs- und Gesetzesebene verschärft wurde und kaum an Verbesserungen oder gar eine neue Migrationspolitik gedacht wurde. Stattdessen haben wir in der Öffentlichkeit viele, geradezu rassistische, Kampagnen erlebt, erinnert sei nur an die Kölner Silvesternacht. Vieles wurde hingenommen. Aber mit den Recherchen von Correctiv ist etwas „übergelaufen“. Es wurde klar: Die AfD will Millionen Menschen aus Deutschland deportieren und die „Migrationsfrage“ völkisch lösen. Zum Sterbenlassen im Mittelmeer und den Hierarchien in unserer Gesellschaft kommt die Idee der Reinheit des Volkes. Das bringt Menschen auf die Straße. Diesem Rassendenken wollen die Menschen nicht folgen. Und die Stimmen sind vielfältig. Bemerkenswert sind die aus der Popkultur wie von Helene Fischer und aus der Wirtschaft, etwa vom Vorstandsvorsitzenden von Infineon. Letztere fürchten vermutlich auch, dass die Arbeitskräfte noch knapper werden. Schon als Friedrich Merz im letzten Sommer hetzte, Asylbewerber:innen seien der Grund, weswegen man keine Termine beim Zahnarzt bekäme, widersprach der Zahnärzteverband diesem Unsinn öffentlich. Dass solche Akteure sich zu Wort melden, ist nicht zu unterschätzen. Denn auch sie müssen die Frage beantworten: Gibt es ein Bekenntnis zur Migrationsgesellschaft, wie es in den Demonstrationen zum Ausdruck kommt?
Wie geht es weiter?
Es ist notwendig, öffentlich Debatten über die Migrationsgesellschaft jenseits eines populistischen und rassistischen Framings zu führen. Eine entscheidende Frage wird dabei sein, wie man sich zur Migrationsgesellschaft positioniert. Dem rechten Grundverständnis eines völkischen Bevölkerungsbegriffs muss eine klare Absage erteilt werden. Es sollte deutlich werden, dass Migration mit gesellschaftlichen Herausforderungen verbunden ist, denen wir uns demokratisch stellen müssen. Der Rechtsruck ist viel breiter und lässt sich nicht nur auf die AfD begrenzen. Die Folgen sind enorm und führen alle in die Defensive. Die Zurückhaltung bei Frauenrechten, wie wir sie gerade von Justizminister Marco Buschmann erlebt haben, gehört genauso dazu wie die Militarisierung im großen Stil, die in ihrer geopolitischen Komplexität ungleich schwerer zu thematisieren ist, denn viele sind von ihrer Notwendigkeit überzeugt.
Es geht jetzt darum, mit allen Kräften zu verhindern, dass es bei den Wahlen im Sommer einen absoluten Rechtsruck gibt. Da sind die Demonstrierenden in gewisser Weise auf die Regierung angewiesen. Das gilt aber auch umgekehrt. Wenn auf den Demonstrationen plakatiert wird: „Wir sind die Brandmauer“, dann wird sehr deutlich: Wenn ihr das nicht schafft, dann machen wir das als Gesellschaft jetzt selbst. Das kann man hören und aufnehmen oder auch nicht.
…und wenn ich dich richtig verstanden habe, braucht es dazu auch eine Idee von Solidarität?
Die Demos sind aus meiner Sicht auch ein Bekenntnis zu solidarischem Handeln. Ohnehin muss die Frage der Solidarität ein viel größeres Gewicht bekommen. Wie sonst können wir den zentrifugalen Kräften der Globalisierung begegnen? Finanzialisierung, Digitalisierung, Fragen der Extraktion, die Bedingungen, unter denen wir auf Kosten anderer leben. Wir müssen die Frage neu stellen, wie wir neue und erneuerte Strukturen gesellschaftlicher Solidarität schaffen können. Migration ist immer Demokratie-Außen- und Demokratie-Innenpolitik zugleich: die Art und Weise, wie man sich als Gesellschaft zu den Ankommenden verhält.
Was bedeutet es, dies grundsätzlich demokratisch und solidarisch für alle gestalten zu wollen? Es bedeutet, Grenzen anders zu denken, als Schnittstelle, und zu überlegen, wie man dort Demokratie einbaut. Es reicht vom Ausbau der kommunalen und sozialen Infrastruktur für alle, über klare, progressive Einwanderungsgesetze und Flüchtlingsschutz, einschließlich einer neuen EU-Nachbarschaftspolitik bis zur Demokratisierung der Staatsangehörigkeitsrecht. Das ist das große Programm der Demokratisierung der Grenzen, die sich bis ins Innere durchziehen muss – nicht, weil es um einzelne Migrant:innen geht, sondern weil die Frage der Migration die Frage der Demokratie herausfordert.
Und wie können wir anders über Migration sprechen als, ja, als alle anderen?
Ich bin überzeugt, dass die AfD und ihre Wähler:innen von vielen für Leute gehalten werden, die im Prinzip „zu ihnen“ gehören. Aber was heißt das? Dass sie diese Gesellschaft in ein völkisches Verständnis dieses „Dazugehörens“ treiben. Wenn der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer sagt, „Migration ist die Mutter aller Probleme“, dann müssen wir dem entgegensetzen, dass Migration der Anfang der Lösung für jede Demokratie ist. Migration ist die kommende, die zukünftige Bevölkerung.
Das Interview führten Mario Neumann und Kerem Schamberger.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!