Die Covid19-Pandemie zeigt vielleicht so deutlich wie noch nie zuvor in unser eigenen Lebenszeit, dass Gesundheitspolitik und gesundheitspolitische Debatten immer beides gleichzeitig sind: Ganz weit weg und ganz nah dran. Ganz weit weg im Expert*innenreich der Virologie und Epidemiologie, der mathematischen Modellierungen, der Hochtechnologie-Medizin, der Medizingeschichte und Medizinethik, der Philosophie und Politikwissenschaft, der geistigen Eigentumsrechte und Wirtschaftsregime, der „Ressourcenallokation“ und Profitinteressen, der biopolitischen Kontrollregime und Überwachungspraxen – und zugleich ganz nah dran an der eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit, unserer Lebensplanung und Arbeitspraxis, der Sorge um unsere Lieben.
Wer von uns hätte vor einem Jahr den R-Wert gekannt oder die Spike-Proteine der Covonaviren? Wer die Aerosolforschung und die FFP2-Masken? Wer hätte sich ausmalen können, dass komplette Wirtschaftsbereiche wie Gastronomie, Tourismus und Kulturindustrie monatelang geschlossen bleiben? Dass sich Altersheime flächendeckend und über Monate in beschützte Gefängnisse ohne Besuchserlaubnis verwandeln, in denen trotzdem die Angst vor dem nächsten Infektionsausbruch grassiert? Dass politische Wohnzusammenhänge nicht wegen ideologischer Fragen scheitern, sondern daran, wer wieviel Besuch bekommt?
Trügerische Hoffnung
Trotz der vielen „nicht pharmazeutischen Maßnahmen“ wie Abstandhalten, Masken tragen, erhöhter Hygiene und des zeitweisen Schließens (mit all seinen dramatischen Folgen) immer weiterer Bereiche der Kultur, des Tourismus und des Einzelhandels bis hin zum Bildungswesen, die alle von der menschlichen Begegnung und ihrer Mobilität leben, widersteht die Pandemie gerade auf dem europäischen Kontinent in der „zweiten Welle“ schon seit Monaten einer substantiellen Reduktion. Das lässt den Ruf nach einem noch einmal radikaleren Shutdown laut werden, der mit der Hoffnung auf die anschließende Kontrollierbarkeit bis hin zum Ziel von null Infektionen verbunden ist.
Dies ist völlig naheliegend. Doch die Hoffnung auf ein rasches Ende der Pandemie nach den vergleichsweise ruhigen Sommermonaten in Europa erweist sich trotz beginnender Impfungen zu Beginn des zweiten Krisenjahres als trügerisch. Es scheint eher, als würde das Virus seinen Angriff auf unser Leben verstärken: Er wird leichter übertragbar, treibt die Infektionszahlen wieder nach oben und uns vor sich her in unserer Angst und unserer Sorge um die Schwerkranken und Sterbenden und wie das alles noch weiter geht. Ein Ausweg scheint das noch längere und noch stärkere Einschränken unserer potentiellen Infektionsgefahren, der Mobilität, der Arbeits- und Lebenswelten. Diese Strategie erscheint aktuell als die absolut Notwendige.
Und tatsächlich haben es andere Länder und Weltregionen geschafft, sehr viel besser die Ausbreitung des Virus einzudämmen, insbesondere in Ost- und Südostasien. Doch auch wenn es einen solchen gemeinsamen Kraftakt für einen „vollständigen Lockdown“ mit sozialer Absicherung wie im ZeroCovid-Aufruf vorgeschlagen in Europa geben würde, gibt es große, begründete Zweifel: nicht nur, ob sich eine solche Strategie durchsetzen ließe, sondern auch, ob sie den erwünschten Erfolg (und für wie lange) hätte. Daher kann eine Diskussion über die Pandemie nicht darauf verzichten, das wahrscheinlichere Szenario eines Lebens mit einem – so gut es geht – eingedämmten Virus zu diskutieren.
Woher rührt die Skepsis?
Die Hoffnung auf ein „Aushungern“ des Virus durch verordnete Bewegungs- und Berührungslosigkeit für alle erinnert an die radikalen Forderungen nach „No Sex“ in den 1980er Jahren, als das HI-Virus zuerst in den US-amerikanischen und dann auch in europäischen Schwulenszenen Panik auslöste. Auch hier gab es Appelle zur kompletten Enthaltsamkeit, zur Unterstützung für die Versuche des Staates, mit den Infektionsorten aufzuräumen, der Schließung von Saunen und Darkrooms, dem Ende der Promiskuität. Diese scheinbar einfache und naheliegende radikale Lösung war aber nicht praktikabel und realisierbar. Nicht nur war der Widerstand der Betroffenen gegen solche massiven Einschränkungen ihrer individuellen Handlungen hoch und fand mit Gesundheitsministerin Rita Süssmuth in der konservativen Bundesregierung überraschende Unterstützung, für die langfristige Reduzierung infektionsgefährdender Situationen erwiesen sich auch mit der Todesangst arbeitende Appelle als ungeeignet.
Erfolg hatten im Gegenteil die Konzepte des „Safer Sex“ – das Aushalten der ambivalenten Wünsche nach Schutz vor der Infektion und dem Bedürfnis nach Nähe, auch nach Kontrollverlust und Rausch. Das praktische Symbol (und der konkrete Schutz) dieses Konzepts war das Kondom, das durch den offensiven Umgang damit und seiner Bewerbung eine enorme Sichtbarkeit und Verbreitung gewann und zu jahrzehntelang stabilen „Kondomisierungsraten“ des schwulen Sex führte. Abstandsgebote und Maske übernehmen diese Funktion heute in der Covid19-Pandemie. Das Werben für die geteilte Verantwortung für den Infektionsschutz akzeptierte auch das Scheitern daran, in dem es die (temporäre) Unvernunft des Individuums verteidigt und die Sorge um die trotz aller Vorsicht stattfindende Infektion nicht dämonisiert und moralisch verurteilt.
Deshalb propagieren wir trotzdem keine Corona-Parties. Aber so lassen sich überzeugendere Argumente finden in Zeiten des Misstrauens gegenüber den Expert*innenappellen. Denn der Appell an die Solidarität mit den Opfern der Pandemie muss auch die Solidarität mit denjenigen einschließen, die sich nicht in ihre Studierstube und ihre „sichere“ Paarbeziehung zurückziehen und die Pandemie scheinbar aussitzen können. Die, deren Leben nicht nur gezwungenermaßen viel auf der Straße stattfindet, deren überlebenswichtige Mobilität durch Corona-bedingte Grenz- und Polizeikontrollen eingeschränkt wird, die in diffusen Beziehungen leben und dadurch stärker von Infektionen (durchaus nicht nur mit dem Coronavirus) gefährdet sind.
Angst ist keine gute Ratgeberin
Aus der AIDS-Pandemie lernen wir auch: Wir sollten und dürfen uns nicht auf das Moment der Angst verlassen, dass die hohen Infektionszahlen scheinbar so überzeugend macht. Und wir können das Thema der Angst nicht mit der Hoffnung auf „Null Infektionen“ suspendieren. Denn Angst ist der falsche Ratgeber, er stärkt die autoritären Lösungen, nicht die solidarischen. Dies ist beim „Krieg gegen den Terror“ so und so ist es beim „Krieg gegen das Virus“. Wir sagen es zwar oft, aber vergessen es auch oft wieder: Das Virus bedroht uns alle, aber nicht alle gleich. Wir sind keine Schicksalsgemeinschaft, die das „gemeinsam“ schaffen muss und kann. Das Virus vergrößert im Gegenteil wie ein Brennglas die gesellschaftliche Ungleichheit, gerade auch im Lockdown. Nicht die Arbeit ist das Problem, sondern die Prekarität der Arbeit. Wir brauchen nicht 5 Wochen Shutdown und dann geht alles weiter wie vorher. Wir brauchen dauerhaft gute Arbeitsbedingungen für essentielle Arbeit und eine gemeinsame Debatte darüber, was essentiell ist: die Niedriglohnjobs im Auslieferungszentrum bei Amazon und Co, damit der Konsumrausch trotz geschlossener Kaufhäuser funktioniert? Die prekäre, gesundheitsgefährdende Arbeit in Großschlachtereien, die aus Deutschland nach den Niederlanden den größten europäischen Fleischexporteur gemacht haben?
Die Care Revolution muss hier ernst genommen werden mit ihrem Fokus auf die Sorgearbeit. Hedgefonds, die Altersheime kaufen, um von den Geldern der Pflegeversicherung zu profitieren, so wie es die privaten Krankenhauskonzerne machen, gehören skandalisiert und kommunale und gemeinnützige Alternativen gestärkt. Die prekäre Pflegearbeit in Altersheimen und Krankenhäusern, die „auf Kante genäht“ ist und beim ersten Krankheitsfall auf flexible „Springer*innen“ von Personalagenturen setzen, muss endlich auskömmlich finanziert werden. Die lokalen Bündnisse und Unterstützungsnetzwerke, die im ersten Lockdown spontan Versorgungseinkäufe für Nachbar*innen organisiert haben, müssen finanziell und strukturell verstetigt werden, um sich an der Organisation des Infektionsschutzes in Altersheimen der Nachbarschaft zu beteiligen.
Der vollkommen berechtigten Furcht vor dem Kollaps der Gesundheitseinrichtungen und der Überarbeitung der Gesundheitsarbeiter*innen gilt es, die inhärenten Dysfunktionalitäten und Beschädigungen eines durch kapitalistischen Wettbewerb und kommerzielle Interessen geprägten Gesundheitssystems entgegenzuhalten und sie in den Fokus zu rücken. Dabei könnte die „Rekommunalisierung aller Gesundheitseinrichtungen“ vielleicht eine Langzeitperspektive sein. Im Hier und Jetzt müsste es um Unterstützung der Forderungen der Beschäftigten nach Mindestpersonalschlüssel und Rückführung von ausgegliederten Bereichen in den Krankenhäusern und Tarifverträge zur Entlastung der ausgepowerten Belegschaften gehen.
Gesundheit ist mehr als kein Corona
Von diesem Blick und aus dieser konkreten Solidarität heraus müssen wir versuchen, linke Antworten auf die Herausforderungen der Covid19-Pandemie finden, und das nicht so sehr von den Abstraktionen der Zahlen und Modelle ausgehend. Denn in der Pandemie werden nicht nur Corona-Statistiken verhandelt, sondern auch der Zustand der Gesundheitssysteme und das, was wir unter Gesundheit verstehen.
Die (realistischen) Erfahrungen und die Wünsche der Menschen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit sind doch nicht, dass wir nie mehr krankwerden, dass wir die Krankheiten und den Tod endgültig besiegen. Dies suggeriert uns nur die allein einmal gelungene „Ausrottung der Pocken“, während schon die mit enormem Einsatz vorangetriebene „Ausrottung der Kinderlähmung“ zeigt, dass diese wahrscheinlich eher eine kontinuierliche Daueraufgabe bleiben wird, um nur den erreichten Erfolg halten zu können. Von den „großen Drei“ im globalen Infektionsgeschehen – Tuberkulose, Malaria und HIV – ganz zu schweigen. Das ist kein Scheitern, sondern ein immer wieder neues Anpassen der Anstrengungen an die Widrigkeiten des Lebens und der gesellschaftlichen Missstände, die es zu überwinden gilt. So ist es auch mit Covid19. Wir werden die Pandemie nur besiegen können, wenn wir die Sorge umeinander als unverzichtbar akzeptieren und unseren Einsatz für die besonders Gefährdeten maximal erhöhen. Und wenn alle Menschen Zugang zu Impfstoffen und guter Behandlung im Krankheitsfall haben.
Dazu ist die Forderung nach „Impfstoffgerechtigkeit“ absolut essentiell. Aber zugleich wissen wir, dass das Elend nicht vorbei ist, wenn der letzte der 7,8 Milliarden Menschen geimpft worden ist, sondern wenn wir das soziale Menschenrecht auf Gesundheit verwirklicht haben, das nicht das Recht auf ewige Gesundheit ist, sondern die Überwindung der Ungleichheit vor Krankheit und vorzeitigem Tod. Dafür brauchen wir alle jetzt, hier und überall auf der Welt gute Sorge, Pflege und Medizin. Wir müssen unsere existentiellen Lebensbedingungen sichern. Wir müssen am Skandal der unterschiedlichen Lebenserwartungen durch soziale Ungleichheit arbeiten und an der noch größeren sozialen Kluft bezüglich der Zahl der „gesunden Lebensjahre“, die wir erleben können. Denn wir wollen nicht nur unserem Leben mehr Jahre geben, sondern den Jahren auch (gutes) Leben.
Dies schaffen wir nicht in 2021 und auch nicht bis 2030, wenn das Nachhaltige Entwicklungsziel 3, „Gute Gesundheit und Wohlbefinden für Alle“, erreicht sein soll. Die Reise wird länger und die Widerstände sind groß. Das sollte uns nicht entmutigen, sondern anspornen. Mit Blick auf die HIV-Pandemie sehen wir, dass sie ihren Schrecken verlor, als es möglich wurde, das Sterben zu verhindern und das Leben der Betroffenen zu verbessern. Diese Perspektive ermöglichte den Blick auf die Ungerechtigkeit des ungleichen Zugangs und mobilisierte eine massive Gesundheitsbewegung von unten. Ähnliche Bewegungen sehen wir bei Covid19. Und wir sollten diese Blickrichtung auch heute einnehmen.