In der Corona-Krise wird der Staat mächtiger denn je. Mit Verblüffung stellten wir Linken fest, dass auf einmal die scheinbar ehernen neoliberalen Grundfesten nicht nur ins Wanken gerieten, sondern geradezu über Bord geworfen werden. Die Schuldenbremse ist ad ultimo ausgesetzt, milliardenschwere Stützungsprogramme aufgestellt für die schwächelnden Wirtschaftssektoren. Sogar zum strategischen Einkauf in „systemrelevante“ Unternehmen – bei der Lufthansa und beim Pharmaunternehmen Curevac – lässt sich der Staat herab. Die globalisierten Produktions- und Lieferketten werden durch die Pandemie in ihrer Dysfunktionalität enttarnt.
Als wäre es ein Lehrstück von Carl Schmitt: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Es regiert das Corona-Kabinett und die Runde der Kanzlerin mit den Ministerpräsident*innen. Der Gesundheitsminister steigt zum Vizekanzler auf. Das Infektionsschutzgesetz, vorher kaum bekannt und höchstens angewendet in kleinem Maßstab zur Eindämmung lokaler Infektionsausbrüche, wird zum Instrument des Lockdowns öffentlicher Einrichtungen und privater Unternehmen. Es steht zudem für einen tiefen Eingriff in zentrale Freiheitsrechte der bürgerlichen Demokratie: Flächendeckende Einschränkungen der öffentlichen Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, strafbewehrte Regeln, wer sich mit wem auch im privaten Raum noch treffen darf. Die Parlamente sind auf eine Rumpfgröße geschrumpft und vom Tempo der Entwicklung vollständig überfordert, Verordnungen der Exekutive ersetzen die etablierten Gesetzgebungsverfahren.
Es macht sich Unbehagen breit. Dass dieses sich vor allem in Querdenker-Demos mit ihren unerwartet erfolgreichen „Querfront Mobilisierungen“ äußert, ist ein echtes Dilemma für eine emanzipatorische Linke, für die die Kritik staatlichen Überwachungs- und Kontrollhandelns konstitutiv war und ist.
Wie lässt sich also die Kritik an überbordender Kontrolle in Pandemiezeiten führen, ohne im Gefolge des Obskurantismus der Hobby-Virolog*innen, der Gates-Stiftung-Verschwörungen und Impfgegner*innen zu landen?
Die Aids-Rebellen
Ein Blick zurück hilft manchmal mehr als eine detaillierte Gegenwartsanalyse mit Interessenskonflikten bei der Weltgesundheitsorganisation, dem Streit der Virologen um das richtige Maß des Lockdowns und die Eitelkeiten der Ministerpräsident*innen, mit möglichst radikalen Lösungen als bester Landesvater oder Landesmutter dazustehen.
Überraschende Ähnlichkeiten zu den heutigen Debatten lassen sich bei der neu auftauchenden AIDS Epidemie der 80er Jahre finden. Auch hier wurde besonders in den Anfangsjahren die Frage um das HI-Virus und seine Folgen nicht weniger heftig ausgetragen.
Die Fragen nach dem Ursprung des Virus, nach seiner Übertragbarkeit und auch nach seiner tatsächlichen Gefährlichkeit waren längst nicht unumstritten, sondern führten ganz genau wie bei Covid19 zu heftigen Kontroversen. Neben dem schließlich geklärten Ursprung des Virus im tropischen Afrika (eine klassische „Zoonose“ mit Ursprung in Affen, die sich über die globale Mobilität der Menschen verbreitete) waren lange auch Vermutungen im Umlauf, HIV sei in einem geheimen Forschungslabor der US-Armee entstanden und von dort wissentlich oder versehentlich in Umlauf gekommen. Eine klassische Verschwörungsthese, die, wie man heute weiß, auch von russischen Geheimdienst mit in Umlauf gebracht wurde. Und die jetzt für das SARS-CO19 Virus eine chinesische Parallele in Wuhan bekommen hat.
Auch die ursächliche Wirkung des Virus auf die Immunschwäche der an Aids Erkrankten wurde noch viele Jahre in Frage gestellt, wahlweise waren es die vielen Drogen, der viele Sex, die anfänglichen, unzureichenden Therapieversuche mit antiviralen Medikamenten, die Unterernährung der Armen in Afrika oder die Furcht vor der Infektion, die das Immunsystem der an AIDS Erkrankten zusammenbrechen ließen. Auch hier gab es „mundtot gemachte Wissenschaftler“, die die Forschungsergebnisse der Mainstream Wissenschaft anzweifelten, und Aids-Rebellen folgten unbeirrt dem Verdacht, dass in erster Linie (Pharma-) Profitinteressen hinter den Tests und den Medikamenten stünden oder die moralische Verurteilung von Homosexualität und Drogengebrauch gerade die Forschung an Therapien und Impfungen gegen HIV behindern würde.
Das extremste Beispiel der fatalen Wirkungen solcher obskuren, und selbst von Interessen geleiteten „Aids-Mythen“ spielte sich dann Anfang der 2000er Jahre in Südafrika ab: Der deutsche Arzt und Vitaminverkäufer Dr. Rath wurde zum faktischen Chefberater des Präsidenten Thabo Mbeki und seiner Gesundheitsministerin Manto Tshabalala-Msimang. Die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der Medikamente verhindterte für mehrere Jahre der Start eines wirksamen Behandlungsprogramms – was nach Schätzungen der Aids-Aktivist*innen der Treatment Action Campaign und Section 27 mehreren 10.000 Südafrikaner*innen das Leben kostete.
Mit den Menschen, nicht gegen sie
Auch zur „Masken-Debatte“ und dem Kampf gegen illegale „Corona Parties“ gibt es eine erstaunlich Parallele in den schwulen Debatten um die Kondomisierung des Sexes, und den Versuchen der Schließung von Orten schwuler Promiskuität wie Saunen, Darkrooms und Sexparties, die von wichtigen Aids-Aktivist*innen als Versuch des medizinisch-gesellschaftlichen Establishments zur Wieder-Einhegung der gerade gewonnenen sexuellen und moralischen Freiheit verstanden wurden.
Eine wichtige Erkenntnis aus diesen Aspekten der Aids-Pandemie war aus emanzipatorischer Perspektive, den subjektiven Blick nicht aufzugeben. Eine Haltung einzunehmen, die die Menschen nicht als Objekt einer (autoritär-strafenden oder verantwortlich-fürsorglichen) top-down Belehrung sieht, sondern sie in ihren oft auch widersprüchlichen Bedürfnissen und Haltungen ernst nimmt und sie partizipativ einbezieht in die Bewältigung der Krise.
Dies gilt heute etwa in der Frage, wie sich Schulen, Kitas, Altersheime, Arbeitsstätten organisieren und wie sie darin unterstützt werden können, dabei den bestmöglichen Infektionsschutz zu realisieren. Einheitliche Regeln aus dem Kultusministerium oder der Ministerpräsidentenrunde scheinen dabei weniger hilfreich als eine lokale Verankerung der Entscheidungen – und gegebenenfalls auch deren Durchsetzung durch behördlichen Überprüfungen, wie bei den Ausbrüchen in Altersheimen, Schlachthöfen und bei Erntehelfern zu sehen ist.
Koalition der Schmuddelkinder
Eine zweite entscheidende Haltung ist die der konsequenten Solidarität mit allen Betroffenen der Pandemie. Für die Aids-Bewegung war dies der gemeinsame Kampf der „Koalition der Schmuddelkinder“, die nicht nur prominente, selbstbewusste Schwule und Lesben in Paarbeziehungen, sondern auch die Bedürfnisse und Lebensweisen der Nutzer einer promisken Subkultur und Drogenkonsument*innen einschloss. Die Verfügbarkeit von sauberen Spritzen und Substitutionstherapie in den Knästen wurde zum wichtigen Instrument zur Reduzierung der HIV-Ansteckungsraten – und ermöglichte zugleich eine Kritik am repressiven Gefängnissystem.
Die globale Solidarität für den Zugang zur ab Mitte der 90er Jahre verfügbaren Therapie brachte das globale Patentregime der Pharmaproduktion in den Fokus der Kritik. Die Erfolge bei der Durchsetzung und Verfügbarmachung kostengünstiger Medikamentenkopien (Generika) für inzwischen über 25 Millionen Menschen in aller Welt kann als die (bislang) erfolgreichste globale Gesundheitsbewegung des 21. Jahrhunderts gelten.
Diese Solidarität ist auch ein wesentlicher Punkt, an dem sich die Kritik an Corona-Maßnahmen scheidet. Eine Corona-„Schweige Demonstration“ gegen vermeintliche Denk- und Redeverbote, die darüber schweigt, dass die Pandemie gerade die sozial Marginalisierten ohne Option auf Homeoffice und Homeschooling besonders trifft, die nicht vom Skandal der fortgesetzten Massenunterbringung (und damit Massengefährdung) von Geflüchteten und Leiharbeitern spricht, obwohl die Hotels leer stehen, kann kein Ort einer emanzipatorischen Politik sein, selbst wenn sie sich von ihren rechtsradikalen Mitläufern und Mitorganisatoren distanzieren würde.
An dieser grundsätzlich und bedingungslosen solidarischen Haltung trennt sich auch eine progressive Kritik an der nationalen und globalen Gesundheitspolitik von einer Kritik der Profitinteressen der Pharmaindustrie, die sich einseitig aus der eigenen Skepsis gegen Impfstoffe oder Medikamente speist, wie sie aktuell von den Corona-„Querdenker*innen“ geäußert wird.
Bill Gates und die Vermarktung von Gesundheit
Denn die Bedeutung, die ein Bill Gates in der aktuellen Situation mit seiner milliardenschweren Stiftung und seinen von niemandem gewählten Gremium autorisierten Verhandlungen mit Pharmakonzernen zur raschen Verfügbarmachung der Medikamente und Impfstoffe gegen den Coronavirus hat, liegt nicht darin, dass er der geheime Strippenzieher hinter den Kulissen ist. Vielmehr muss die Kritik an dem kapitalistisch organisierten Forschungs- und Entwicklungsmodell ansetzen. Dieses privatisiert das notwendige Wissen und die Produktionskapazitäten für global wichtige Güter wie die aktuellen Covid19-Impfstoffe durch geistige Eigentumsrechte (Patente, Geschäftsgeheimnisse, Lizenzen, Markenzeichen, Datenschutz usw.) und verwandelt es in eine möglichst profitable Ware.
Durch dieses Modell werden die kommenden Impfstoffe nicht zum „globalen öffentlichen Gut“, das allen gemeinsam zur Verfügung steht und nach rationalen Kriterien der besten und schnellsten Überwindung der Pandemie verteilt werden muss. Sondern sie werden für die ausgebeuteten und arm gehaltenen Länder und Menschen der Welt nur als karitative Geschenke zur Verfügung gestellt.
So sieht es de facto die COVAX Initiative von WHO, GAVI und CEPI vor, die derzeit Milliarden bei den Spendernationen und Wohltätigkeitsorganisationen einsammelt und mit den großen Herstellern über Restbestände der zu produzierenden Impfdosen verhandelt, nachdem sich die reichen Länder bereits mit bilateralen Vorabdeals bei den Produzenten den größten Teil der Produktion gesichert haben. Das Ziel von COVAX ist, zumindest eine „kritische Masse“ von Menschen (zuerst wohl vorrangig die systemrelevanten Gesundheitsarbeiter*innen) auch in Ländern impfen zu können, die sich – anders als zum Beispiel USA oder EU – keine bilateralen Deals mit den Pharmagiganten leisten können.
Die Gates-Stiftung ist hierbei nicht die Ursache, sondern das Symptom einer globalen Gesundheitsarchitektur, die sich dem neoliberalen Modell verschrieben hat. Das „Marktversagen“ bei den Gesundheitsbedürfnissen der armen „irrelevanten Konsument*innen“ ohne Kaufkraft beantwortet dieses Modell nur mit Wohltätigkeit, nötig jedoch wären strukturelle Veränderungen durch einen Technologietransfer und die Veröffentlichung des essentiellen Gesundheitswissens.
Denunziantentum und Solidarität
Und schließlich zur Verteidigung der Freiheitsrechte gegenüber dem immer tiefer in unsere privaten und gemeinschaftlichen Freiräume eindringenden Staat. Statt, wie Querdenker es mehrheitlich tun, sich mit pseudo-radikaler Verweigerungsgeste gegen die vermeintliche Zumutung des Maskentragens und des Abstandsgebotes zur Wehr zu setzen, gilt es, im konkreten Moment die Zumutungen des Denunziantentums zurückzuweisen, das die Nachbarn anzeigt, weil dort vermeintlich illegales Treiben stattfindet. Es gilt, eine solidarische Praxis zu entwickeln, die die besonders von der Pandemie Betroffenen nicht alleine lässt – die soziale Nähe zu den alten Verwandten hält und der Vereinsamung in den Heimen etwas entgegen setzt; die auch die Wahlverwandtschaften der Familienlosen anerkennt, für die nicht das Weihnachtsfest im Familienkreis, sondern die Party im Freundeskreis zur sozialen Existenzbedingung zählt.
Dazu gehört ebenso eine konsequente Unterstützung der Arbeitskämpfe im Gesundheitswesen, die vor allem Pflegekräfte nicht erst seit der Pandemie führen. Diese sind durch die zunehmende Privatisierungstendenzen und „Effizienzsteigerung“ eines immer stärker die Pflege-Personalkosten einsparenden Fallpauschalen-Finanzierungssystems auch in den öffentlichen Krankenhäusern massiv unter Druck und fordern keine Einmalgeschenke, sondern gute Lohn- und Arbeitsbedingungen und eine gesetzlich festgelegte Mindestpersonalausstattung, die ihnen gute und sichere Arbeit für sich und die Patient*innen ermöglicht.
Es gilt, aus diesen Elementen eine neue Praxis der aktiven Kritik von links an der herrschenden Coronapolitik zu entwickeln. Erinnert sei an die Zeit der Debatte von Notstandsgesetzen in den 60er Jahren, die zu massiven Mobilisierungen der Linken gegen damalige autoritäre Zumutungen führte, die damals „präventiv“ in Gesetze gegossen wurden. Und es war diese Debatte, die noch in den 80er Jahren eine große Kampagne gegen die Volkszählung motivierte. Jetzt gilt es, uns nicht nur von der sehr konkreten aber eben auch individualisierenden Angst vor einer neuen, gefährlichen Viruserkrankung treiben zu lassen, die uns nahelegt, allzu schnell die „notwendigen Zumutungen“ der Einschränkungen, denen wir uns jeder für sich und alle gemeinsam stellen müssen, zu akzeptieren und dabei ihre politischen und sozialen Auswirkungen zu scheinbar „unvermeidbaren Kollateralschäden“ kleinzureden.
Deshalb bleibt uns weitaus mehr übrig, als auf den Impfstoff zu warten, der uns aus der Schockstarre befreit. Es gilt, eine Praxis der lokalen Partizipation am Infektionsschutz und der konkreten, praktischen Solidarität zu entwickeln – und an linke Konzepte für die Rekommunalisierung und Demokratisierung des Gesundheitssystems zu erinnern, jetzt, da die Notwendigkeit dieser Konzepte sichtbar wird. Der Staat zeigt in der Krise seine Handlungsfähigkeit, wir müssen ihn dazu zwingen, sie im Sinne emanzipatorischer Politik einzusetzen.
Der Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch "Fehlender Mindestabstand Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde", das von Heike Kleffner von Matthias Meisner herausgegeben wird und im April 2021 bei Herder erscheint. Er wurde zuerst in der Wochenzeitung Der Freitag veröffentlicht.