Es ist kein Alleinstellungsmerkmal israelischer Regierungen, sich der Diskussion mit dem politischen Gegner dadurch zu entziehen, dass man ihn dem Terrorvorwurf aussetzt. Die Strategie ist von ihnen aber seit Jahrzehnten methodisch benutzt worden. Das bedeutet nicht, dass es keine palästinensischen Verbrechen gegen israelische und jüdische Zivilist:innen gegeben hätte; natürlich gab es die. Es bedeutet im aktuellen Zusammenhang des Verbots von Menschenrechtsorganisationen aber vor allem, dass die politische Organisierung der unterworfenen Bevölkerung unterbunden werden soll – unabhängig von der jeweiligen Gewaltbereitschaft. Davon zeugen das militärisch dekretierte Versammlungsverbot, das bis heute in Kraft ist, oder die nach dem Krieg von 1967 erfolgten völkerrechtswidrigen Deportationen von palästinensischen Anwälten, Bürgermeistern und anderen Personen, die für die politische Organisierung als wichtig galten. Dazu passt auch die im Zuge der Landnahme täglich ausgeübte staatliche oder – wie im Fall der Siedler – sanktionierte Gewalt gegen Palästinenser:innen, die klarmacht: Gegenwehr oder gar Gegengewalt wird mit noch massiverer Gewalt beantwortet.
Der Krieg in Israel, Israel im Krieg
Seit seiner Gründung hat Israel den Ausnahmezustand – und die damit einhergehenden Sondervollmachten eines (jüdischen) Staates gegen seine (arabischen) Subjekte – nie aufgehoben. Eine Vielzahl der Regelungen bei der Staatsgründung 1948 wurden kurzerhand von der britischen Mandatsverwaltung übernommen, um sie gegen die Palästinenser:innen in Stellung zu bringen. Die Briten hatten 1945 sogenannte „Notverordnungen zur Verteidigung“ (Defense Emergency Regulations) erlassen, um gegen zionistische Milizen und die palästinensische Nationalbewegung vorzugehen. Der Terrorbegriff fand schon damals Anwendung. Israel machte sich dies zunutze und überführte die Notverordnungen in sein eigenes Rechtssystem. Bis Ende 1966 äußerte sich dies u. a. in der Militärregierung gegenüber der arabischen Bevölkerung Israels. Die bis heute großzügig praktizierte willkürliche Administrativhaft ist ein weiteres Instrument aus der Kolonialzeit, ein Anachronismus des Rechts, den der israelische Staat fast nur gegenüber Palästinenser:innen anwendet. Ohne rechtsstaatliche Verfahren können hier Personen durch die militärische Exekutivgewalt theoretisch beliebig lange inhaftiert werden, ohne richterliche Aufsicht oder Zustimmung. Diese Notverordnungen gelten bis auf den heutigen Tag so oder in ähnlicher Form im gesamten Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer.
Der neue „Krieg gegen den Terror“ spielte sich mit dem Ausbruch der zweiten Intifada auch in Israel und im besetzten palästinensischen Gebiet ab. Allerdings hatte er dort schon rund ein Jahr vor den Anschlägen des 11. September 2001 begonnen. Die einstürzenden Türme des World Trade Center wurden zum Symbol eines Angriffs auf „unsere Freiheit“ gemacht, und Israel wurde einmal mehr zum Brückenkopf der „westlichen Zivilisation“ gegen „die Barbarei“ stilisiert. Genau so wurde Benjamin Netanjahu am 20. September 2001 im US-Kongress vorgestellt, als ehemaliger israelischer Ministerpräsident, der „den Kampf (gegen den internationalen Terrorismus; R.O.) für seine Nation und begleitend für den Rest der zivilisierten Welt geführt“ habe.
Nach 9/11 und mit der weltweiten Zunahme islamistischer Terroranschläge musste Europa aus israelischer Sicht nun endlich begreifen, womit es das kleine Land ständig zu tun hatte. Netanjahu präsentierte Israel als Frontstaat des Westens in einem Kampf der Kulturen: „Jeder von uns versteht heute, dass wir alle Zielscheiben und unsere Städte verwundbar sind, dass unsere Werte mit einem nie dagewesenen Fanatismus gehasst werden, der unsere Gesellschaften und Lebensweise zu zerstören versucht.“ Die politische Auseinandersetzung der zionistischen Nationalbewegung bzw. des israelischen Staates mit den Palästinenser:innen ordnete er nach den Anschlägen vom 11. September in die notwendige Bekämpfung des weltweiten Terrorismus ein. Arafat, al-Qaida, Syrien, Iran, Afghanistan galten ihm allesamt als Ausgeburten ein und desselben Terrornetzwerks, das „eine extreme Form des Islam als dominierende Weltmacht installieren“ wolle. Mehr noch als nach 9/11 musste Europa dies aus Netanjahus Sicht nach den Anschlägen in Madrid 2004 und London 2005 endlich verstehen. Noch Jahre später gab es kaum einen islamistischen Anschlag, den er nicht dazu genutzt hätte, Parallelen zur israelischen Erfahrung zu ziehen. Nach den Anschlägen in Paris 2015 erklärte er: „Wir sind nicht schuld an dem Terrorismus, der sich gegen uns richtet(…). Nicht die […] Siedlungen oder irgendein anderer Faktor halten den Konflikt am Leben, sondern der Wille, uns zu zerstören, und die mörderische Aggression gegen uns.“
Selbst Schuld
In dieser manichäischen Weltsicht sind immer und ausschließlich die anderen schuld. Die „zivilisierte Welt“ begeht nur deshalb exzessive Gewaltverbrechen, weil der „irrationale Hass“ und die grenzenlose „Barbarei“ dieser anderen ihr keine andere Wahl lassen. Gräueltaten an jenen anderen sind immer nur eine Form von Notwehr.
Die Auseinandersetzung mit den Palästinenser:innen stellten die Ministerpräsidenten Netanjahu und Barak in denselben Kontext wie die Anschläge von al-Qaida. Das war der Ton, den damals viele Regierungen anschlugen: Trotz der brutalen Grenzüberschreitungen, die im Zuge des Kriegs offenbar auch „zivilisierte“ Länder von sich selbst erwarteten, werde es, so Barak, „keine moralische Gleichwertigkeit zwischen Terroristen und denen, die darauf reagieren“, geben. Damit war das Wesentliche gesagt, auch für andere Kontexte und Regionen. Diese Haltung wurde weltweit zur dominierenden Logik der Kriegsführung: Unter Rückgriff auf die Figur des „Terroristen“ wurde die eigene Gewalt gerechtfertigt, während sie die Gewalt des Gegners delegitimierte und ihr damit auch jeglichen auf politischem Weg verhandelbaren Grund absprach. Das „Blutvergießen der anderen“, mochte es auch politisch motiviert sein, durfte nie mehr sein als ein barbarisches Spektakel. Unsere Toten: Opfer von Terrorismus, Individuen mit Gesicht, eigener Geschichte und trauernden Hinterbliebenen. Ihre Toten: abstrakte Zahlen, Kollateralschäden, womöglich selbst „Terroristen“.
Wessen Terror?
In seiner Rede 2001 in Washington erklärte Netanjahu, Terrorismus werde nicht durch die Identität der Täter definiert, sondern durch die Natur der Tat. Dabei rücken in der Diskussion über Terrorismus regelmäßig nicht die Taten, sondern gerade die Identitäten der Täter in den Mittelpunkt: Wenn staatliche Akteure Zivilist:innen ermorden, ist nicht von Terrorismus die Rede, dagegen so gut wie immer, wenn ein nicht staatlicher Akteur dasselbe tut. Dabei folgt die Haltung von Staaten, „Terrorismus“ nicht als Form der „politischen Gewalt“ anzuerkennen, einer nachvollziehbaren Logik: Der Staat verteidigt sein Gewaltmonopol. Der Rat der Europäischen Union bezog sich in seinem „Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung“ dement sprechend auf folgenden Konsens: „Das Übereinkommen des Europarats vom 27. Januar 1977 zur Bekämpfung des Terrorismus bestimmt, dass terroristische Straftaten nicht als politische Straftat oder als eine mit einer politischen Straftat zusammenhängende Straftat oder als eine auf politischen Beweggründen beruhende Straftat angesehen werden können.“
Hier gibt es allerdings ein Spannungsfeld: Schließlich kann der Gegner sehr wohl politische Ziele verfolgen. Dass auch Staaten dies verstehen, zeigt eine Äußerung aus dem „Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht“ der Bundesregierung von 2006: „Generell ist Terrorismus nicht Ausdruck einer spezifischen Kultur, er ist zunächst ein extremes politisches Kampfmittel. Terrorismus ist eine Strategie des Kampfes, die Staatsgewalt bzw. Besatzungsmacht herauszufordern und dadurch Solidarisierungswellen in den Bevölkerungsgruppen zu provozieren, als deren Avantgarde sich die Akteure verstehen. Unmittelbares Ziel ist nicht der Sieg, sondern die Verbreitung von Schrecken und Furcht, die dann (…) freilich wie 1983 in Beirut, 1989 in Afghanistan und 1993 in Somalia zu einem Rückzug des Gegners führen kann.“
Terror hier, Schweigen dort
Auch wenn die Bilder des völlig überstürzten Abzugs aus Afghanistan uns die Niederlage im „Krieg gegen den Terror“ deutlich vor Augen führen: Seine Argumentationsmuster wirken ungebrochen. Gelegentlich flammt seine immer vorhandene Gewalt wieder auf, zwischen Israel und den Palästinenser:innen zuletzt im Mai 2021. Dabei sollte im Fall der israelischen Regierung nicht übersehen werden, dass sie ständig mit „Terroristen“ verhandelt und sogar Abkommen mit ihnen unterzeichnet hat: Das israelische Justizministerium und das Verteidigungsministerium führen die PLO und die Fatah bis auf den heutigen Tag in ihren Listen terroristischer Organisationen. Mit ersterer haben Shimon Peres und Yitzhak Rabin das Osloer Abkommen unterzeichnet und dafür den Friedensnobelpreis erhalten, mit letzterer verbindet den Staat Israel eine enge Sicherheitskooperation, da die Fatah die Autonomiebehörde und ihren repressiven Sicherheitsapparat trägt und dominiert – übrigens mit finanzieller Unterstützung aus dem Ausland.
Geht es der israelischen Regierung wirklich um den Schutz ihrer Bevölkerung, wenn nun ausgerechnet diejenigen als Terroristen gebrandmarkt werden, deren Stimmen gegen Landraub und Siedlungspolitik genauso aufbegehren wie gegen die Unterdrückung durch die palästinensische Obrigkeit? Oder geht es darum, einen Mantel des Schweigens über anhaltende Verbrechen wie den Siedlungsbau, die Erschießung von Menschen bei Protesten und die willkürliche Verhaftung politischer Aktivist:innen zu breiten? Diese Taten werden täglich verübt. Aber anstatt darüber zu sprechen oder zu berichten, beschäftigen wir uns auf Betreiben der israelischen Regierung mit der Frage, ob sechs zum Teil mit internationalen Preisen ausgezeichnete Organisationen Terrorgruppen sind. Ziel erreicht: Die Stille nimmt zu.
Zwischenzeitlich hat der Militärgouverneur der Westbank die Entscheidung, sechs palästinensische NGOs per Handstreich zu terroristischen Gruppierungen zu erklären, in das dortige System des Militärregimes überführt. Damit ist alles möglich: willkürliche Inhaftierungen der Betroffenen, die Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Organisationen und dauerhafte Schließung ihrer Büros. Betroffen sind die medico-Partnerorganisationen Union of Agricultural Work Committees (UAWC) und Al-Haq. UAWC unterstützt palästinensische Bauern- und Hirtenfamilien in den von Israel kontrollierten C-Gebieten des Westjordanlands, in dem die meisten Siedlungen gebaut werden. Al-Haq dokumentiert Völkerrechtsbrüche und Menschenrechtsverletzungen – in der aktuellen Kooperation mit medico zum Beispiel die durch Sicherheitsdienste der Palästinensischen Autonomiebehörde bei der Niederschlagung regierungskritischer Demonstrationen im Sommer 2021.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!