Kenia

Der Westen verliert

02.07.2024   Lesezeit: 3 min

Bei den Protesten gegen eine Steuerreform geht es längst um mehr: auch die westliche Dominanz steht infrage.

Von Radwa Khaled-Ibrahim

In Kenia sind soziale Proteste keine Seltenheit. So begann auch die aktuelle Protestwelle, deren jüngster Auslöser eine geplante Steuerreform ist, bereits vor etwa zwei Jahren. Im Kern geht es um eine Frage, die Wanjira Wanjiru von der medico-Partnerorganisation Mathare Social Justice Center schon 2023 stellte:  „Wessen Interessen schützt unsere Regierung? Unsere Interessen oder die Interessen des Westens?“

Die bisherige Bilanz der Demonstrationen: ein von Protestierenden gestürmtes Parlamentsgebäude und offiziell anerkannte 24 Tote – in Menschenrechtskreisen wird eine hohe Dunkelziffer vermutet. Zwar ruderte Kenias Präsident Ruto vergangene Woche zurück und versprach, die Reform nicht zu unterzeichnen. Doch Dan Owalla von der medico-Partnerorganisation SODECA sieht dahinter einen „kommunikativen Trick“: Die einzige Instanz, die das Gesetzespaket zurückziehen könne, das kenianische Parlament, pausiert auf ein Dekret des Präsidenten hin noch bis Ende Juli. Damit verstreichen die 21 Tage in denen das Gesetz die Unterschrift des Präsidenten benötigt. Innerhalb dieser Zeit müsste das Parlament seine Zusage zurückziehen, doch durch die Pausierung wird das Gesetz automatisch in Kraft treten: mit oder ohne Unterschrift von Ruto.

Indes, etwas ist tatsächlich neu an den aktuellen Protesten: Ethnische, politische, soziale oder generationelle Unterschiede spielen keine Rolle. Der Unmut verläuft quer durch die Gesellschaft. Er hat keine geeinte Identität, sondern unzählige Gesichter. „The people united, cannot be defeated” heißt es auf einem Banner.

Die mehrheitlich über Social Media mobilisierten und führungslosen Demonstrationen sind nicht nur größer und radikaler als bei früheren Protesten. Auch setzen die von der sogenannten Generation Z dominierten Proteste ‚auf alles‘. Sie stellen die Systemfrage, lokal wie global. Einerseits verteidigen sie die kenianische Verfassung gegen die Regierung, andererseits fordern sie eine Weltordnung, in der alle Menschen die gleichen Rechte genießen, und die nicht in kolonialen Kontinuitäten gründet.

Trotz seines anhaltenden Einflusses fühlt sich der Westen auch in Afrika schon länger durch China und Russland bedroht. Das kommt nicht von ungefähr. Die Sahelzone und weite Teile Westafrikas haben dem Westen den Rücken gekehrt und sind auf Russland zugegangen. Südafrika stellt mit seiner Klage gegen Israel die moralische Hoheit des Westens vor dem Internationalen Gerichtshof in Frage, während im Sudan und in der DR Kongo Proxykriege zwischen nationalen wie ausländischen, auch westlichen, Mächten herrschen. In Nord- und Ostafrika konkurriert der Westen mit regionalen und globalen Großmächten. Das Konfliktszenario hat sich verselbständigt, der Westen verliert seine Vormachtstellung. So ist auch folgender Ausspruch, der einem kenianischen Politiker zugesprochen wird, zu verstehen: „Every time China visits us we get a hospital; every time Britain visits us we get a lecture“. Es gibt neuerdings andere Optionen als der Westen.

Kenia war bislang ein Anker westlicher Interessen auf dem afrikanischen Kontinent. Damit er nicht abdriftet und sich anderen Mächten zuwendet, verstärkt der Westen seine Einflussnahme auf Kenias Wirtschaftspolitik. Als „Neo-Neo-Kolonisierung“ bezeichnet Dan Owalla die stärkere Bindung an den Westen durch Verschuldung, die mit verheerenden Strukturanpassungsprogrammen einhergeht; durch ausbeuterische Wirtschaftsabkommen, die nur der Elite des Landes nutzen und der regionalen Integration schaden; oder auch durch Investitionen, die lediglich bestimmten gesellschaftlichen Gruppen in die Hände spielen.

Es geht bei den derzeitigen Protesten längst um mehr als eine Steuerreform und eine leere Ankündigung des Präsidenten wird sie nicht so schnell beenden können. Adressiert wird auch der Westen und sein Einfluss auf Kenia, vor allem durch seine Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank. Diese sind nicht mehr zeitgemäß, denn sie kosten nicht nur am laufenden Band Menschenleben, sondern sie dienen inmitten der geopolitischen Machtverschiebungen nicht einmal mehr dem Ziel der Absicherung von Interessen und Gewicht des Westens. Die Forderung der Protestierenden ist dagegen klar: dieses ökonomische Projekt ist nicht länger verhandelbar – dafür stehen sie mit ihrem Leben. 

Radwa Khaled-Ibrahim

Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit von medico.


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