Morgen wird in Israel das Parlament neu gewählt. Benjamin Netanjahu droht im Falle seiner Wiederwahl mit der Annexion des Jordantals. Ein souveränes Palästina wäre damit endgültig verunmöglicht. Mariam Puvogel, medico-Büroleiterin Israel und Palästina, beschreibt den schon jetzt unzumutbaren Alltag palästinensischer Bauern im Westjordanland.
Es ist erst Anfang Juni, aber schon jetzt liegt eine drückende Sommerhitze auf Ramallah, als wir ins Auto steigen, um gemeinsam mit unseren Partnern von der Bauernorganisation Union of Agricultural Work Committees (UAWC) in den Süden von Nablus zu fahren. Die langjährige medico-Partnerorganisation gründete sich in den 1980er Jahren, um für die Rechte palästinensischer Bauern- und Hirtengemeinden einzutreten. Unsere Fahrt heute ist ein Solidaritätsbesuch bei den dortigen Gemeinden, denn in den letzten Wochen haben Siedler in mehreren Fällen Brandstiftung in Olivenhainen und auf Feldern palästinensischer Kleinbauern begangen. Von den Vorfällen erfuhren wir durch die israelische Journalistin Amira Hass, die seit über zehn Jahren in der Westbank lebt und dem medico-Büro in Ramallah ebenso lange verbunden ist.
Eine gute Stunde später stehen wir zwischen Ramallah und Nablus in dem kleinen Dorf Jalud auf verbrannten Feldern, die sich über die Hänge erstrecken und ein Bild der Zerstörung bieten. Mahmoud Fawzi steht auf der verkohlten Erde seiner Felder, beißender Rauchgeruch hängt in der Luft. Der junge Mann steht vor den Trümmern seiner Existenz, die buchstäblich in Flammen aufgegangen ist. Seit bald 20 Jahren hat ihn sein Land vor allem wegen des routinemäßigen Vandalismus der israelischen Siedler nur Geld gekostet. Dieses Mal ist es besonders schlimm, mehr als 90% seiner Bäume wurden verbrannt.
Trotzdem ist er bemüht, sich die Verzweiflung gegenüber uns, den Gästen, nicht anmerken zu lassen. Bei Wassermelone und Tee berichten Mahmoud und sein Bruder von den Ereignissen. „Vor wenigen Tagen kamen vermummte Männer aus Adei-Ad ins Dorf und steckten die Felder in Brand. Mehrere hundert Olivenbäume wurden verbrannt, viele davon mehr als 70 Jahre alt. Seit den letzten Anschlägen 2013 haben wir Kameras am Schulgebäude, das am Ortsrand liegt. Auf den Aufnahmen ist alles zu sehen, selbst woher sie kamen.“ Die Aufzeichnung zeigt Männer mit Skimasken, die laut Mahmoud aus der Richtung der genannten Siedlung bzw. des Außenpostens kommen. Die Brandstifter gehen systematisch vor: Innerhalb einer Nacht geht ein Großteil der gesamten Bäume des Dorfes sowie einige Getreidefelder in Flammen auf.
Institutionalisierte Straffreiheit
In einem Land mit einem anderen Rechtssystem wären die Aufnahmen trotz der vermummten Gesichter wahrscheinlich ein wichtiges Indiz. In der Westbank sind die Bauern jedoch nicht Bürger eines Staates mit allen dazugehörenden Rechten. Als Bewohner eines seit über 50 Jahren besetzten Gebietes unterliegen sie der israelischen Militärgerichtsbarkeit, im Gegensatz zu den Siedlern, für die als israelische Bürger auch in den besetzten Gebieten die israelische Polizei zuständig ist. Um eine Anzeige gegen Siedler zu erstatten, müssten palästinensische Bauern also in eine Siedlung fahren, um die dortige Polizeiwache aufsuchen.
Wie diese kafkaesk anmutenden Rahmenbedingungen Realitäten produzieren, in denen bei Siedlergewalt fast nie Recht gesprochen wird, spiegelt sich auch in den Statistiken etablierter Menschenrechtsorganisationen wider. Die israelischen Organisation Yesh Din wertete von 2005 bis 2017 insgesamt über 1.200 Fälle aus, in denen PalästinenserInnen SiedlerInnen wegen physischer Gewalt oder Raub und Beschädigung ihres Eigentums angezeigt hatten. Dabei stellte sich heraus, dass nur 3 Prozent aller Anzeigen zu einem Schuldspruch führten.
Das institutionalisierte System der Straffreiheit für die BürgerInnen Israels in den besetzten Gebieten führt dazu, dass trotz der kontinuierlichen und massiven Übergriffe auf Bauern und Hirten diese immer weniger versuchen, Anzeigen zu erstatten. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch Mahmoud und sein Bruder kaum Hoffnung haben, vor Gericht Gerechtigkeit zu erlangen. Resigniert zeigt Mahmoud in Richtung des Außenpostens Adei-Ad: „Die versuchen uns fertig zu machen und agieren dabei straffrei. Es reicht nicht, dass sie ihre Siedlung und deren Felder illegal auf palästinensischem Besitz gebaut haben. Sie versuchen, sich immer mehr Land zu nehmen. Wir sind dabei nur ein Störfaktor, der verschwinden soll. Und egal was hier passiert, für die internationale Gemeinschaft ist das kein großes Thema mehr. In manchen Siedlungen vermieten sie sogar Zimmer über Airbnb. Was sind das für Leute, die auf geraubtem Land Urlaub machen?“
Das Problem der Siedlergewalt in Jalud und anderen Dörfern der Westbank ist nicht nur als Akt isoliertes Agieren einiger fundamentalistischer Hardliner zu begreifen. Die Gewalt ist Teil eines weiter gefassten systemischen Problems, weil das Siedlungsprojekt mit übergeordneten staatlichen Interessen übereinstimmt, wie sie sich in der von Benjamin Netanjahu angekündigten Annexion des Jordantals widerspiegeln.
Die Kontrolle über das Land und den Zugang zu Ressourcen, um es bewirtschaften zu können, ist ein zentraler Aspekt des asymmetrischen Konflikts in den besetzten Gebieten, in dem die lokale Bevölkerung dem israelischen Militär und den von ihm unterstützten SiedlerInnen fast machtlos gegenübersteht.
„Wieder unabhängig von der Besatzung werden“
Zurück in Ramallah sitzen wir im Büro von UAWC und erörtern Möglichkeiten der Unterstützung der Bauern und Hirten in der Region Nablus, die regelmäßig von Brandstiftung und gewalttätigen Angriffen durch Siedler betroffen sind. medico unterstützt die Familien in den Gemeinden dabei, im kommenden Jahr neu zu pflanzen. Zugleich ist aber auch klar, dass die Betroffenen nicht noch drei Jahre warten können – so lange würde es dauern, bis neue Bäume die erste Ernte abwerfen würden. Darum beschließen wir, ab Herbst mit sog. „inter-cropping“ zu beginnen, ein Prozess, in dem zwischen den Bäumen bereits bestimmte Getreide- und Gemüsesorten angebaut werden können. So wird der Boden rehabilitiert und gleichzeitig ein Beitrag zur Existenzsicherung geleistet. Dafür werden die Bauern im Oktober mit Saatgut aus der Saatgut-Bank von UAWC in Hebron versorgt, in der nur lokale, von Pestiziden unabhängige Samen gezüchtet werden.
Neben den konkreten Schritten, die es nun einzuleiten gilt, sprechen wir auch über die sozio-ökonomischen Verhältnisse, in denen sich die Gewalt abspielt. Denn in den über 50 Jahren militärischer Besatzung entwickelte sich die Wirtschaft in der Westbank zu einem sogenannten 'captive market', einem gekaperten Markt. Seit Beginn der Besatzung 1967 wurden alle wirtschaftlichen Aktivitäten der PalästinenserInnen der israelischen Militärverwaltung unterstellt, jede wirtschaftliche Tätigkeit erfordert seitdem deren Genehmigung. Zudem müssen alle palästinensischen Ex- und Importe über die israelisch kontrollierten Grenzen abgewickelt werden. Durch den Anteil der dazu notwendigen israelischen Firmen als Mittler in jedem Handel, verringert sich der ohnehin geringe Gewinn der lokalen Unternehmen. In den Pariser Protokollen, die als Teil der Osloer Abkommen Mitte der 1990er Jahre unterzeichnet wurden, wurde die faktisch bereits bestehende Abhängigkeit der palästinensischen Wirtschaft weiter festgeschrieben. Der Zugang zu den Märkten ist nur einseitig de-reguliert. Während israelische Waren palästinensische Ladenregale überschwemmen, finden sich in israelischen Supermärkten kaum palästinensische Produkte.
Moayyad Bsharat, einer der Projektkoordinatoren von UAWC, macht aber noch auf einen anderen, wesentlichen Aspekt der palästinensischen Alltagsrealität aufmerksam: Das Bezeichnende ist auch, dass durch die jahrzehntelange Besatzung nicht nur jeder Bereich der Wirtschaft kontrolliert wird, sondern die Mentalität in Teilen unserer Gesellschaft geformt wurde. Für viele der neuen Eliten, die durch die Neoliberalisierung der besetzten Gebiete im Zuge des Oslo-Regimes wurden, sind israelische Produkte zum Statussymbol geworden. Die palästinensischen Bauern leiden so nicht nur unter dem verzerrtem Wettbewerb, sondern auch unter dem Problem, dass ihre Waren von einem Teil der Gesellschaft als im Vergleich minderwertig wahrgenommen werden.“ Neben den neuen Eliten, die aus Image-Gründen israelische Gemüse- oder Milchprodukte kaufen, gibt es diejenigen, die sich aus finanzieller Not oder schlichtweg aus Gleichgültigkeit für billigere israelische Varianten entscheiden. Denn nach 70 Jahren Vertreibung und Unterdrückung ist in weiten Teilen auch eine Tendenz zur Apathie und De-Politisierung in der palästinensischen Gesellschaft zu spüren.“
Dies zu ändern und das gesellschaftliche Bewusstsein für die Bedeutung und das Potential von Konsumentscheidungen zu stärken ist Ziel der Aufklärungsarbeit, die UAWC in Schulen und Gemeinden betreibt. Die Botschaft dabei ist: Den überschaubaren, aber wachsenden Markt lokaler, biologisch wirtschaftender Initiativen zu stärken, unterstützt nicht nur konkret die palästinensische Landwirtschaft. Es ist auch ein Beitrag zur Unabhängigkeit von der Besatzung.
Diese Sichtweise spiegelt sich auch im Bewusstsein der jüngeren Generation palästinensischer AktivistInnen, die Landwirtschaft zunehmend als Teil von zivilgesellschaftlichem Widerstand betrachtet. Yara, die als Teil des Kollektivs „Om Soleiman Farm“ im Dorf Bil‘in biologische Landwirtschaft betreibt, beschreibt dies mit den Worten: „Die traurige Wahrheit ist, dass mehr als ein halbes Jahrhundert Kolonialisierung und Besatzung uns komplett abhängig gemacht hat. Wir wären momentan nicht in der Lage, ab morgen wieder frei zu sein. Uns unabhängig zu machen, uns selbst ernähren zu können, ist deshalb ökonomisch, aber auch psychologisch von zentraler Bedeutung.“