Die Straßen sind neu und ohne Schlaglöcher. Tausend Kilometer, quer durch die Ukraine mit dem Auto zu fahren, und das mitten im Krieg, stellte ich mir beschwerlicher und gefährlicher vor. Sergej Tschubukow, einer der drei Direktoren des medico-Partners Mirnoe Nebo (friedlicher Himmel) aus Charkow/Charkiv, fährt die Strecke alle paar Wochen. Er besucht seine Frau und zwei Kinder in Krefeld, die hier vor dem Krieg Schutz gefunden haben, und nimmt auf dem Rückweg humanitäre Güter mit. Oder wie dieses Mal: Seine Schwiegermutter Margareta, die ebenfalls in Krefeld lebt und nun ihren kranken Mann in einem Charkower Krankenhaus betreuen muss, sowie zwei medico-Kolleg:innen und einen deutsch-polnischen Filmemacher. Die Schwiegermutter ist aufgeregt. Fast ein Jahr war sie nicht in ihrem Haus am Stadtrand der Großstadt. Es stehe noch, sei aber reparaturbedürftig, sagt sie. Sie fürchtet sich, so erzählt sie mir, die Zeit auf der Hinterbank des Autos vertreibend, genauso vor den täglichen Luftalarmen in Charkow wie davor, nachts im Krankenhaus bei ihrem Mann bleiben zu müssen, ohne Bett, nur mit einem Stuhl.
Unterwegs passieren wir immer wieder Militärposten. Im Westen des Landes häufig nicht nur mit ukrainischer, sondern auch mit der rot-schwarzen Bandera-Fahne geschmückt. Die mit Sandsäcken bewehrten Posten rufen erst noch Erstaunen hervor, dann sind sie genauso gewöhnlich wie die langen Militärtransporte Richtung Osten, denen wir auf der Rückfahrt immer wieder begegnen werden. Später wird uns ein Mitarbeiter von Mirnoe Nebo sagen, das Schlimmste sei, dass man sich an diese Situation gewöhne. Was das genau heißt, wird unsere Reise als Frage die ganze Zeit begleiten.
Wir fahren unbehindert durch die Ukraine, essen in rustikalen Restaurants, durchqueren das Stadtzentrum von Kyiv (Kiew), das von im Stau stehenden Autos hell beleuchtet wird und wo Menschenmassen die Straßen kreuzen. Es herrscht der Alltagstrott einer ganz normalen Großstadt. Allerdings ohne Straßenbeleuchtung. Vielleicht wird Strom gespart, vielleicht wurde ein Elektrizitätswerk getroffen.
Nachdem das russische Kriegsziel, die Besetzung der Ukraine mit militärischen Mitteln, gescheitert ist, steht nun neben territorialen Zielen im Osten und Südosten der Ukraine die Zerstörung der Infrastruktur des Landes im Mittelpunkt. Trotzdem unterscheidet sich der Kriegsalltag in den verschiedenen Regionen des Landes erheblich. Je näher wir Charkow kommen, der mit anderthalb Millionen Einwohner:innen zweitgrößten Stadt der Ukraine, desto deutlicher wird das. Zusehends leert sich die Autobahn, eine ungewohnte Dunkelheit umhüllt uns. Orte oder Städte neben der Straße sind nicht auszumachen. An einer Straßensperre an der Stadtgrenze müssen wir anhalten und unsere Ausweise zeigen. Kurz nach der Ausgangssperre, die in Charkow um 23 Uhr beginnt, früher als in anderen Landesteilen, treffen wir auf eine Stadt, die wie ausgestorben wirkt. Ein ferner Luftalarm spielt die Begleitmusik. Wir sind nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Das Hotel ist voller humanitärer Helfer:innen. Sonst verschlägt es niemanden hierher. Später erfahren wir, dass eine russische Rakete ein Depot mit Feuerwerkskörpern getroffen hat. Sascha Djatschenko, eine ukrainische Kollegin, zeigt uns am nächsten Tag auf ihrem Handy das Feuerwerk, das die Rakete ausgelöst hat. Ihre Wohnung liegt in unmittelbarer Nähe des Einschlagsortes. Sie hat ihre Wohnung trotz des Raketeneinschlags nicht verlassen. Diese Gewöhnung werden wir in den nächsten Tagen häufig antreffen. Solange der Beschuss nur vereinzelt ist, hofft man einfach darauf, nicht getroffen zu werden, zieht die Vorhänge zu oder stellt die Musik lauter. Das macht Sascha.
Normalität im Krieg
Ein fortlaufendes, sich veränderndes Kriegsgeschehen und das Ringen darum, so normal wie möglich weiterleben zu können, obwohl nichts normal ist, sind zwei parallele Bewegungen des ukrainischen Alltags. In Charkow tobte der Krieg wochenlang. Am Anfang verteidigten Sportler die Stadt gegen die anmarschierenden russischen Truppen. Die Armee war nicht da und die Polizei versteckte sich. Durch die Verteilung von Waffen an Freiwillige konnte die russische Armee tatsächlich solange an der Einnahme der Stadt gehindert werden, bis ukrainische Truppen kamen. Als Rache für ihren Widerstand erlitten die Charkower:innen wochenlangen Raketenbeschuss. Die Bilder sind bekannt. Tausende Menschen harrten über Tage und Wochen in den Metrostationen aus, Charkow war quasi belagert. Manche fürchten, dass sich das bei einer nächsten russischen Offensive, die mit bangen Gefühlen jederzeit erwartet wird, wiederholen könnte.
Die medico-Kolleg:innen von Mirnoe Nebo begannen zu dieser Zeit, ihre Suppenküchen aufzubauen und versorgten die Menschen in den unterirdischen Stationen mit warmen Mahlzeiten. Über 1.500 pro Tag. Sie alle haben diese Zeit überlebt, aber Dinge gesehen, von denen sie nicht gerne reden. Zum Beispiel den Einschlag einer Rakete in eine Schlange wartender Menschen vor einer Essensausgabe an der U-Bahn-Station „Studentscheskaja“. Es gab viele Tote. Solche Bilder sind den Charkower:innen wie eingebrannt. Sie lassen sich nicht vergessen.
Zeichen der Mitmenschlichkeit
Die Ausgabe von Essen und Lebensmitteln unter Kriegsbedingungen ist weit mehr als eine technische Versorgungsangelegenheit. Sie ist zugleich ein Beweis gegenseitiger Fürsorge. An all den Essensausgaben, die wir in Charkow, in Isjum oder Kupjansk besuchen, herrscht eine überaus gute Stimmung. Die Wartenden kennen und unterhalten sich. Niemand schimpft. Nur hin und wieder ein Witz: „Wo habt ihr dieses Mal das Dessert.“ Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Küchen schälen Gemüse, kochen Suppen und Couscous, braten Fleisch. Alles wirkt hochkonzentriert, jeder Handgriff wie Jahre eingeübt und gut miteinander im Einklang. Diese Betriebsamkeit, die Sicherheit einer notwenigen Tätigkeit, die Normalität der Routine und die Verbindung untereinander erscheint wie ein Zeichen der Mitmenschlichkeit gegen die Feindseligkeit des Krieges.
Zu bewundern gibt es auch die technische Seite des Unternehmens. Hier wird produziert wie in einer Großküche. Stolz zeigt uns Sergej den rotierenden Brotbackautomaten, der mindestens 100 Weißbrotlaiber in kürzester Zeit unter Heißluft backt. Der Duft ist verführerisch. Daneben brodelt in riesigen Töpfen Schweinegulasch, schwere Jungs, mit Tattoos übersät, zerhacken nebenan die ankommenden Fleischstücke in mundgerechte Stücke. Hier wollen Abläufe organisiert, Personal eingestellt und geführt werden. Eine Buchhaltung muss mit den Anforderungen internationaler Geldgeber:innen klarkommen. Bei Mirnoe Nebo werden Millionen bewegt. Man könnte die Charkower Organisation als ein humanitäres Start-up bezeichnen, wäre da nicht der Krieg.
Über 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat Mirnoe Nebo mittlerweile. Am Anfang arbeiteten sie für Lebensmittel. Mittlerweile bekommen sie Gehalt. „Als wir das erste Gehalt bekamen“, sagt Sascha, „haben wir alle geweint.“ Da die meisten Betriebe in der Millionenstadt Charkow geschlossen sind, arbeiten in der NGO Fachleute, die ihr Wissen hier schnell anwenden können. Swetlana Solapanowa beispielsweise spricht mehrere Sprachen und verantwortet die Kontakte mit den internationalen Geberinnen und Gebern. Sie arbeitete zuvor in der Filmbranche, sorgte für Marketing und Distribution. Ihr blaues Kostüm atmet Welterfahrung. Zurzeit schläft sie nachts in einem Skianzug, weil es in ihrem Wohnblock keine Heizung gibt. Mit ihr fahren wir zu einem humanitären Zentrum von Mirnoe Nebo. Unterwegs zeigt sie uns das Opernhaus und das Theater. Inszenierungen, die in Charkow erfolgreich waren, fanden im ganzen Land ihr Publikum. Hier sei man künstlerisch experimentell gewesen, meint sie. Jetzt sind alle Kultureinrichtungen geschlossen. Die Routinen einer abrupt beendeten Lebensweise schieben sich manchmal noch durch den Schleier des Vergessens. Swetlana und ich reden über die besten Ausstellungen in Europa. Ihr 17-jähriger Sohn lebt in einem Internat in Österreich. In Charkow hätte er das dritte Jahr in Folge Online-Unterricht gehabt. Darüber, dass dem Sohn auch eine mögliche Einberufung ins Militär erspart bleibt, sprechen wir nicht. Die männlichen Mitarbeiter von Mirnoe Nebo sind als humanitäre Helfer ebenfalls vorerst vor der Einberufung geschützt.
Das humanitäre Zentrum liegt in einem Viertel Charkows, das dicht bevölkert ist und viele Raketeneinschläge ertragen musste. Zum Teil im Keller eines Wohnhauses eingerichtet, bietet es auch bei Luftalarm Schutz. Hier können Kinder unterrichtet werden, ein Arztzimmer ist eingerichtet, juristische Beratung soll die Bewohner:innen über ihre Rechte auf Entschädigung und Hilfsleistungen des Staates informieren. Auch psychologische Unterstützung wird angeboten. Im ganzen Gebiet Charkow, das ungefähr so groß ist wie Brandenburg, leistet Mirnoe Nebo jetzt humanitäre Hilfe und plant weitere solcher Zentren. Man richtet sich auf einen langen Krieg ein, obwohl uns alle immer wieder sagen, der Krieg werde im Sommer vorbei sein.
Ende der gemeinsamen Geschichte
Mehr als in anderen Teilen des Landes zeigt sich in Charkow und den Kleinstädten, die wir bereisen, welche dramatischen und unwiederbringlichen Veränderungen dieser russische Angriff geschaffen hat. Charkow war bis zum 24. Februar 2022 mit das wichtigste universitäre Zentrum der Region, auch für die russischen Städte jenseits der Grenze. Die Stadt hat ihr sowjetisches Antlitz bewahrt. Große Boulevards und Alleen, in deren Mitte parkähnliche Anlagen liegen, prägen die Stadt genauso wie die Zuckerbäckerbauten der sowjetischen Nachkriegszeit. Charkow, im 17. Jahrhundert vom russischen Imperium gegründet, wurde während des Zweiten Weltkrieges fast vollständig zerstört.
Im Gegensatz zum an der polnischen Grenze gelegenen Lviv, das von der Sowjetunion erst mit dem Hitler-Stalin-Pakt einverleibt wurde, zeigt sich im Stadtbild von Charkow die lange gemeinsame, von Herrschaft und Unterwerfung, aber auch von intellektuellem Austausch geprägte russisch-ukrainische Geschichte. Unser Hotel liegt unweit des Puschkin-Boulevards. Die zentrale Achse der Stadt hieß bis vor kurzem noch Moskauer Prospekt. Er wurde jetzt in „Prospekt der Helden von Charkow“ umbenannt, aber die alten Straßenschilder hängen noch. Die Bezeichnung „Slawa Ukrajini“ – Ruhm der Ukraine, einst ein vom ukrainischen Nationalistenführer Bandera erfundener Ruf, den er mit dem Hitlergruß verknüpfte, war hier nicht allgemeiner Konsens. Russisch war offizielle Verkehrssprache.
Während man früher zu später Stunde in Diskotheken die russischen Singer-Songwriter, Okudschawa oder Wysotzkij, spielte und alle mitsangen, erklingt heute stattdessen „Slawa Ukrajini“ als Popsong. Weder die russische noch die ukrainische Regierungsseite hatte vor Ausbruch des Krieges verstanden, dass in dieser Region eine Ressource für ein friedlicheres Miteinander lag. Das war nicht nur eine Frage der Mentalitätsgeschichte und verwandtschaftlicher Beziehungen. Es war auch eine ökonomische Angelegenheit. Die Grenzregion profitierte von der boomenden russischen Wirtschaft. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer arbeiteten in Russland. Die Ukraine selbst hingegen erlebte von 1990 bis 2017 einen andauernden dramatischen Abschwung im Weltmaßstab, der laut dem Wirtschaftshistoriker Adam Tooze nur noch von der Republik Kongo und dem Jemen getoppt wurde.
Ein Marshallplan
Jetzt richten sich alle Hoffnungen auf eine mögliche EU-Mitgliedschaft und auf Gelder, die weltweit mobilisiert werden sollen. Von einem Marshallplan für die Ukraine ist die Rede. In Charkow werben bereits türkische Bauunternehmen mit Großplakaten für ihre künftigen Projekte, weil die Türkei ebenso wie die USA nach Verabredung der internationalen Gebergemeinschaft für den Wiederaufbau zuständig ist. Die Richtung deutet sich bereits an. Die ukrainische Regierung beschließt unter Ausnutzung des Kriegsrechts immer weitere Deregulierungsmaßnahmen und eine ungehinderte Öffnung des Landes für ausländische Investor:innen. Arbeitnehmerrechte wie der Kündigungsschutz sind fast vollständig gestrichen, die Arbeitslosenunterstützung wurde auf drei Monate verkürzt. Die sozialen Aufgaben des Staates stehen zur Disposition. Ausländische Investitionen sollen die Wirtschaft ankurbeln und NGOs wie Mirnoe Nebo sozialstaatliche Aufgaben erfüllen. Das ist der ganze technokratische Horizont. Kein Wunder, dass ein mythischer ukrainischer Nationalismus die Politik ersetzt. Weder Wohlfahrtsstaat noch Verfassungspatriotismus bilden hier gemeinsame normative Nenner.
Auf der Rückreise von Charkow fahren wir über Lviv. Das alte Zentrum strahlt im fast vollständig wiederhergestellten Antlitz einer Metropole der österreichisch-ungarischen Monarchie. Eine Touristenattraktion, wäre da nicht der Krieg. Während in Charkow auch tagsüber eine seltsame Ruhe herrscht, drängen sich die Menschen hier in der Innenstadt selbst am Sonntag, um zu shoppen oder ins Restaurant zu gehen. Beim Verlassen der Ukraine mit einem pünktlichen Zug, in dem viele Ukrainer:innen sitzen, die in Polen oder Deutschland den Krieg überwintern, begreift man, wie diese neue Normalität funktionieren kann: Unerbittlicher Krieg im Osten und Südosten mit vielen toten Zivilist:innen und vor allen Dingen toten Soldaten ist die eine Realität, die ein Hochglanz-Kapitalismus in anderen Landesteilen zu überstrahlen sucht. So ist der Krieg gekommen, um zu bleiben. Er erscheint in dieser Parallelität aus Normalität und Schrecken beherrschbar, wenn man nur die reine Unmittelbarkeit im Blick hat. Dass man sich an diesen Zustand gewöhnt, sei die größte Gefahr, sagte Andrej Davydov, einer der jungen Teamleiter von Mirnoe Nebo in Kupjansk, einer Kleinstadt 120 Kilometer von Charkow entfernt. Hier ist der Krieg mit nahem Geschützdonner immer präsent. Das aber ist es, was jetzt einzutreten droht: Die Gewöhnung an den Krieg in der Mitte Europas.
Katja Maurer berichtete als junge Journalistin von der Wahl Gorbatschows zum Parteichef in Moskau, wo sie zuvor auch studiert hatte. Seither verfolgt sie die politischen Entwicklungen im postsowjetischen Raum.
medico unterstützt die Charkower NGO „Mirnoe Nebo“ seit fast einem Jahr. Erste Kontakte entstanden über die landwirtschaftliche Kooperative von Longo Mai in den ukrainischen Transkarpaten, ebenfalls ein medico-Partner. Für diese und weitere Arbeiten bitten wir um Ihre Unterstützung.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!