Frankfurter Rundschau: Frau Starosta, das Erdbeben trifft eine Region in prekärer Lage. Sie waren soeben noch in den Kurdengebieten Syriens. Was haben Sie vor dem Erdbeben erlebt?
Anita Starosta: Das Erdbeben trifft eine Region, die seit mehr als zehn Jahren Kriegsgebiet ist. In Syrien herrscht ein Bürgerkrieg, der auch bis heute nicht vorbei ist. Außerdem greift die Türkei weiterhin die selbstverwalteten kurdischen Gebiete im Norden Syriens an und hat mit Luftschlägen schon vor dem Erdbeben wichtige Teile der zivilen Infrastruktur gezielt zerstört. Im Nordwesten Syriens, in Idlib, leben bis zu drei Millionen Binnenflüchtlinge in Zelten und unter extrem prekären humanitären Bedingungen. Dass in einer solchen Situation jetzt noch ein Erdbeben hinzukommt, ist eine absolute Katastrophe. Wir können jetzt noch gar nicht absehen, welche humanitären Folgen das für die Region hat.
Im November startete das türkische Militär Angriffe auf kurdische Milizen im Norden Syriens und Iraks. Jetzt gibt es Meldungen von neuen Angriffen. Nutzt der türkische Präsident Erdogan das Chaos aus?
Schon als ich vor Ort war, haben viele Menschen für die nächsten Tage türkische Angriffe befürchtet, vor allem auf die Stadt Kobane, was Erdogan auch schon länger angekündigt hat. Anscheinend kam es heute Morgen zu Artilleriebeschuss aus den türkischen besetzten Gebieten in die Region Shehba, dort leben Zehntausende Flüchtlinge aus Afrin. Die Region ist ebenfalls vom Erdbeben betroffen. Die internationale Gemeinschaft ist gefragt, völkerrechtswidrige Angriffe sofort zu verurteilen und die Türkei zu stoppen. Spätestens nach dem Erbeben müssen alle kriegerischen Handlungen sofort eingestellt werden, die Menschen in der Region erleben ohnehin ein unbeschreibliches Leid.
Kann man sagen, dass in Syrien hauptsächlich Regionen betroffen sind, die von den Zentralregierungen abgeschnitten sind?
Zu nicht unerheblichen Teilen ja. In Syrien sind vor allem Idlib, das islamistisches Rebellengebiet ist, aber auch der Nordosten, der unter kurdischer Selbstverwaltung steht, Orte, die nicht unter Regimekontrolle stehen und die unabhängig davon Hilfe organisieren müssen. Im Nordosten geschieht das seit Jahren schon ohne große Unterstützung der Vereinten Nationen, denn es gibt keinen offiziellen UN-Grenzübergang in die Region. Und auch in Idlib sind Hilfslieferungen sehr prekär.
Wie trifft das Erdbeben die Hundertausenden Flüchtlinge im Grenzgebiet?
Der einzige Vorteil – und das ist sehr zynisch zu sagen – ist, dass, wo viele Menschen in Zelten leben wie im Nordwesten Syriens, keine Gebäude einstürzen konnten und sich die Menschen nicht vor Trümmern retten mussten. Aber gleichzeitig ist es so, dass auch in Idlib Menschen in der Stadt leben, und dass, Stand jetzt, in der gesamten Region fast 300 Gebäude zerstört worden sind. Dazu kommt, dass die Zugänge zu humanitärer Hilfe schon vorher extrem schlecht waren.
Das Assad-Regime in Damaskus hat internationale Hilfe beantragt. Wie ist das einzuordnen?
Der syrische Botschafter hat angekündigt, dass alle Hilfe über das Regime abgewickelt werden muss. Das ist extrem problematisch. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass auch viele der UN-Hilfen, die über das Regime gelaufen sind, dazu benutzt wurden, regimenahe Organisationen zu finanzieren. Damaskus steuert also die Hilfe. Deswegen ist es ist jetzt wirklich wichtig, die vom Regime unabhängigen Organisationen im Nordosten und -westen zu unterstützen und Zugänge zu sichern, die nicht über das Regime-Gebiet führen.
In einer ersten Analyse nach dem Erdbeben schreiben Sie, „in Syrien ist Hilfe immer wieder ein politisches Instrument in Händen des Assad-Regimes“. Wie meinen Sie das?
Assad steuert über die humanitäre Hilfe die politische Situation im Land. Vor drei Jahren hat er beispielsweise den Grenzübergang aus dem Irak in die kurdischen Gebiete im Nordosten Syriens untersagt, sodass die Selbstverwaltung darauf angewiesen ist, UN-Hilfen über Damaskus zu beziehen. Die internationale Gemeinschaft müsste jetzt den Schritt tun und sich direkt an die Selbstverwaltung im Nordosten und lokale Organisationen im Nordwesten wenden. Das ist möglich, so arbeiten wir bei medico international auch.
Wie muss die internationale Gemeinschaft in dieser Ausnahmesituation mit Assad umgehen?
Humanitäre Hilfe darf nicht instrumentalisiert werden, nicht von Assad, aber auch nicht von Erdogan, der sich ja gerade im Wahlkampf befindet. Die Hilfe muss alle erreichen. Abgesehen davon braucht es eine langfristige Lösung für die Region. Der Krieg muss aufhören. Und für die Binnenflüchtlinge muss es einen humanitären Korridor raus aus Syrien geben – in die Türkei und nach Europa. Das wurde bisher verhindert und kann auch als eine Folge des EU-Türkei Deals verstanden werden, Flüchtlinge in der Region zu halten.
Wer kann die Hilfe koordinieren?
Im Krieg sind ja zahlreiche Hilfsstrukturen entstanden. Syrische Akteure leisten selbstorganisiert Hilfe und benötigen dafür Unterstützung. Sie wissen genau, was lokal notwendig ist, aber sind durch den herrschenden Mangel natürlich schlecht ausgestattet. Es fehlt an allem: an medizinischem Geräten, an Ausrüstung und an konkretem Hilfsmaterial. Aber zumindest gibt es diese lokalen Akteure.
Wie fährt medico international seine Hilfe an?
Wir arbeiten mit unseren Partnerorganisationen zusammen, die wir schon seit vielen Jahren unterstützen und die jetzt Nothilfe organisieren. In Idlib-Stadt unterstützen wir ein Frauenzentrum, das auch Flüchtlingshilfe betreibt, jetzt aber vom Erdbeben betroffen ist. Im Nordosten – vielen als Rojava bekannt – unterstützen wir den Kurdischen Roten Halbmond, die lokale Nothilfeorganisation. Die baut derzeit Zeltstädte auf, weil davon ausgegangen wird, dass dort Flüchtlinge ankommen werden, die aus Angst vor Nachbeben nicht in ihre Häuser zurückwollen.
Und in der Türkei?
Dort unterstützen wir in den kurdischen Gebieten zivilgesellschaftliche Gruppen, die in der Vergangenheit kriminalisiert waren, aber trotzdem gute Zugänge haben in Städte und Dörfer, wo bisher wenig Hilfe angekommen ist. Sie sammeln jetzt Decken, Kindernahrungsmittel und Zelte für all die Menschen, die jetzt im bitterkalten Winter obdachlos geworden sind.
Interview: Jakob Maurer
Zuerst erschienen am 7. Februar 2023 in der Frankfurter Rundschau.
medico international unterstützt seit Jahren Organisationen in den betroffenen Gebieten: Unsere Partnerinnen vom Frauenzentrum in Idlib arbeiten in den Flüchtlingslagern der Provinz. Die Helfer:innen des Kurdischen Roten Halbmonds in Rojava helfen bereits seit letzter Nacht in Kobane und Aleppo bei der Bergung und Versorgung von Verletzten. In der Südosttürkei organisiert die politisch verfolgte kurdische Zivilgesellschaft Hilfe von unten. Auf sie und viele andere kommt es jetzt an.