Israel/Palästina

Doppelter Ausnahmezustand

09.10.2023   Lesezeit: 7 min

Die tödlichen Angriffe der Hamas haben starke Auswirkungen auf unsere Partner:innen in Israel. Wir sprachen mit Guy Shalev, Direktor von Physicians for Human Rights, über die Situation und ihre Arbeit mit Überlebenden.

Unter Schock und unter Bomben

Aufgrund der schweren Bombardierungen sind unsere Partner in Gaza nicht in der Lage, Interviews zu geben. Deshalb haben wir mit Chris Whitman, unserem Vertreter in Palästina und Israel, gesprochen, der in regelmäßigem Kontakt mit ihnen steht.

medico: Wie erlebst Du die Lage in Israel nach den Angriffen der Hamas?

Guy Shalev: Zunächst einmal sind wir alle am Boden zerstört. Jede Person, die ich kenne, kennt jemanden, der ermordet oder getötet, entführt oder verletzt wurde. Israel ist ein sehr kleines Land mit starken familiären und gemeinschaftlichen Bindungen. Wenn mehr als 1.000 Menschen ermordet werden, ist das überall zu spüren.

Hinzu kommt die Bedrohung, der die Menschen weiter ausgesetzt sind. Wir sind beispielsweise in das Haus meiner Eltern gezogen, weil wir selbst keinen richtigen Luftschutzbunker haben. Bei anderen PHRI-Mitarbeiter:innen ist das ähnlich. Wir haben Leute, die in London und Dänemark festsitzen. Eine Kollegin ist nach Zypern gegangen, weil sie keinen sicheren Ort für sich und ihre Familie finden konnte. Zuerst ging sie zu ihren Eltern in den Norden, aber als es ihr dort wegen der Nähe zum Libanon zu unsicher wurde, hat sie mit ihrem Kind das Land vorübergehend verlassen.

Im Zentrum Israels haben wir mindestens einen Alarm pro Tag, weil Raketen aus dem Gazastreifen einschlagen. Immer wieder rennen wir zu den Schutzräumen. Im Süden geschieht das noch deutlich häufiger. Du weißt ja, dass ich eine kleine Tochter habe. Meine Partnerin ist außerdem schwanger, was uns in der jetzigen Lage natürlich zusätzlich besorgt. Früher, als wir noch kinderlos waren, wären wir bei Raketenbeschuss einfach geblieben.

Und was ist mit deinen Kolleg:innen von PHRI? Wie erlebt ihr die Situation und was bedeutet die Lage für euch als Organisation?

Unser Personal ist jüdisch-israelisch und zu mehr als einem Drittel palästinensisch. Viele unserer Freiwilligen sind palästinensische Gesundheitsarbeiter:innen. Wir erleben also die Geschehnisse auf sehr komplexe Weise und sind privat in unterschiedliche Realitäten eingebunden: Jüdische Israelis trauern um die Opfer der Hamas-Angriffe vom Samstag, Palästinenser:innen sind extrem besorgt um ihre ihre Verwandten und Communities in Gaza.

Unsere jüdischen Kolleg:innen bekommen vor allem die schrecklichen Videos von den Ereignissen im Süden Israels in ihre Timeline, während unsere palästinensischen Kolleg:innen mit den schrecklichen Bildern aus Gaza konfrontiert sind. Und so nah wir uns auch sind, so sehr wir auch Kolleg:innen sind und zusammenarbeiten, sind diese Netzwerke doch ziemlich unterschiedlich. Wir sind zwar zusammen, aber leben zurzeit mit einem sehr unterschiedlichen Bewusstsein.

Ihr habt die Verbrechen der Hamas unmissverständlich verurteilt. In einer weiteren Stellungnahme habt ihr auch das derzeitige Vorgehen der israelischen Armee, das von Offiziellen und Politiker:innen verschiedentlich als Rachefeldzug charakterisiert wurde, beklagt. Was denkst du, wie die israelische Gesellschaft eure Position wahrnimmt?

Es ist in diesen Tagen eine enorme Herausforderung, als Menschenrechtsorganisation mit einer klaren, auf den Menschenrechten basierenden Stimme zu sprechen, ohne in bothsideism zu verfallen. Jede Seite ist für ihre Taten verantwortlich und sollte für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Verbrechen der einen Seite können nicht die Verbrechen der anderen Seite rechtfertigen.

Nach den Massentötungen durch die Hamas gibt es in der israelischen Gesellschaft wenig bis gar keine Bereitschaft, „Gnade walten zu lassen“, wie es einige formuliert haben, oder auch nur das Recht der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen auf ein Mindestmaß an Schutz anzuerkennen.

Im gesellschaftspolitischen Klima Israels der letzten Jahre und erst recht, seit diese rechtsextreme Regierung an der Macht ist, war das Klima gegenüber Organisationen wie der unseren und gegenüber Anti-Besatzungs-Aktivist:innen bereits sehr feindselig. Nach dem 7. Oktober ist es noch schwieriger geworden, aber als Menschenrechtsorganisation wollen, müssen und werden wir bestimmte Prinzipien aufrechterhalten.

Ihr seid nicht nur eine Menschenrechts-, sondern auch eine medizinische Hilfsorganisation mit konkreten Programmen zur Bereitstellung von Gesundheitsdiensten. In der Vergangenheit hat medico immer wieder humanitäre Projekte von Euch unterstützt, darunter die Lieferung von Notfallmedikamenten nach Gaza oder Mobile Kliniken im besetzten Westjordanland. Was tut ihr jetzt?

Aktuell arbeiten wir in Israel mit den Betroffenen der Hamas-Angriffe. Wir unterstützen Menschen, die in den Gemeinden im Süden Israels angegriffen wurden und geflohen sind. Mehrere tausend Menschen sind in Hotels im Süden, in Eilat und am Toten Meer, untergebracht. Andere sind bei ihren Familien im ganzen Land untergekommen.

Es gibt auch mindestens 1.000 thailändische Landarbeiter:innen, die in den betroffenen Gemeinden als Arbeitsmigrant:innen im Agrarsektor tätig waren. Sie wurden ebenfalls vertrieben und erlitten die gleiche Tragödie. Aber sie sind nicht in Hotels, sondern in großen Hangars untergebracht und müssen zum Teil ständig den Ort wechseln. Das ist wirklich beschämend. Für die Tatsache, dass sie nicht dieselbe Art von Unterstützung erhalten wie die Menschen, mit denen sie in denselben Gemeinden lebten, wie ihre Nachbar:innen und Arbeitgeber:innen, gibt es keinen anderen Grund als den Rassismus, dem sie vorher schon ausgesetzt waren.

Wir stellen den Menschen Medikamente zur Behandlung chronischer Krankheiten, akuter Infektionen und gegen andere Beschwerden zur Verfügung. Es gibt einige Fälle von Verletzungen, die keinen Krankenhausaufenthalt erfordern, bei denen unser Personal bei der Wundversorgung unterstützt. Einige Menschen benötigen psychiatrisch verordnete Medikamente, die sie dort, wo sie jetzt sind nur schwer bekommen können.

Aber wir kümmern uns auch um Menschen, die unter Angstzuständen leiden oder nach den furchtbaren Erlebnissen Schlafmittel benötigen, solange sie sich in dieser harten und akuten traumatischen Situation befinden. Andere, die darauf spezialisiert sind, kümmern sich um psychosoziale und psychologische Unterstützung.

Wie die Dienste von PHRI werden auch die meisten dieser Dienste von qualifizierten Freiwilligen ehrenamtlich angeboten. Die Regierung reagiert nämlich immer noch nicht angemessen auf die Bedarfe der Betroffenen. Von unserer Seite aus geht es hier aber vor allem um die medizinische Grundversorgung. Wenn dieser Bedarf nicht gedeckt wird, kann sich die Lage der Betroffenen verschlimmern.

Wie kommt es, dass die staatliche Versorgung in einem Land wie Israel nicht ausreichend ist? Warum muss sich eine Organisation wie PHRI engagieren?

Die Frage ist nachvollziehbar. Viele empfinden es so, dass Israel diese Menschen schon einmal im Stich gelassen hat, als es ihre Sicherheit in den Ortschaften nahe des Gazastreifens vernachlässigte und sie stundenlang nicht schützen konnte, während die Hamas ihre Verbrechen verübt hat. Ich verstehe, dass die Behörden die Menschen an einem möglichst sicheren Ort unterbringen wollten, wo es keine Luftschutzsirenen gibt, damit sie nicht alle paar Stunden in die Schutzräume rennen müssen. Das brauchen sie nach dem, was sie erlitten haben, wirklich nicht auch noch. Etwa 3.000 Menschen wurden in Hotels am Toten Meer untergebracht. Das ist ein sicherer Ort, da fliegen keine Raketen hin.

Es ist aber auch nicht wirklich ein bewohnter Ort. Es gibt dort keine Kliniken und keine Infrastruktur, die so viele Menschen in einer solchen Situation und mit ihren besonderen Bedürfnissen unterstützen könnten. Deshalb sind wir sofort mit Freiwilligen und Medikamenten dorthin gefahren. Die Regierung hat inzwischen auch eine Klinik eröffnet, aber für manche Menschen ist es eine Herausforderung, die Strecke zwischen ihrem Hotel und dieser Einrichtung zurückzulegen. PHRI betreibt eine kleine Klinik direkt in einem der Hotels, in denen die Menschen aus dem Kibbutz Be'eri untergebracht sind. Dies war eine der am stärksten von den Angriffen der Hamas betroffenen Gemeinden.

Arbeitet ihr auch in Gaza?

Im Moment können wir kaum direkte Hilfe für die Menschen in Gaza leisten, weil wir kein Material dorthin bekommen. Wie du weißt hat die israelische Armee eine totale Blockade verhängt, die auch humanitäre Güter wie Medikamente einschließt. Im Moment verfolgen wir die Informationen, die das palästinensische Gesundheitsministerium herausgibt und stehen über unsere Kontakte vor Ort auch in direkter Verbindung mit der Verwaltung des Gesundheitswesens. Sobald wir also etwas dorthin liefern können, sind wir für jede Spende dankbar, um Medikamente nach Gaza zu bringen.

Wir arbeiten so hart wie möglich daran, die internationale Gemeinschaft zum Handeln zu bewegen und die schrecklichen Angriffe auf Gaza zu beenden. Wir sagen immer wieder, dass der Angriff der Hamas vom vergangenen Samstag nicht dazu benutzt werden darf, die zwei Millionen Bewohner:innen des Gazastreifens wahllos anzugreifen. Rache ist kein politischer Aktionsplan.

Das Interview führte Riad Othman.

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