medico: Während der Lockdowns waren die Grenzen in Zentralamerika über Monate geschlossen. Die Maßnahmen zum Infektionsschutz verhinderten auch die Migration. Wie ist die Situation jetzt?
Rubén Figueroa: Anfang 2021 wurden die Grenzen aus wirtschaftlichen Gründen wieder geöffnet. Damit ging auch die Migrationsbewegung aus Zentralamerika wieder los. Neu war die starke Präsenz von Klima-Flüchtlingen, also von Menschen, die ihr Zuhause nach Verwüstungen durch Hurrikans wie Eta und Iota verlassen mussten. Mit der wieder aufgenommenen Migration verschwinden auch wieder mehr Menschen spurlos und kehrt die Militarisierung zurück. Letztere nimmt seit Jahren zu, unter der Regierung López Obrador in Mexiko hat sie sich noch einmal deutlich verschärft – auf den Routen, an den Grenzen, aber auch in den Behörden. So werden die Büros des Instituto Nacional de Migración nur noch von Militärs geleitet. Infolge dieser Militarisierung nimmt auch der Menschenschmuggel zu: Je mehr Soldaten und Polizisten auf der Route präsent sind, umso stärker wird er.
Präsident López Obrador behauptet, Mexiko sei inzwischen sicher für Migrant:innen.
Das ist falsch. Migrant:innen bleiben Opfer der generalisierten Gewalt in Mexiko. Die Menschenrechtsverletzungen und die Morde gehen weiter, sei es durch das organisierte Verbrechen oder die Polizei. Die Militärs, die auf den Routen allgegenwärtig sind, schaffen keine Sicherheit für Menschen auf der Flucht, sie nehmen sie fest und schieben sie ab. Was sie schützen, sind die Grenzen. Als Lateinamerikaner:innen wissen wir, was es bedeutet, die Armee auf der Straßen zu haben. Daran musste ich denken, als Anfang des Jahres 19 Menschen aus Guatemala im Norden tot aufgefunden wurden. Sie waren ermordet worden, es war ein Staatsverbrechen.
Du hast die Klimakrise erwähnt. Verändern sich die Gründe, warum die Menschen ihr Zuhause verlassen?
Sie ändern sich insofern, als sie sich verschärfen und vermehren. So werden die bekannten Migrationsauslöser wie Korruption, Gewalt und Perspektivlosigkeit in Zentralamerika im Grunde von Tag zu Tag schlimmer. Tatsächlich neu ist, dass Menschen, die bereits einmal migriert sind, nun auch ihr neues Zuhause verlassen müssen. Das liegt zum Beispiel an klimabedingten Naturkatastrophen, aber auch an wirtschaftlichen Nöten infolge der Pandemie. So haben sich viele Haitianer:innen, die ihr Land nach dem Erdbeben 2010 verlassen und sich in Süd- oder Zentralamerika angesiedelt hatten, nun wieder auf den Weg gemacht.
Unterscheidet sich deren Lage in Mexiko von der zentralamerikanischer Migrant:innen?
Gegenüber schwarzen Menschen sind die Ablehnung und der Rassismus noch ausgeprägter. Hinzu kommt die Sprachbarriere. Verschärft wird die Situation zudem durch herabwürdigende Kampagnen, die in den Medien immer dann laufen, sobald größere Gruppen die Grenze überquert haben. An diesen Diskursen beteiligen sich auch Regierungsstellen. Zugleich wird behauptet, Migrant:innen würden Unterstützung, Zugang zu Arbeit und zum Gesundheitssystem erhalten. Auch das stimmt nicht. Es ist inzwischen so schlimm, das selbst Mexikaner:innen, die innerhalb des Landes migrieren, Diskriminierung und Gewalt erleiden.
Nachdem die Migration durch Mexiko längere Zeit kaum sichtbar war, sind in den vergangenen Wochen wieder größere Karawanen aufgebrochen.
Täglich durchqueren Tausende Menschen Mexiko. Es ist ein stetiger Exodus. Alle zwei Tage ca. 5.000 Menschen. Die Karawanen sind eine Antwort auf die Repressalien und Gefahren, denen die Men[1]schen ausgesetzt sind. Die Gruppe gibt etwas Schutz. Wenn die Regierung versucht, die Migrati[1]on zu begrenzen, indem sie die Menschen an Or[1]ten wie Tapachula in Chiapas festhält, schließen sich die Menschen zusammen. Karawanen sind also ein Versuch, der Maschinerie aus Militarisie[1]rung und Abschiebungen im Dienste der USA zu entgehen.
Allein in Tapachula wurden in diesem Jahr 70.000 Asylanträge gestellt. Das System ist kollabiert.
Tapachula ist eine Gefängnisstadt. Hierher werden die Menschen umgeleitet, insbesondere diejenigen, die Asyl in Mexiko beantragen. Die meisten Fälle werden gar nicht bearbeitet und wenn doch, dauert jeder kleine Schritt in dem Verfahren Monate. Und in der Zeit erleben die Menschen Misshandlungen. Das ist aber kein Versagen der Behörden vor Ort. Das ist eine staatliche Strategie. In ihrer Not und Verzweiflung schließen sich manche Menschen zusammen und ziehen weiter. Damit brechen sie aber das Gesetz, das ihnen vorschreibt, an dem Ort zu bleiben, wo sie registriert sind. Damit können sie trotz eines laufenden Asylverfahrens abgeschoben werden. Das hat System.
Vor wenigen Wochen gingen die Bilder des informellen Camps von 15.000 Haitianer:innen unter der Brücke am Grenzfluss zu den USA um die Welt. Wie ist es zu erklären, dass so viele Menschen so weit gekommen sind?
Das geschah, um Druck auf die US-Regierung auszuüben: Sie soll mehr Gelder zur Unterstützung des mexikanischen Grenzschutzes, aber auch für Sozialprogramme bereitstellen. Zum Zweiten ließ sich so die extrem angespannte Lage in Tapachula entschärfen. Denn damit konnte der mexikanische Staat die Menschen nun sogar „legal“ abschieben – was in vielen Fällen denn auch geschehen ist.
Du hast die Rolle der USA angesprochen. Donald Trump ließ keine Asylbewerber:innen mehr ins Land, sie mussten unter miserablen Bedingungen auf der mexikanischen Seite ausharren, bis ihr Verfahren abgeschlossen war. Biden hat das geändert, wurde aber vom Obersten Gerichtshof zurückgepfiffen. Jetzt gibt es so viele Abschiebungen aus den USA wie seit langem nicht mehr. Wie interpretierst du das?
Unter Biden gibt es allenfalls kosmetische Änderungen in der Migrationspolitik der USA. Und es gibt viel Widersprüchliches. So hat die USA die Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen auf 125.000 Menschen im Jahr verdoppelt. Gleichzeitig schiebt sie vermehrt ab. Dabei hätte Biden die historische Chance, den Migrant:innen in den USA Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Eine Reform des Einwanderungsgesetzes wird von progressiven Gruppen und post-migrantischen Communities schon seit langem gefordert. Jetzt drängen sie auf die Umsetzung dessen, was Biden in seiner Wahlkampagne versprochen hat. Ich selbst bin aber skeptisch.
Du bist zurzeit in den USA. Was machst du dort?
Meine Suche nach Verschwundenen in Mexiko und die Verbindung mit Familien in Zentralamerika warf immer wieder das Thema der mexikanischen Nordgrenze auf. Als Organisation wollen wir uns mit Initiativen jenseits der Grenze vernetzen, die verschwundene Migrant:innen suchen. Manche identifizieren auch Leichen, die entlang der Routen in der Wüste gefunden wurden. Aktuell tausche ich mit Organisationen in Arkansas und Texas Erfahrungen aus. Es ist wichtig, Brücken zu bauen – zwischen uns, die Herkunftsregion der Migrant:innen, die Familien und Netzwerke dort gut kennen, und den Organisationen im Süden der USA. So können wir mehr Verschwundene identifizieren und mehr Familien Gewissheit geben, auch wenn es in einigen Fällen eine traurige Gewissheit ist. Aber es gibt eben auch diejenigen, die es in die USA geschafft haben, die aber den Kontakt zu ihren Familien verloren haben, sei es, weil sie Opfer eines Verbrechens wurden, im Gefängnis sitzen oder auf der Straße leben. Vielleicht können wir auch hier Familien wieder zusammenführen, wie es uns zwischen Mexiko und Zentralamerika immer wieder gelingt. Außerdem wollen wir das Thema der Verschwundenen in den migrantischen Kämpfen in den USA präsenter machen.
Seit Jahren suchst du verschwundene Menschen und arbeitest mit Familien, die ihre Angehörigen verloren haben. Jetzt bist du selbst in diese schreckliche Situation geraten: Im vergangenen Jahr verschwand dein Bruder Freddy.
Es ist schlimm, vor allem, weil wir genau wissen, was passiert. Wir kennen die Erfahrungen anderer Familien. Das jetzt am eigenen Leib zu spüren, ist heftig. Meine Erfahrung sagt mir – und das bespreche ich nicht mit meiner Mutter –, dass ich zwar meinen lebenden Bruder suche, aber damit rechnen muss, dass er nicht mehr am Leben ist. Es fällt mir heute schwerer zu ertragen, was mir die Müttern verschwundener Migrant:innen berichten. Der Schmerz geht tiefer. Gleichzeitig sehe ich, wie es meiner Mutter immer schlechter geht. Wir leben in einer Region, in der es gefährlich ist, Verschwundene überhaupt zu suchen. Auch dabei werden Menschen ermordet oder verschwinden. Das ist unsere Realität.
Interview: Moritz Krawinkel
Seit zehn Jahren unterstützen wir die Arbeit des Movimiento Migrante Mesoamericano, das Mütter verschwundener Migrantinnen und Migranten bei der Suche nach ihren Angehörigen unterstützt und das Thema in Mexiko und in der internationalen Vernetzung mit anderen Initiativen sichtbar macht.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!