Rojava

Ein vergessener Krieg

14.11.2023   Lesezeit: 7 min

Mit Luftangriffen terrorisiert die Türkei die selbstverwaltete Region Nordostsyrien. Eindrücke aus Rojava von Egid Ibrahim.

medico: Anfang Oktober hat die Türkei mit mehrtägigen Luftangriffen einen großen Teil der zivilen Infrastruktur in Nordostsyrien zerstört. Bereits ein Jahr zuvor hatte die Türkei in einem zweiwöchigen Angriff Umspannwerke, Ölfelder und Getreidesilos zerstört. Worauf zielte die jüngste Angriffswelle?

Egid Ibrahim: Am 2. Oktober erklärte der türkische Außenminister Hakan Fidan, die Türkei werde in Reaktion auf einen Anschlag in Ankara, zu dem sich die PKK bekannt hatte, Infrastrukturen und öffentliche Einrichtungen in Nordostsyrien angreifen. Zwei Tage später erfolgte eine flächendeckende Offensive mit Kampfflugzeugen und Drohnen auf unsere Region. Und das obwohl kein nachweisbarer Zusammenhang zu dem Anschlag besteht. Wie so oft werden unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung Kriegsverbrechen begangen. Gegen die Luftangriffe sind die Streitkräfte der Selbstverwaltung machtlos, es gibt keine Luftabwehr und den Luftraum kontrollieren die Schutzmächte USA und Russland. Sie haben nicht interveniert, wohl um einen Konflikt mit der Türkei zu vermeiden.

Durch die Angriffe wurden mehr als 200 Öl- und Gasförderanlagen, Wasseraufbereitungsanlagen, Krankenhäuser und Getreidesilos zerstört. Vier Fünftel der Anlagen sind nicht mehr in Betrieb, zum Beispiel das zentrale Gas- und Stromwerk in der Region Remilan. Von den Stromausfällen sind mehr als zwei Millionen Menschen betroffen. In den Städten Qamişlo, Hasakah, Amuda und Tarbesiyah wurden Stromverteiler zerstört. Auch große Wasseraufbereitungsanlagen wurden getroffen, sodass die Zivilbevölkerung keinen Zugang zu sauberem Wasser mehr hatte. In den Städten Dêrik und Kobanê wurden sogar Krankenhäuser bombardiert. Gleichzeitig gab es intensiven Artilleriebeschuss auf mehrere Grenzanlagen. Im Nordosten Syriens wurde ein Ausbildungszentrum der Internal Security Forces („Asayish“) zur Drogenbekämpfung angegriffen, 29 Mitglieder starben, Dutzende weitere wurden verletzt.

Wie hast du die Angriffe erlebt?

Wir waren sehr besorgt. Um nicht zur Zielscheibe zu werden, haben wir unsere Häuser nicht verlassen. Unsere Kinder waren sehr verängstigt von den lauten Kampfflugzeugen und den Detonationen der Bomben. Gleichzeitig sind die meisten von uns nach vielen Jahren des Krieges die Bedrohung gewohnt. Leid und der Verlust geliebter Menschen sind zur Normalität geworden. Wir leben in einem ständigen Zustand der Angst, die Zukunft ist ungewiss. Die ständigen Angriffe zielen eben auch auf die Psyche der Menschen. Viele wandern aus.

Wie ordnet ihr als Menschenrechtsorganisation die Angriffe ein?

Es sind klare Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Dieses verbietet es, zivile Einrichtungen anzugreifen, die für den Lebensunterhalt der Menschen unerlässlich sind, und unnötiges Leid zu verursachen. Es untersagt auch ausdrücklich den Angriff auf medizinische Einrichtungen und Rettungshelfer:innen. Die Genfer Konvention und die zugehörigen Protokolle schreiben den Schutz von öffentlichen und medizinischen Einrichtungen vor. Die Angriffe der Türkei fallen also in die Kategorie Kriegsverbrechen. Und wenn sie vorsätzlich, systematisch und in großem Umfang wiederholt werden, sind es Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sollten vor den internationalen Strafgerichtshof kommen. Der türkische Außenminister hatte die Ziele ausdrücklich benannt. Es ist also möglich, die Beteiligten auf der Ebene der Befehlskette und Anweisungen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen – wenn das gewollt wäre.

Welche Auswirkungen haben die Angriffe auf eure Arbeit?

Natürlich beeinträchtigten sie unsere Arbeit und die humanitäre Hilfe in der Region. In der Regel müssen Hilfsmaßnahmen während der Angriffe eingestellt werden. Wir konnten uns kaum bewegen und hatten auch keinen Strom mehr, um Handys oder Laptops aufzuladen, zu telefonieren und uns auszutauschen. Hinzu kommt die Gefahr, selber Ziel von Angriffen zu werden. Es ist mittlerweile kaum zu bezweifeln, dass auch Menschen aus humanitären und zivilgesellschaftlichen Organisationen gezielt angegriffen werden.

Um die Versorgung der Bevölkerung stand es schon vor den Angriffen nicht gut. Nun naht der Winter. Wie schätzt du die Situation ein?

Man darf nicht vergessen, dass der Konflikt in Syrien und auch in unserer Region seit 13 Jahren andauert. Seitdem leiden die Menschen unter den Auswirkungen, unter Mangel und der permanenten Bedrohung. Schon der Kampf gegen den IS hat sehr viele Leben gekostet und er bindet bis heute Ressourcen. Daneben stehen ganze Provinzen unter türkischer Besatzung. Außerdem war auch Nordsyrien im Februar von dem Jahrhunderterdbeben betroffen. Bis heute sind Tausende Menschen obdachlos und auf Hilfe angewiesen. Das, zusammen mit der wiederholten Zerstörung von Infrastrukturen durch Luftangriffe, führt dazu, dass die Versorgung mit Wasser, Strom, Medikamenten, Nahrung und vielem mehr nicht gesichert ist.

Hinzu kommt, dass der türkische Staat immer wieder den Zufluss von Wasser aus dem Euphrat unterbricht. Das hat wiederum auch Folgen für die Stromerzeugung, die teilweise über Wasserkraft funktioniert. Ähnlich schlecht sieht es bei der Versorgung mit Öl aus. Mit Blick auf den Winter ist die Verknappung von Heizmöglichkeiten ein riesiges Problem. Alles läuft auf eine humanitäre Katastrophe in der Region hinaus.

Ist es überhaupt möglich, die Menschen ausreichend zu versorgen? Erwartet ihr internationale Unterstützung?

Auf internationaler Ebene rechne ich nicht damit, dass es im Winter oder in naher Zukunft Unterstützung geben wird. Bereits vor den jüngsten Angriffen herrschte Mangel an Hilfsgütern. Tausende Menschen haben keinen Zugang zu grundlegenden humanitären Hilfsgütern, insbesondere nicht in den vielen Flüchtlingslagern. Oft gibt es internationale Unterstützung nur in Städten wie Raqqa. Die humanitären Organisationen halten sich an die Regeln der Geber und diese erlauben oft nicht, in den kurdischen Städten wie Kobanê und Qamişlo aktiv zu sein. Die gesamte humanitäre Hilfe bei uns ist abhängig von der politischen Lage und dem Druck, der von der türkischen Regierung und den syrischen Behörden ausgeübt wird. Die Verlierer sind die Kurd:innen und die zivile Bevölkerung im Allgemeinen.

Ich appelliere daher an alle humanitären Organisationen, die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft, ihre Rolle als humanitärer Akteur ernst zu nehmen und sich der Politik nicht zu unterwerfen. Tausende Zivilist:innen hier brauchen Soforthilfe, sauberes Wasser, Lebensmittel, Energie und Wasserstationen, medizinische Notversorgung und andere grundlegende Versorgungsgüter. Besonders nach dem letzten Angriff sollten sie sich dafür einsetzen, dass die Grenzen geöffnet werden und humanitäre Hilfe das Gebiet erreichen kann.

Die Situation in Syrien gilt inzwischen als ein weitgehend „vergessener Krieg“. Die Weltöffentlichkeit blickt auf den Krieg in der Ukraine, auf Israel und Gaza. Kann die Türkei diesen Krieg also einfach ungestört weiterführen?

Die Türkei ist Mitglied der NATO und hat vielfältige Interessen in Syrien. Die türkische Regierung nutzt jede Gelegenheit, Absprachen zu treffen, die es ihr ermöglichen, die Selbstverwaltung von Nordostsyrien und die Menschen in der Region anzugreifen. So war es auch jetzt. Als Schutzmächte in Nordostsyrien müssen Russland und die USA diesen Angriffen zugestimmt haben. Wer soll die Türkei also stoppen, ohne in Konflikt mit diesen beiden Parteien zu geraten? Erschütternd ist allerdings, dass auch kaum jemand sonst aus der internationalen Gemeinschaft die Angriffe verurteilt hat oder auch nur eine Erklärung dazu abgegeben hat. Die Menschenrechtsinstitutionen und Organe der Vereinten Nationen hätten die Möglichkeit, gegen diese völkerrechtswidrigen Angriffe vorzugehen.

Hinzu kommt, dass die Perspektive in der Region ohnehin düster ist. Der syrische Präsident Assad hat sich rehabilitiert und kehrt Schritt für Schritt wieder auf die internationale Bühne zurück. Er hat das Erdbeben und die Hilfsbereitschaft der Arabischen Liga für sich nutzen können. Assad sieht die Selbstverwaltung nicht als Akteur auf Augenhöhe und tut viel dafür, immer mehr Einfluss in Nordostsyrien zu erhalten – eine gefährliche Entwicklung. Die Zustimmung zu Assad ist hier nicht groß. Gerät Syrien durch die aktuelle militärische Eskalation in Israel und Palästina noch weiter ins Abseits der Aufmerksamkeit? Sie wird erhebliche Auswirkungen auf alle internationalen Bündnisse haben. Es kann noch zu größeren Krisen und Kriegen in der Region kommen. Syrien ist nicht weit entfernt. Die Ignoranz gegenüber dem humanitären Völkerrecht und die Entmenschlichung, vor allem im palästinensisch-israelischen Konflikt, wird Ländern wie der Türkei den Weg ebnen, weitere Verbrechen in der Region zu begehen, ohne dafür Konsequenzen fürchten zu müssen.

Das Interview führte Anita Starosta.

Die Menschenrechtsorganisation RDI setzt sich für Gerechtigkeit in Nordostsyrien ein. Die Anwält:innen dokumentieren Menschrechtsverbrechen, sprechen mit Opfern und Betroffen von Gewalt und Vertreibungen, sei es durch den IS oder die türkischen Angriffe. Aussagen und Beweise leiten sie an die Untersuchungskommission der UN für Verbrechen in Syrien weiter. Ihr Ziel ist es, eines Tages die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und einen Gerechtigkeits- und Aussöhnungsprozess führen zu können.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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