Gaza-Krieg

Einigkeit, Unrecht und Freiheit

17.01.2024   Lesezeit: 6 min

Zur Bedeutung der südafrikanischen Klage gegen Israel und der Haltung der Bundesregierung.

Von Riad Othman

Ende Dezember hat die Regierung Südafrikas vor dem höchsten UN-Gericht, dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, einen historischen Prozess angestoßen: Angesichts der katastrophalen Realität des israelischen Krieges gegen Gaza beantragte die Republik eine ganze Reihe rechtlich bindender, sogenannter „vorläufiger Maßnahmen“, um das Töten und Sterben zu beenden. Die israelische Regierung und das Militär verstoßen gegen Artikel des Übereinkommens zur Verhinderung und Bestrafung des Völkermordes, so die Anwältinnen und Repräsentanten Südafrikas.

Das eröffnete Verfahren ist schon jetzt – unabhängig von seinem Ausgang – von historischer Tragweite. Südafrika, ehemals Schauplatz eines brutalen, rassistischen Apartheidsystems, verklagt einen der engsten Verbündeten der USA und der Bundesrepublik Deutschland. Ein Staat des globalen Südens klagt in gewisser Weise den Westen an. Die südafrikanische Initiative wird deshalb in den entsprechenden Regierungskreisen als Angriff auf die westliche Hegemonie verstanden. Sie selbst nehmen das internationale Recht höchst selektiv in Anspruch und drängen nur dann auf seine Durchsetzung gegen die Schurken dieser Welt, wenn diese aus dem globalen Süden kommen oder, wie im Fall Radovan Karadžićs, Slobodan Miloševićs oder Vladimir Putins, aus Osteuropa.

Die deutsche Reaktion auf die gerichtlichen Anhörungen am 11. und 12. Januar ließ nicht lange auf sich warten: Kaum mehr als zwei Stunden, nachdem die israelische Seite ihr Plädoyer beendet hatte, verkündete die Bundesregierung, dass sie im Fall eines vollumfänglichen Verfahrens zugunsten Israels intervenieren werde. Die Möglichkeit dazu besteht, weil der Gerichtshof durch externe Rechtsgutachten im Sinne der Anklage oder der Verteidigung unterstützt oder sein Urteil damit beeinflusst werden kann. Obwohl der IGH noch nicht einmal entschieden hat, ob es jenseits des derzeit anhängigen Eilverfahrens zur Verfügung vorläufiger Maßnahmen gegen Israel im Anschluss zu einem ordentlichen Verfahren kommen wird, hat sich die Bundesregierung schon für ihren Verbündeten in die Bresche geworfen. Ein deutliches Signal an Südafrika, den IGH und an die Welt.

Deutschland für Straflosigkeit

„Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage.“ In ihrer Reaktion auf die Plädoyers hat die Bundesregierung nicht nur versucht, die Entscheidung des IGH über die Notwendigkeit eines Verfahrens vorweg zu nehmen, sondern zudem den schweren Vorwurf des Missbrauchs der Genozid-Konvention gegen die südafrikanische Regierung erhoben: „Diese Konvention ist ein zentrales Instrument des Völkerrechts, um das ‚nie wieder‘ umzusetzen. Einer politischen Instrumentalisierung treten wir entschieden entgegen.“ ‚Nie wieder‘ ist also nicht jetzt? Oder nicht, wenn es um Israel geht? Im Fall Myanmars und Russlands hat sich Deutschland – bei aller Unterschiedlichkeit der Fälle – hinter solche Untersuchungen und Verfahren gestellt. Überzeugen kann die deutsche Intervention zugunsten Israels jedenfalls nicht, Staatsräson hin oder her. Namibia, wo deutsche Kolonialtruppen den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts gegen die Herero und Nama verübten, hat die Erklärung aus Berlin deutlich verurteilt.

Man mag vom Vorwurf des „Völkermords“ juristisch und politisch halten, was man will: Ein Verdienst des Verfahrens ist es, dass Israel offiziell vor einem ordentlichen Gericht Stellung zu den Vorwürfen der 84-seitigen, gründlich recherchierten Eingabe Südafrikas nehmen musste. Dass Israel sich den Vorwürfen in einem Gerichtssaal stellen und der Darstellung der Gegenseite mehrere Stunden lang zuhören musste, war ein Novum.

Die deutsche Reaktion darauf ist zwar skandalös, überraschen kann sie allerdings nicht. Sie steht in der Kontinuität früherer Interventionen gegen die Aufnahme völkerstrafrechtlicher Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), der ebenfalls in Den Haag ansässig ist, gegen palästinensische Militante und israelische Streitkräfte wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen. Noch nachdem die Vorverfahrenskammer des IStGH 2021 festgestellt hatte, dass der Gerichtshof – entgegen der israelischen und der deutschen Darstellung – sehr wohl Jurisdiktion in den besetzten palästinensischen Gebieten hat, erhob die Bundesregierung öffentlich Widerspruch. Damit fügte sie einem Organ der internationalen Strafverfolgung erheblichen politischen Schaden zu. Ein Versehen war das nicht. Auch gegen eine Untersuchung der grundlegenderen Frage nach der Legalität der israelischen Besatzung durch den IGH opponierte Deutschland in der Generalversammlung der UN. Diese Untersuchung ist nach wie vor anhängig. Aus all diesen Verfahren ergäben sich im Falle einer Verurteilung rechtliche Verpflichtungen für Drittstaaten, die Vertragsparteien der UN-Konvention beziehungsweise des Römischen Statuts sind.

Das Problem der Bundesregierung scheint daher nicht in erster Linie darin zu bestehen, ob der Begriff des Völkermords für die derzeit verübten israelischen Verbrechen in Gaza angemessen ist, sondern darin, dass Israels Regierung sich überhaupt für ihre Taten verantworten muss und im Zweifel für begangene Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird. Anders lassen sich die deutschen Reaktionen auf den IGH-Fall oder die Ermittlungen des IStGH nicht deuten.

Mehr als 100 Tage Krieg

Dabei sind die Verbrechen im Sinne des internationalen Rechts und die Notwendigkeit ihrer juristischen Verfolgung augenfällig. Fast 90 Prozent der geschätzt 2,3 Millionen Bewohner:innen Gazas wurden in den letzten drei Monaten zur Flucht gezwungen, etwa 24.000 Menschen getötet und über 60.000 verletzt. Tausende liegen noch unter den Trümmern ihrer Häuser oder der Zufluchtsorte, die sie zu Unrecht für sicherer hielten, begraben.

Menschen, die wir in Gaza kennen, sind verstummt, obwohl sie noch am Leben sind. Das mittlerweile zum Alltag gewordene Grauen hat sie in einem Ausmaß gepackt, das sie so nicht kannten. Die Armut und Verzweiflung, in die sie gestürzt worden sind, halten sie an Orten wie Rafah, an der ägyptischen Grenze, und in Khan Younis, eisern im Griff, genau wie die Zehntausenden Geflohenen, die sie umgeben, oft mit ungenügend und kontaminiertem Wasser und einer Mahlzeit alle zwei Tage. Im Krieg gibt es kaum die Zeit für angemessene Trauer, und die fehlende Würde der teils in Massengräbern beerdigten Toten schmerzt die Überlebenden.

Unterdessen enthält Israel den Menschen in Gaza lebensnotwendige humanitäre Hilfe im erforderlichen Umfang seit Monaten vor. Die wochenlange Totalabriegelung der Enklave zu Beginn des Kriegs wurde erst gelockert, als aus dem Ausland – auch von Verbündeten Israels – Kritik laut wurde. Allerdings erreichen die humanitären Güter, die Israel zurzeit nach Gaza lässt, nur einen Bruchteil der Bevölkerung. Sie ändern im Wesentlichen nichts an der absichtlich herbeigeführten Verknappung der Lebensgrundlagen und der Verelendung Hunderttausender infolge der Bombardierung aller Orte und der israelischen Politik des Aushungerns. Human Rights Watch spricht inzwischen von Hunger als Kriegswaffe der Israelis und UN-Expert:innen warnen vor den lebensbedrohlichen Auswirkungen der Unterernährung, insbesondere in Kombination mit grassierenden Infektionskrankheiten.

Der Umfang der Hilfe ist nicht darauf ausgelegt, die Not der Bevölkerung zu lindern, sondern nach außen den Anschein zu geben, Israel werde seinen humanitären Verpflichtungen gerecht. Wer sich die Realität im Gazastreifen und die entsprechenden Zahlen ansieht, kann jedoch kaum zu einem anderen Schluss kommen als dem, dass die hier geschaffenen Bedingungen die Menschen dazu bewegen sollen, die Grenze nach Ägypten aus Not zu überqueren. So wie es von mehreren israelischen Politikern einschließlich Regierungschef Benjamin Netanjahu selbst als Wunsch oder als Drohung geäußert worden ist.

Das Völkerrecht wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für Momente wie diese weiter ausgearbeitet und geschärft. Dass ausgerechnet Deutschland die internationale Rechtsordnung mit untergräbt, ist ein fatales Signal. Doppelte Standards darf es nicht geben. Insbesondere nicht, wenn die geopolitischen Auseinandersetzungen zunehmen und der Welt mehr Konflikte drohen. Gerade dann muss das Völkerrecht geschützt und konsequent angewendet werden.

Über 23.000 Tote, Millionen Vertriebene, der Gazastreifen in weiten Teilen unbewohnbar. medico-Partner:innen leisten unter unmöglichen Bedingungen Nothilfe. Sie können ihre Arbeit mit einer Spende unterstützen.

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


Jetzt spenden!