Syrien

Erdbeben in der Hölle

22.03.2023   Lesezeit: 10 min

Wie das Assad-Regime die Katastrophe nutzt.

Von Yassin al-Haj Saleh

Nach einem Bericht des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR), der glaubwürdigsten Quelle über humanitäre Angelegenheiten in Syrien, starben beim Erdbeben in der Südtürkei und im Nordwesten des Landes 7.259 Syrer:innen. 2.534 Menschen starben in den vom Assad-Regime nicht kontrollierten Gebieten, die näher am Epizentrum des Bebens in der Türkei liegen, 394 in den vom Regime kontrollierten Teilen des Landes und mehr als die Hälfte, nämlich 4.331 Menschen, starben in der Türkei, wo mehr als 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge leben, 1,7 Millionen von ihnen in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten.

In den ersten Tagen, die naturgemäß für die Such- und Rettungsmaßnahmen am wichtigsten sind, passierten nur Autos mit toten syrischen Flüchtlingen die türkisch-syrische Grenze, keine technische Hilfe zur Rettung von Menschen, keine lebensnotwendigen medizinischen Hilfsmittel und keine Notunterkünfte zum Schutz der verängstigten Menschen vor der extremen Kälte. Es blieb den unterbesetzten und unzureichend ausgerüsteten Zivilschutzorganisationen in Syrien überlassen, zu versuchen, Leben zu retten. In der betroffenen Region leben 4,6 Millionen Menschen, von denen 2,9 Millionen aus anderen Teilen des Landes vertrieben wurden. Das gesamte Personal der Zivilschutzorganisationen, die als Weißhelme (WH) bekannt sind, besteht aus 2.800 Personen. Hätten die Weißhelme internationale Hilfe erhalten, wären sicher mehr Menschen gerettet worden als die 3.000, die sie retten konnten.

Für ein paar Tage war Syrien wieder in den Nachrichten, nachdem das Land seit fast zwölf Jahren in einem Bürgerkrieg steckt, von dem jede:r einzelne der rund 23 Millionen Syrer:innen betroffen ist. Die internationale Gemeinschaft, die die Notlage in Syrien wie eine Naturkatastrophe behandelt hat, für die es keine Urheber gibt (es sei denn, es handelte sich um den IS, der für 2,4 Prozent der syrischen Opfer verantwortlich ist), hat ihren Kurs nicht geändert, als sich eine echte Naturkatastrophe ereignete. Drei Tage nach dem Erdbeben meldeten die Vereinten Nationen, dass ein Hilfskonvoi die türkisch-syrische Grenze in Richtung der am stärksten betroffenen Gebiete im Nordwesten Syriens überquert habe, wobei der Eindruck erweckt wurde, dies sei eine Reaktion auf das Erdbeben gewesen. Das war jedoch nicht der Fall. Der Konvoi mit Lebensmitteln und Hilfsgütern gehörte zu den regelmäßigen Hilfslieferungen, die sich wegen des Erdbebens verzögerten, und wurde bloß drei Tage zu spät überführt. Es dauerte weitere drei Tage, bis Martin Griffiths, Chef der UN-Hilfsorganisation, zugab: „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen. Sie fühlen sich zu Recht im Stich gelassen. Sie suchen nach internationaler Hilfe, die nicht angekommen ist.“ Das war unverzeihlich spät.

Normalisierung des Todes

Das wäre nicht passiert, wenn sich der Tod in Syrien nicht über Jahre hinweg normalisiert hätte. Internationale Organisationen halten sich immer an den Staat als Gegenüber und legitimieren Regierungen selbst dann, wenn sie Genozide begehen – wie das Assad-Regime in Syrien. Das bedeutete nach dem Erdbeben, dass das Regime und seine russischen und iranischen Unterstützer, die jahrelang Häuser zerstört und Menschen mit Fassbomben und Streumunition getötet haben, nun das Nadelöhr waren, durch das eben diese Menschen mit Hilfe versorgt werden sollten. Erdbeben kennen keine nationalen Grenzen, die UN schon. So erhält das extrem korrupte Regime, das in den letzten Jahren für mehr als 90 Prozent der Toten in Syrien verantwortlich ist, mehr als 90 Prozent der Hilfe von den Vereinten Nationen und vielen anderen Ländern, obwohl mehr als 90 Prozent der Menschen, die internationaler Hilfe bedürfen, in Gebieten zu beklagen sind, die nicht unter seiner Kontrolle stehen. In dem oben erwähnten Bericht des syrischen Menschenrechtsnetzwerkes heißt es, dass 90 Prozent der Hilfsgelder von den Regimevertretern gestohlen wurden. Diese Diktatur der 90 Prozent war schon vor dem Erdbeben fest etabliert. In seinem Buch „The Trap of Neutrality“ (deutsch: Die Neutralitätsfalle) erwähnt der deutsche Wissenschaftler und ehemalige Diplomat Carsten Wieland, dass 90 Prozent der UN-Hilfe von der Europäischen Union und den USA kommen und 90 Prozent davon an das Regime gehen.

Als ob das Erdbeben eine erfolgreiche PR-Kampagne gewesen wäre, normalisieren viele arabische Regime (die Vereinigten Arabischen Emirate, Oman, Ägypten, Algerien, Libanon, Jordanien, vielleicht bald auch Saudi-Arabien) und die Türkei ihre Beziehungen zum Assad-Regime unter dem Vorwand der humanitären Hilfe. Die Wahrheit liegt jedoch woanders. Die Gemeinsamkeit zwischen diesen Regimen ist die Versicherheitlichung der Politik, die Feindschaft gegenüber der Demokratie und der Volksvertretung. Nun, da Assads Syrien ein Paradies der Zügellosigkeit, ja des Verbrechens ist, genießen die arabischen Regime erweiterte Freiheit im Umgang mit ihren eigenen empörten Bürger:innen. Wenn das, was mit den Syrer:innen geschehen ist, möglich ist, dann kann man es auch in anderen Ländern tun, wenn es nötig ist. In gewisser Weise ist das Assad-Regime die Avantgarde bei der Ausrottung jeglicher Bedrohung durch die eigene Bevölkerung.

In der Türkei herrschte in den letzten Jahren ein toxischer und rassistischer Konsens darüber, die syrischen Flüchtlinge zum Sündenbock zu machen, und Erdoğan und seine Partei haben sich mit Blick auf ihre Wählerschaft diesem Konsens angeschlossen. Die Normalisierung des Verhältnisses zum syrischen Regime wurde als notwendiger Schritt zur Rückführung der Flüchtlinge nach Syrien und als Lösung für die Sicherheitsbedrohung durch die kurdischen YPG-Kräfte verkauft, die als syrischer Zweig der PKK gelten.

Katastrophen als PR-Kampagne

Es gibt ein Muster, Katastrophen als PR-Kampagnen zu behandeln. Das große Chemiewaffen-Massaker im August 2013 erwies sich als eine sehr gute PR-Kampagne, bei der die USA und Russland ein Abkommen zur Beseitigung der Chemiewaffen des Regimes ausgehandelt haben – als Gegenleistung dafür, dass das Regime nicht für seinen Bruch des Völkerrechts und die Tötung von 1.466 seiner unglücklichen Untertanen bestraft wurde. Wir wissen bereits, dass die Abrüstung eine billige Farce war und dass das Regime auch nach der Vereinbarung noch mehrmals chemische Waffen eingesetzt hat, wie die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in einem kürzlich veröffentlichten Bericht nachgewiesen hat. Im Grunde war das Abkommen ein Freibrief für ein völkermordendes Regime, seine Bevölkerung weiterhin massenhaft zu ermorden.

Allerdings war das Muster, Fragen der Gerechtigkeit und der Rechenschaftspflicht zu übergehen, schon vor dem Chemiewaffen-Verbrechen zu beobachten – und es ist genuin nahöstlich. So ist die Verwischung der Grenzen zwischen Verbrechen und Politik sehr charakteristisch für Syrien in den letzten 53 Jahren der Herrschaft der Assad-Familie und ebenso für beinahe den gesamten Nahen Osten. Nur wenige Menschen wissen, dass 53 Jahre mehr als die Hälfte der gesamten modernen Geschichte des syrischen Gemeinwesens ausmachen. Ebenso wenig wissen viele Menschen außerhalb Syriens, dass sich am 8. März 2023 der 60. Jahrestag der Herrschaft der Baath Partei im Lande jährt und dass nur 4 Prozent der Syrer:innen über 60 Jahre alt sind, was bedeutet, dass fast alle unter einem Einparteiensystem, in einem Ausnahmezustand und vor allem unter einer verbrecherischen Familienherrschaft mit mafiöser Verfassung geboren wurden. Was viele Menschen nicht verstehen, darunter vor allem die UN-Beamten, aber auch viele andere, ist, dass Syrien kein Staat ist, nicht einmal eine korrupte, brutale Diktatur. Es handelt sich um eine Mafiafamilie, die mit Rücksichtslosigkeit und Massakern regiert und in deren Herrschaft das Potenzial zum Genozid stets anwesend ist.

Schutzmauer des Unglaubens

Assads Syrien hat keine Staatstrauer für die Opfer des Erdbebens ausgerufen. Die Türkei tat dies eine Woche lang. Viele Syrer erinnerten sich daran, dass es beim Tod von Hafez Assad im Jahr 2000 eine 40-tägige Staatstrauer gab und eine siebentägige Trauer, als Bassel Assad, der älteste Bruder von Bashar und der als Erbe seines Vaters vorgesehen war, 1994 bei einem Autounfall starb. Man kann leicht zu dem Schluss kommen, dass gewöhnliche syrische Leben nicht betrauert werden, oder wie Judith Butler es ausdrücken würde, nicht in gleichem Maße betrauert werden wie das Leben der Assads. Dies ist eine der wesentlichen Tatsachen in der mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden Geschichte Syriens, in der das Land von einer Republik zu einer absoluten Monarchie wurde, die absoluter und weitaus brutaler ist als die saudische, die jordanische und die marokkanische. Im Juni 1980, einen Tag nach dem Attentat auf Hafez Assad, schickte sein Bruder Rifa‘at ein Kommando in das Gefängnis von Tadmur, das von seinem Schwiegersohn geleitet wurde, wo alle einsitzenden islamistischen Gefangenen hingerichtet wurden, zwischen 500 und 1.000 Menschen.

Was viele Menschen in Deutschland und in der Welt daran hindert, die unglaubliche Situation in Syrien zu begreifen, ist, dass sie wirklich unglaublich ist. Unglaublich ist das Ausmaß des Leids, das in Umfang, Dauer und Intensität jedes menschliche Maß übersteigt. Unglaublich, dass mehr als 600.000 Menschen getötet wurden, fast 15.000 zu Tode gefoltert wurden, über 100.000 Menschen gewaltsam verschwunden sind, 7 Millionen Flüchtlinge in anderen Ländern leben, die meisten davon rassistisch diskriminiert, und 90 Prozent der Bevölkerung (wieder) unter der Armutsgrenze leben, wie die UN schätzt. Unglaublich, dass die Täter von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit immer noch an der Macht sind, nach allem, was sie getan haben, und diese Tatsache nun sogar wieder normalisiert wird. Wahrscheinlich denken viele so: Es gibt dort Menschen und sie leben noch; die Dinge können nicht so schrecklich sein, wie sie manchmal von einigen Syrer:innen oder Journalist:innen dargestellt werden. Nun, das ist leider falsch. Die Menschen müssen sich vor Augen halten, was Hannah Arendt über die „Schutzmauer des Unglaubens“ sagte, die das Unternehmen der Nazis umgab, und sie müssen ein wenig misstrauisch gegenüber der Vorstellung sein, dass die Nazis einzigartig und anders waren. Das Regime der Assad-Familie hat immer wieder gezeigt, dass es bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. Das Unglaubliche kann eine bewusste Strategie der „totalen Beherrschung“ sein, wie Arendt in „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ schreibt. Sie zitiert Alfred Rosenberg mit den Worten: „Man stelle sich nur vor, dass diese Vorkommnisse (Massaker an 5.000 Juden im Jahr 1943) der anderen Seite bekannt würden und von ihr ausgenutzt würden. Höchstwahrscheinlich hätte eine solche Propaganda nur deshalb keine Wirkung, weil die Menschen, die davon hören und lesen, einfach nicht bereit wären, es zu glauben.“

Das Erdbeben vom 6. Februar war das stärkste in der modernen Geschichte Syriens. Man war versucht zu denken, dass es vielleicht endlich einmal eine Gelegenheit wäre, politische Spaltungen zu überwinden und Gesten der Versöhnung zu senden. Nicht für Assads Syrien. Der Außenminister bestand darauf, dass die Europäer und die Amerikaner, wenn sie es mit dem Kampf gegen den Terror ernst meinten, die Hilfe über seine Regierung laufen lassen sollten, damit die Terroristen (und alle anderen Regimegegner) nicht davon profitieren könnten. Bashar Assad zeigte sich Tage nach der Katastrophe in Aleppo glücklich und lächelnd. Syrer:innen, die unter der Kontrolle seines Regimes stehen, durften ihren Landsleuten nicht ohne besondere Sicherheitsgenehmigung helfen. Syrien muss die seit 53 Jahren andauernde politische Katastrophe überwinden, damit die Syrer:innen in die Lage versetzt werden, mit Naturkatastrophen umzugehen.

Seit den verheerenden Erdstößen am 6. Februar mobilisieren unsere lokalen Partner:innen in der syrischen Region Idlib all ihre Kräfte, um Menschen in Not zu unterstützen. Sie sichern die Grundversorgung der Überlebenden indem sie Trinkwasser, Lebensmittel, Decken, Matratzen, Windeln, Babynahrung und Hygieneartikel verteilen. Sie koordinieren medizinische Hilfe für Verwundete und organisieren Schmerzmittel, Medikamente und weiteres medizinisches Material. Sie organisieren Notunterkünfte, koordinieren freiwillige lokale Helfer:innen und errichten provisorische Sanitäranlagen in schnell errichteten Camps. In Kooperation mit Adopt a Revolution unterstützen wir in Idlib das „Women Support & Empowerment Center“, die Frauenorganisation „Change Makers“, das zivilgesellschaftliche Zentrum „Hooz“ und die Hilfsorganisation Sawa bei ihrer lebenswichtigen Arbeit.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Yassin al-Haj Saleh

Der Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh ist eine der prominentesten Stimmen der syrischen Opposition. Dass der Terror des Assad-Regimes bereits Jahrzehnte währt, weiß er nicht nur, weil er seit 1980 insgesamt 16 Jahre in syrischen Gefängnissen inhaftiert war. Al-Haj Saleh lebt heute in Berlin und schreibt regelmäßig für das medico-rundschreiben.


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