CommemorAction Day

Erinnern um zu verändern

08.02.2023   Lesezeit: 6 min

Am 6. Februar wurde den Toten, Vermissten und gewaltsam Verschwundenen gedacht, die dem globalen Grenzregime zum Opfer gefallen sind. Ein Gespräch mit den Menschenrechtsverteidiger:innen Mohamed Sablouh and Saadeddine Shatila.

medico: Am 6. Februar wurde an verschiedenen Orten den Opfern des Grenzregimes gedacht. Ihr habt den den CommemorAction Tag im Libanon mit Überlebenden von Bootsunglücken , Aktivist:innen und Anwält:innen organisiert. Wieso ist Tripoli dafür der richtige Ort und was sollte der Tag zeigen?

Die Zahl an Abfahrten aus dem Libanon und damit verbundene Todesfälle steigt gerade rasant. Wir haben deswegen das Event unter dem Motto: "Todesboote: Tödliche Grenzen und verlorenes Recht" zusammen mit lokalen und internationalen NGOs wie dem Alarm Phone organisiert.  Dabei geht es uns darum, das Prinzip der nicht-Zurückweisung zu verteidigen und uns für den Zugang von Geflüchteten zu Rechtsberatung, Gesundheits- und sozialen Dienstleistungen einzusetzen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit die Gewalt zu verurteilen, die fliehenden Menschen angetan wird, und uns gegen die Straffreiheit derjenigen zu stellen, von denen diese Gewalt ausgeht.

Einerseits sind das organisierte Schleusernetzwerke, die Geflüchtete manchmal mit vorgehaltener Waffe zwingen, völlig überfüllte und seeuntaugliche Boote zu betreten. Andererseits geht die Gewalt von offiziellen Stellen wie dem Militär aus: Im April 2022 sank beispielsweise ein Flüchtlingsboot, nachdem es gewaltsam vom Militär gestoppt wurde. Das Militär ist bisher nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Am CommemorAction Day an diese Gewalt und ihre Opfer zu erinnern, heißt für uns die Auseinandersetzung aufrechtzuerhalten.

Die Zahl der Menschen, die versuchen, den Libanon per Boot zu verlassen, ist in den letzten Monaten erheblich gestiegen. Was ist ihre Motivation?

Die derzeitige wirtschaftliche Lage im Libanon hat sich auf alle Bürger:innen des Landes (Libanes:innen, Syrer:innen, Palästinenser:innen usw.) ausgewirkt. Der starke Anstieg des Wechselkurses zwischen dem US-Dollar und dem libanesischen Pfund hat dazu geführt, dass viele Menschen nicht mehr in der Lage sind, den Lebensunterhalt ihrer Familien zu sichern. Infolgedessen sind Familien gezwungen, einen sicheren Ort zum Leben zu suchen. Libanes:innen versuchten Reisepässe zu bekommen, aber viele wurden von den langen Wartezeiten von mindestens eineinhalb Jahren überrascht.

Am schlimmsten betroffen sind jedoch die im Libanon lebenden Syrer:innen, denn die Wirtschaftskrise trifft sie am härtesten. Seit Beginn des Syrienkrieges sind ca. 1,5 Millionen Syrer:innen in den Libanon geflohen. Seitdem hat das UNHCR die finanzielle Unterstützung für die syrischen Flüchtlinge gekürzt und teilweise komplett eingestellt. Außerdem sind Syrer:innen auch im Libanon nicht vor politischer Verfolgung sicher. Seitdem 26. Oktober 2022 gibt es ein offizielles Abkommen mit dem syrischen Assad-Regime über die „freiwillige Rückkehr“ syrischer Flüchtlinge. Menschen werden auf den Straßen festgenommen, abgeschoben und dem syrischen Regime übergeben. Dabei hat die Rückkehr für sie natürlich drastische Konsequenzen.

Erst kürzlich gab es ein Schiffsunglück vor der Libanesischen Küste in der Gegend von Selaata, was geradezu als symptomatisch bezeichnet werden muss für diese Gewalt. Was ist genau passiert?

In der Silvesternacht sank ein Boot mit 234 Migrant:innen an Bord. Die libanesische Armee reagierte mit ihren Seestreitkräften auf den Notruf und leistete zusammen mit der UNIFIL einen Beitrag zur Rettung der Menschen. Obwohl zwei Frauen und ein Kind ertranken, konnten 232 Menschen gerettet werden, darunter 194 syrische Männer, Frauen und Kinder. Die anderen Personen an Bord waren Libanes:innen und Palästinenser:innen.

Am nächsten Tag schob die Armee alle 194 Syrer:innen illegal ab und übergab sie ohne formale Verfahren an eine Person der Vierten Division der Syrischen Armee, die sie wiederum an maskierte und bewaffnete Schleuser übergab. Die Gruppe sperrte die Menschen ein und verlangten pro Person 200-400 US-Dollar Lösegeld von ihren Familien, um sie auf irreguläre Weise in den Libanon zurückzubringen.

Von solchen Fällen haben wir schon früher gehört, in denen die libanesische Armee gegen staatliches Recht und internationale Konventionen verstößt. Kurz zuvor wurden auch 34 Syrer:innen, die sich in einem Boot vor der Küste von Batroun im Nordlibanon befanden, festgenommen und nach Syrien abgeschoben – und es werden weitere illegale Abschiebungen beobachtet.

Wie könnt ihr als Cedar Center in solchen Fällen intervenieren? Was sind die Ziele und Möglichkeiten eurer Arbeit?

Ganz grundsätzlich besteht unsere Rolle darin, die verhafteten Personen rechtlich zu begleiten und Überlebende zu unterstützen. Darüber hinaus dokumentieren wir Menschenrechtsverletzungen und Rechtsverstöße und prangern diese an.

Als wir die Information über das oben beschriebene Bootsunglück vor der Küste von Selaata erhielten, begannen wir, die Kontakte der Familien zu suchen. Gemeinsam mit unseren Partnern erstellten wir einen koordinierten Aktionsplan und Arbeitsteams. Als wir in der Nacht dann herausfanden, dass die Armee die 194 Syrer:innen nach der Rettung aus dem Meer abschieben würde, traten wir an die Öffentlichkeit. Lokalen und internationale Medien kontaktierten uns und veröffentlichten zahlreiche Artikel, in denen sie die libanesischen Behörden verurteilten. Einige von ihnen setzten sich mit der libanesischen Armeeführung in Verbindung, die die Nachricht über die Abschiebung dementierte. Wir forderten die Armeeführung auf, eine Untersuchung einzuleiten, jedoch ohne Erfolg.

Über unseren Kontakt zu den betroffenen Syrer:innen erfuhren wir, dass die libanesische Armee sie beim Verlassen des Bootes im Hafen geschlagen und misshandelt hat. Unsere Vorschläge, Anzeigen wegen Folter zu erstatten, wurden von den Betroffenen bisher aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen abgelehnt. Einzelne Personen ließen uns allerdings wissen, dass sie trotz der Gewalt, die ihnen wiederfahren war, erneut versuchen werden, übers Meer nach Europa zu fliehen – denn hier haben sie keine Perspektive.

Ihr habt in eurer Arbeit immer wieder die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für die Situation der Flüchtlinge im Libanon hervorgehoben. Was muss geschehen, um die Situation zu verbessern, und was sind die Forderungen des CommemorAction Days?

Die libanesische Regierung versucht mit verschiedenen Mitteln, syrische Flüchtlinge zur Rückkehr nach Syrien zu bewegen, obwohl einige von ihnen Asylsuchende sind. Ende Januar 2023 besuchten wir eine syrische Familie, deren Sohn kürzlich - nach einer Amnestie - aus einem Haftzentrum in Syrien entlassen worden war. Er war fast zehn Jahre lang inhaftiert. Zehn Tage nach seiner Freilassung starb er an den Folgen der erlittenen Misshandlungen und Folter.

Wir fordern die internationale Gemeinschaft dazu auf, Druck auf die libanesische Regierung auszuüben, sich an internationale Abkommen zu halten. Syrische Flüchtlinge dürfen nicht abgeschoben werden und es muss verhindert werden, dass ihr Leben unter dem perfiden Slogan der „freiwilligen Rückkehr“ weiter derartig gefährdet wird. Stattdessen bedarf es sicherer und legaler Fluchtwege. Gerade die aktuellen Verhältnisse begünstigen ausbeuterischen Menschenhandel. Dieser muss unserer Meinung nach strafrechtlich verfolgt werden, das gelingt aber nur, wenn die Bewegungsfreiheit von Libanes:innen und Syrer:innen gewahrt wird.

Auch muss die Ausstellung libanesischer Reisepässe beschleunigt werden. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen, wie wir sie gerade im Libanon erleben, müssen die Grundbedürfnisse von Geflüchteten geschützt werden. Natürlich sind wir uns im Klaren darüber, dass der Libanon die adäquate Versorgung von Geflüchteten nicht alleine bewältigen kann. Die EU muss die Aufnahme syrischer Geflüchteter aus dem Libanon in Resettlement-Verfahren unbedingt ermöglichen.

Durch den CommemorAction Day erinnern wir der Toten und rufen damit gleichzeitig zum politischen Handeln auf – Erinnern muss Verändern heißen.

Mohamed Sablouh and Saadeddine Shatila arbeiten für die libanesische Organisation Cedar Center for Legal Studies, mit der medico seit Ende 2022 zusammenarbeitet. 

Das Interview führten Valeria Hänsel, Farah Al-Lama‘ und Lena Röseler.


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