Von Farah Al-Lama, Nina Violetta Schwarz und Rachide Tennin.
Ende April 2022 sank ein Boot mit 84 Personen vor der Nordküste des Libanons. 45 Menschen konnten gerettet werden, mindestens sieben ertranken, darunter ein 18 Monate altes Mädchen. Weitere Menschen bleiben, Wochen später, vermisst. Überlebende beschuldigen die libanesische Küstenwache, das Boot absichtlich mehrfach gerammt zu haben, Militär und Küstenwache weisen diese Vorwürfe zurück. Nach übereinstimmenden Angaben von Überlebenden und Küstenwache sank das Boot in Sekundenschnelle, kurz bevor es internationale Gewässer erreichte. Auf ihm waren Syrer:innen und Libanes:innen auf dem Weg zum griechischen Teil Zyperns.
Angehörige der Toten und NGOs, aber auch die libanesische Regierung fordern eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle. In sozialen Netzwerken ist die Rede von weiteren Booten, die dieser Tage Richtung Zypern und generell nach Europa aufbrechen. Ein Boot mit zehn Personen soll es auf die europäische Seite Zyperns geschafft – ob sie auf Grundlage des umstrittenen, 2020 geschlossenen bilateralen Abkommens zwischen Zypern und Libanon postwendend in den Libanon zurückgeschoben wurden oder in einem der Auffanglager der Insel gelandet sind, ist nicht bekannt.
In Tripoli, nicht weit von der syrischen Grenze, wurde nach der Schiffskatastrophe Wut und Trauer laut: Eine Gruppe von Männern stürmte die Leichenhalle und trug den Leichnam eines Opfers auf die Straße. In einem Video ist zu sehen, wie eine Gruppe von Männern voller Wut Steine auf zwei Armeepanzer wirft und entschlossen auf diese zuläuft. Die Panzer weichen zurück und reagieren mit Schüssen in die Luft. Die Lage in Tripoli ist angespannt, nicht nur wegen der tragischen Ereignisse vor der Küste. Das Establishment der krisengeschüttelten Landes will mit hohem militärischem Einsatz zeigen, dass es in der Lage ist, die Küste zu kontrollieren – es wird dieser Tage niemandem leicht gemacht, libanesische Gewässer zu verlassen.
Verzweiflung steigt, Flucht nimmt zu
Nach UN-Angaben haben seit Beginn 2021 mehr als 1500 Menschen versucht, mit Booten den Libanon zu verlassen. Dass es vor dem Hintergrund der schlimmsten Finanzkrise des Landes, in der die Währung mehr als 90 Prozent ihres Wertes verloren hat und die Mehrheit der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, zu vermehrter Flucht über das Meer kommt, ist zu erwarten. Dass daneben der Frühling und steigende Temperaturen dazu beitragen, ist sicher.
Die Menschen, die oft ihren gesamten Besitz verkaufen, um ein Boot Richtung Europa zu bezahlen, auf dem sie die gefährliche Überfahrt wagen, kommen selbst aus der Region um Tripoli und wissen weder, wie lange die Fahrt dauern wird noch wo sie tatsächlich hingeht. „Europa“ heißt es, wenn man jemanden kontaktiert, der die Fahrt organisiert und dafür etwa 7000 US-Dollar nimmt. Die Hälfte bei Abfahrt und die andere bei erfolgreicher Ankunft, mit deren Garantie geworben wird. Doch man hört immer wieder von Booten, die kurz nach der Abfahrt sinken, Menschen ertrinken, und anders als bei dem Bootsunglück Ende April, nimmt meist kaum jemand Notiz.
Abfahrten werden aber auch selbst organisiert; man tut sich zusammen, kauft ein Boot und versucht, sich mit den entsprechenden Militärs gut zu stellen. Auch ist bekannt, dass manche Boote statt Richtung Zypern oder Italien versehentlich wieder nach Osten steuern und in Latakia/Syrien ankommen. Letzteres ist ein Grund, dass sich weniger Syrer:innen im Libanon für eine Flucht über das Meer entscheiden. Die Angst, in den Händen des Regimes zu landen, ist zu groß.
Um dem Pushback von Zypern zurück in den Libanon zu entgehen, etabliert sich eine Ausweichroute in Richtung Italien, berichtete zuletzt Al Jazeera. Das kann schwere Folgen haben: Ein Fischerboot mit 84 Menschen aus Libanon und Syrien, das im Oktober 2021 von Tripoli nach Italien aufbrach, wurde vor Griechenland von der Küstenwache unter Anwendung von Gewalt an die türkische Grenze gedrängt, von türkischem Militär abgefangen, die Insassen inhaftiert und nach einem Monat in den Libanon abgeschoben. So wird die gefährliche Fahrt auf seeuntüchtigen Fischerbooten bisher zumeist von Menschen aus der nördlichen Region um Tripoli in Erwägung gezogen. Wer etwas mehr Geld hat, verlässt das Land über andere, legale Wege – wenn er oder sie einen gültigen Pass besitzt. Denn aufgrund der steigenden Nachfrage inmitten der anhaltenden Krisen haben die libanesischen Behörden die Erneuerung von Pässen ausgesetzt und unterbinden auch so weitere Ausreisen.
Weil sie alle Wertsachen vor ihrer Ausreise verkauft haben, stehen Libanes:innen nach einem Pushback oder einer Abschiebung vor dem Nichts. Meist werden sie nach einigen Wochen Haft wieder entlassen. Besonders besorgniserregend ist gerade für Syrer:innen der schwierige Zugang zu rechtlicher Unterstützung und die mangelnde Transparenz des Justizsystems. Sie riskieren eine weitaus längere Inhaftierung, in deren Anschluss sie auch nach Syrien abgeschoben werden können.
In den Libanon abgeschobene Syrer:innen werden dem Assad-Regime ausgeliefert
Ende 2020 lebten laut UNHCR 89 Prozent der syrischen Flüchtlingshaushalte im Libanon in extremer Armut. Dass seit Beginn des Syrienkrieges Millionen von Syrer:innen geflohen und ein Großteil von ihnen – 1,5 Millionen – im Libanon Zuflucht gesucht hat, ist bekannt. Ebenso dass sowohl die Regierung als auch die Libanes:innen selbst zu Beginn des Krieges enorm aufnahmebereit waren. Die Länder teilen nicht nur Grenzen, sondern sind auch über Kultur und Familien verbunden. Dann allerdings schloss der Libanon am 31. Oktober 2014 seine Grenzen für Flüchtlinge aus Syrien und im Mai 2015 stellte das UNHCR auf Anordnung der libanesischen Regierung die Registrierung der Flüchtlinge komplett ein. Nur 20 Prozent der Syrer:innen im Libanon über 15 Jahren besitzen reguläre Aufenthaltspapiere, die meisten leben ohne Papiere und arbeiten illegalisiert.
Die diskriminierende Politik gegenüber syrischen Geflüchteten im Libanon drückt sich auch in der Einschränkung ihrer Bewegungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und in willkürlichen Verhaftungen aus. Wie verschiedene libanesische Menschenrechtsorganisationen und Anwält:innen bestätigen, droht Syrer:innen die Festnahme an Checkpoints mit dem Vorwurf fehlender Dokumente oder Teil einer terroristischer Vereinigung zu sein. Unsere Gespräche im Frühjahr 2022 mit Expert:innen in Beirut und Tripoli bestätigen einmal mehr, was Amnesty 2021 dokumentiert hat: Hunderte Syrer:innen, darunter auch Kinder, erleben nach ihrer willkürlichen Inhaftierung Folter durch die libanesischen Sicherheitskräfte und sehen sich fragwürdigen Gerichtsverfahren ausgesetzt. Manche werden nach Syrien abgeschoben – ein Anwalt aus Tripolis spricht von „Auslieferung“ – und verschwinden in den Händen des Regimes. Ein 2017 verabschiedetes Anti-Folter-Gesetz wird bisher nicht angewendet. Die libanesische Regierung bestreitet jede Verantwortung für die Verletzung der Rechte syrischer Geflüchteter.
Ein Menschenrechtsanwalt aus Tripoli berichtet uns gegenüber von der enormen Angst, die syrische Flüchtlinge aufgrund der Abschiebe- und Auslieferungspraxis haben. Er bestätigt die Festnahmen, die Folter durch libanesische Sicherheitsbeamte und Abschiebungen nach Syrien, die Amnesty International anklagt, denn er hat viele der Betroffenen vertreten. Eine Abschiebung zu verhindern ist fast unmöglich und mit Abgeschobenen in Kontakt zu bleiben war bisher unmöglich. Es müsse damit gerechnet werden, dass abgeschobene Syrer:innen nicht selten nach ihrer Ankunft in den Gefängnissen Assads verschwinden. Daher hebt er hervor, wie wichtig der Zugang zu rechtlicher Vertretung ist.
Im April 2019 hat der Nationale Verteidigungsrat des Libanon Abschiebungen nach Syrien per se für Personen legalisiert, die nach dem 24. April 2019 illegal aus Syrien in den Libanon eingereist sind. Sie werden als Migrant:innen oder auch Internal Displaced People (IDP) und nicht mehr als Flüchtlinge eingestuft. In der Folge versuchen mehr Syrer:innen, in anderen Ländern Asyl zu bekommen. Die Diskriminierung betrifft nicht nur Syrer:innen: Die Armenier:innen, die vor über 100 Jahren vor dem Genozid in den Libanon flohen, wurden nicht mit offenen Armen empfangen und die palästinensischen Flüchtlinge, die seit 1947 im Land leben, leiden unter anhaltend schlechten Lebensbedingungen und alltäglicher Diskriminierung.
Über die Hälfte der Libanes:innen will ausreisen
Die sozio-ökonomische Lage im Libanon verschärfte sich mit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2019, dann 2020 mit dem Beginn der Covid-Pandemie und der Explosion im Beiruter Hafen. Heute sind eine astronomische Inflation und der totale Zusammenbruch der kritischen Infrastruktur zu beobachten. Immer weniger Menschen sehen eine Perspektive im Land und so suchen sie unterschiedliche Wege heraus: Dem Meinungsforschungsinstitut Gallup zufolge wollen mehr als 63 Prozent das Land verlassen.
Die Krise zwingt die Libanes:innen in Arbeitslosigkeit, Armut und Verzweiflung. Jüngsten Studien zufolge haben die anhaltenden Krisen etwa 70 Prozent der Bevölkerung in Einkommensarmut gestürzt. In diesem Kontext ist nicht nur auf politischer Ebene eine Verschlechterung der Stimmung gegenüber Flüchtlingen zu beobachten, auch aus der Bevölkerung nehmen Vorurteile und Diskriminierung zu. Der Neid auf eine vermeintliche Bevorteilung von Geflüchteten befeuert die wildesten Gerüchte.
In den Straßen Beiruts ist dieser Tage vor allem ein Ausspruch in Gesprächen zu vernehmen, sei es auf Arabisch, Französisch oder Englisch: Es fehlt an „fresh money“ oder noch öfter „fresh Dollars“. Die Automaten spucken kaum noch Bargeld aus, die Leute kommen, selbst wenn sie es haben, nicht an ihr Geld und der Libanesische Pfund ist jeden Tag weniger Wert. Benzinpreise und Kosten für den täglichen Bedarf steigen ins unermessliche, während Löhne radikal gesenkt werden. Brot- und Mehlpreise und Verfügbarkeiten spitzen sich seit den Importstopps aus der Ukraine zu. Die letzten Weizen-Reserven wurden 2020 während der folgenschweren Explosion im Beiruter Hafen vernichtet.
Die Regierung stellt unregelmäßig, aber immer öfter, den Strom ab und nur wenige können mit privaten Generatoren überbrücken. Das Land ist dunkel und auch die Parlamentswahlen vom 15. Mai geben wenig Hoffnung. Linke Kreise sind frustriert, mit letzten Kräften wurde in manchen Nachbarschaften noch zur Wahl der Oppositionsparteien mobilisiert, es sind schließlich die ersten Wahlen nach den Massenprotesten 2019. Am Wahltag selbst verweigerten die libanesischen Behörden palästinensischen Bewohner:innen von Camps wie Ein El-Hilweh und syrischen Geflüchtete in vielen Gemeinden für 38 Stunden die Bewegungsfreiheit. Ein weiteres Beispiel für die Diskriminierung, der diese Gruppen und andere Migrant:innen im Libanon ausgesetzt sind.
Die Wahlbeteiligung lag nach Angaben des Innenministeriums bei geringen 41 Prozent, 9 Prozent niedriger als 2018. In Tripoli, einer der ärmsten Städte des Libanon, gingen nur 3 Prozent der Menschen zur Wahl. Neben den steigenden Treibstoffkosten und dem Ausfall sunnitischer Führungsfiguren sind die Gründe für die niedrige Wahlbeteiligung in der allgemeinen Verzweiflung über das politische System zu suchen. Die Ergebnisse stehen noch nicht fest, aber selbst optimistische Prognosen gehen davon aus, dass die Opposition die Wahl verloren hat und die etablierten Parteien das Land weiterhin im Griff behalten.
Farah Al-Lama ist bei medico zuständig für die Finanzkoordination von Projekten im Libanon und Ägypten, Nina Violetta Schwarz und Rachide Tennin sind in der Abteilung für transnationale Kooperationen zuständig für Flucht und Migration bzw. Libanon und Syrien.