Kriegsregime

Frieden heißt Verrat

15.02.2024   Lesezeit: 9 min

Nichts ist vorbei, nichts ist normal. Israel nach dem 7. Oktober.

Von Ramona Lenz

Auf den ersten Blick ist im Zentrum Israels, in Tel Aviv oder Haifa, wieder Normalität eingekehrt. Seit Jahresbeginn hat der Raketenbeschuss aus Gaza erheblich nachgelassen. Geschäfte, Schulen und Universitäten sind wieder geöffnet. Busse und Bahnen fahren regulär. Auf Baustellen herrscht reger Betrieb. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass nichts ist, wie es war: An fast jeder Straßenecke erinnern Plakate an die am 7. Oktober 2023 von der Hamas nach Gaza verschleppten Geiseln; an Schaufenstern und Häuserwänden prangen Israelfahnen und Schilder mit der Forderung „Bring them home“; viel häufiger als zuvor begegnet man Männern in Zivil mit Sturmgewehr über der Schulter. An Supermarktkassen, auf Bussen und an Autobahnbrücken prangen Wimpel oder Banner mit Durchhalteparolen wie „Zusammen werden wir siegen“; und manche der Baustellen dienen dem Bau von „Mamads“. Das sind Luftschutzräume, die seit einigen Jahren bei Neubauten verpflichtend sind und die nun bei manchen älteren Gebäuden nachgerüstet werden.

Ein arabischer Feinkosthändler im südlich von Tel Aviv gelegenen Jaffa – einem der wenigen Orte Israels, in dem Araber und Juden zusammenleben – erzählt, dass seit Oktober kaum noch jüdische Kund:innen in seinen Laden kommen, aus Angst, wie er vermutet. Und ein Vater berichtet, wie beim Kinderturnen im arabisch-jüdischen Gemeindezentrum ein paar Straßen weiter die arabischen Kinder vor Schreck erstarrten, als ein jüdischer Vater seine Tochter in Uniform und mit Waffe über der Schulter abholte. Die Erinnerung an den letzten Gaza-Krieg im Mai 2021, als es in gemischten Städten wie Jaffa zu heftigen gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, sitzt den Menschen noch in den Knochen.

Trauer und Repression

Nichts ist vorbei, nichts ist normal. In diesem kleinen Land kennen fast alle jemanden, die oder der Opfer des Massakers und der Geiselnahmen vom 7. Oktober geworden ist. Viele haben Soldat:innen in der Familie, die in Gaza im Einsatz sind, oder kennen Menschen, die wegen des Krieges ihre Wohnungen verlassen mussten. Und einige haben Freund:innen und Familienangehörige, die in Gaza oder im Westjordanland um ihr Leben fürchten. Auf gut vernetzte linke Aktivist:innen, die seit Jahren für ein Ende der Besatzung eintreten, trifft häufig alles gleichzeitig zu.

Hinzu kommt die Repression, die nach dem 7. Oktober massiv zugenommen hat. Wer sich der Kriegspropaganda mit ihren allgegenwärtigen Durchhalteparolen entzieht und für ein Ende der Bombardierung Gazas sowie der entfesselten Siedlergewalt im Westjordanland eintritt, muss damit rechnen, den Arbeitsplatz zu verlieren, bedroht, attackiert oder inhaftiert zu werden. Insbesondere die palästinensische Minderheit in Israel ist davon massiv betroffen. Ein harmloser Post auf Social Media zum falschen Zeitpunkt oder die Teilnahme an einer Friedensdemonstration genügen. Für Palästinser:innen können darauf Monate Gefängnis folgen.

„Polizeigewalt gegen Palästinenser:innen und Linke ist nichts Neues“, erklärt Ari Remez von Adalah, dem in Haifa ansässigen Legal Center for Arab Minority Rights in Israel, das medico seit vielen Jahren unterstützt. „Nach dem 7. Oktober hat die Einschränkung der Meinungsfreiheit jedoch ein bisher ungekanntes Ausmaß erreicht.“ Zahlreiche Gesetzesvorhaben und politische Vorstöße begünstigen Remez zufolge das aktuell brutale Vorgehen der Polizei – sei es die Forderung von Sicherheitsminister Ben-Gvir, den Einsatz scharfer Munition gegen friedliche Demonstrant:innen zu erlauben; sei es das im Dezember verabschiedete Gesetz, das den „Konsum von terroristischen Medien“ unter Strafe stellt; sei es die Drohung, die Rechtslage zum Entzug der Staatsbürgerschaft als Strafe für schwerwiegende terroristische Handlungen auf sprachliche Delikte auszuweiten. „Jede Kontextualisierung, jeder Ausdruck von Trauer um die Todesopfer in Gaza und jede Abweichung vom Narrativ der israelischen Regierung kann als Unterstützung der Hamas ausgelegt und zum Straftatbestand werden. Es wird den Betroffenen unterstellt, kein Mitgefühl mit den jüdischen Opfern zu haben. Als ob es nicht möglich wäre, sowohl um die einen als auch um die anderen zu trauern.“

Einschüchterung, Suspendierung, Inhaftierung

Nicht nur die Polizei sorgt dafür, das Recht auf freie Meinungsäußerungen derart einzuschränken. Auch an Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen wird Palästinenser:innen sowie linken Jüdinnen und Juden Nähe zur Hamas unterstellt. Aus meist fadenscheinigen Gründen werden Disziplinarverfahren eingeleitet. Insgesamt 120 Studierende von 34 verschiedenen israelischen Universitäten und Colleges hätten sich deswegen in den letzten Wochen an Adalah gewandt, so Remez. Auch Dozent:innen seien betroffen. „Wer beispielsweise unmittelbar nach dem 7. Oktober das Foto eines Geburtstagskuchens postete, den Koran zitierte oder Aussagen ähnlich denen von UN-Generalsekretär Guterres veröffentlichte, lief Gefahr, der Hetze beschuldigt zu werden. Die Folge waren Einschüchterungsversuche, Suspendierungen und Inhaftierungen.“

Omri Metzer vom Human Rights Defenders Fund, einer israelischen medico-Partnerorganisation, die letztes Jahr mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde, erklärt: „Seit Beginn des Krieges gibt es eine nahezu vollständige Null-Toleranz-Politik gegenüber allen Stimmen, die sich gegen die Regierung und die militärische Reaktion auf das kaltblütige Massaker der Hamas am 7. Oktober wenden.“ HRDF geht ebenso wie Adalah in zahlreichen Fällen gegen die Einschüchterung politisch Andersdenkender vor, wobei es sich vorwiegend um Palästinenser:innen handelt. Häufig seien Social-Media-Aktivitäten der Auslöser, erklärt Metzer. Aber seit dem 7. Oktober seien zudem zahlreiche Demonstrationen verboten oder mit Einsatz von Polizeigewalt aufgelöst worden. Dabei komme es regelmäßig zu Inhaftierungen, auch von Minderjährigen und Journalist:innen. So war es beispielsweise bei der friedlichen Antikriegsdemonstration mit rund 200 Teilnehmenden, die am 19. Oktober 2023 in Umm al-Fahm, einer arabischen Stadt im Norden Israels, stattfand. Die meisten Inhaftierten wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Ahmad Khalifa und Muhammad Jabarin jedoch, die Organisatoren der Demonstration, sitzen nun seit über einem Vierteljahr im Gefängnis und müssen fürchten, dass ihnen wegen Unterstützung von Terrorismus der Prozess gemacht wird.

Katastrophale Haftbedingungen

„Derzeit sind so viele Menschen in Israel in Administrativhaft wie nie zuvor“, berichtet Sahar Francis von der palästinensischen Prisoners Support and Human Rights Association Addameer in Ramallah. Bei Administrativhaft unterliegen die Prozessakten meist der Geheimhaltung und die Inhaftierten wissen nicht, was ihnen vorgeworfen wird und wie lange ihre Haft dauert. In Israel sind vor allem Palästinenser:innen davon betroffen. Addameer macht seit langem auf die katastrophalen Bedingungen für palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen aufmerksam. Am 23. Januar dieses Jahres hat die Organisation einen Bericht mit dem Titel „Escalating Oppression“ vorgelegt. Dieser dokumentiert, wie sehr sich seit Oktober die ohnehin schon desaströsen Haftbedingungen für Palästinenser:innen verschlechtert haben. Die Versorgung mit sauberem Wasser, Essen und Kleidung ist oft unzureichend: Menschen müssen in heillos überfüllten Zellen auf dem nackten Boden schlafen, und ihnen wird lebenswichtige medizinische Behandlung vorenthalten. Außerdem seien Familienbesuche unterbunden worden und Anwält:innen, die ihre Mandant:innen im Gefängnis besuchen wollen, müssten Wochen vorher einen Termin beantragen.

Und nicht nur das: „Seit dem 7. Oktober haben sich die Gefängnisse in Schauplätze verschärfter Grausamkeit verwandelt. Sie dienen nicht mehr nur der Unterdrückung, sondern auch der Folter palästinensischer Gefangener, an denen mit verschiedenen Mitteln Rache geübt wird“, heißt es in dem Bericht von Addameer. „Man zwingt sie, Lieder auf Hebräisch zu singen, die israelische Flagge zu küssen und sich wie ein Hund zu verhalten“, erläutert Francis. Manche müssten 24 Stunden am Tag in Handschellen gefesselt in Käfigen verbringen. Von sieben Häftlingen weiß man, dass sie seit dem 7. Oktober aufgrund von Gewaltanwendung und unterlassener medizinischer Hilfe in israelischen Gefängnissen zu Tode gekommen sind. „Außerdem hat die sexuelle Gewalt gegen palästinensische Häftlinge – Frauen wie Männer – stark zugenommen“, so Francis. Besonders schlimm sei es für Häftlinge aus Gaza, über die wenige Informationen nach außen dringen.

Eskalation der Gewalt im Westjordanland

Im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem hat die Gewalt von Siedler:innen und israelischen Besatzungstruppen gegen Palästinenser:innen und Beduin:innen seit dem 7. Oktober einen neuen Höhepunkt erreicht, berichtet die palästinensische Menschenrechtsorganisation Al-Haq mit Sitz in Ramallah, mit der medico seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Tötungen und Tötungsversuche sind an der Tagesordnung ebenso wie Vertreibungen und die Zerstörung von Eigentum. „Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 20. Januar 2024 wurden 363 Palästinenser:innen, darunter 94 Kinder, durch die israelischen Besatzungstruppen und die Siedler:innen im besetzten Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, getötet“, berichtet Shahd Qaddoura von Al-Haq und fügt hinzu, dass es auch immer häufiger zu sexualisierter Gewalt komme. Zu den 480 fest installierten Kontrollpunkten des israelischen Militärs im Westjordanland sind seit Oktober 350 „flying checkpoints“ hinzugekommen. Sie werden an Hauptstraßen, dem Zugang zu palästinensischen Dörfern oder auch mitten im Nirgendwo errichtet. Das schränkt nicht nur die Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen noch weiter ein. Es erhöht auch die Gefahren für ihre Unversehrtheit. „An den Checkpoints werden in der Regel die Mobiltelefone kontrolliert. Oft reicht es schon, die Telegram-App installiert zu haben, um geschlagen und gedemütigt zu werden“, erklärt Qaddoura.

Zukunft ungewiss

Die Politik des Silencing zeigt Wirkung. Angesichts der Ereignisse am und nach dem 7. Oktober waren viele Linke zunächst paralysiert und haben sich deswegen zurückgezogen. Nun trauen sich viele wegen der Repressionen kaum noch auf die Straße. „Ich vermeide es inzwischen, im Bus oder an anderen öffentlichen Orten Arabisch zu sprechen“, erklärt eine palästinensische Aktivistin aus Haifa. „Zu einer Demo gehe ich im Moment bestimmt nicht. Die Gefahr, als Palästinenserin im Gefängnis zu landen, ist zu groß.“ Und eine jüdische Aktivistin aus Tel Aviv erklärt: „Das ist alles auch sehr persönlich. Seit vielen Jahren setzen wir uns gemeinsam für die gleichen Ziele ein. Doch nach dem 7. Oktober haben viele ihre Werte neu justiert. Da bleiben auch persönliche Verwerfungen und Enttäuschungen nicht aus.“

Krieg und Repression dauern fort und niemand weiß, wo das alles hinführen wird. Die wachsenden Teilnehmer:innenzahlen bei den wöchentlichen Demonstrationen gegen die Regierung mögen ein Hoffnungsschimmer sein. Doch können sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele auf den Demonstrationen fehlen, weil sie eingeschüchtert werden oder inhaftiert sind.

Ramona Lenz, Sprecherin der medico-Stiftung, ist seit einigen Monaten immer wieder für längere Zeit in Tel Aviv. Sie war es auch am 7. Oktober und während des Schreibens dieser Reportage

Das Recht auf Hilfe ist nicht verhandelbar

Nothilfe in der Westbank und in Gaza

Während alle Augen auf Gaza gerichtet sind, verschärft sich auch im Westjordanland die Lage. In Tulkarem, nahe der Sperranlage zu Israel, drang die israelische Armee wiederholt in zwei Flüchtlingslager ein und richtete dort Verwüstungen an. Die Gemeinde Tulkarem beherbergt auch etwa 100 Arbeiter aus Gaza, die dort ausharren und – getrennt von ihren Familien in der Küstenenklave – auf ein Ende des Krieges hoffen. In Kooperation mit dem ortsansässigen palästinensischen Zentrum für Kunst und Kultur Jadayel unterstützt medico Aktivist:innen dabei, sie mit Lebensmitteln zu versorgen. Bedürftigen Familien in den Camps helfen sie bei der Reparatur ihrer beschädigten Häuser.

In Gaza unterstützt medico weiter den langjährigen Partner Palestinian Medical Relief Society (PMRS) bei der medizinischen Versorgung von Binnenvertriebenen. In Rafah, wohin Hunderttausende geflohen sind, machen sich Hunger und Verzweiflung breit. Die Masayem Association for Culture and Arts, deren Aktivist:innen bis zu ihrer Vertreibung ein kleines Zentrum etwas außerhalb von Khan Younis betrieben, versorgt dort seit zwei Monaten rund 500 Familien in einer der zahlreichen Zeltstädte. medico unterstützt sie beim Betrieb ihrer Suppenküche.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Ramona Lenz (Foto: medico)

Ramona Lenz ist Sprecherin der Stiftung medico. Über viele Jahre war die Kulturanthropologin in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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