Gesundheit

Globale Pandemie, globale Impf(un)gerechtigkeit

07.11.2023   Lesezeit: 11 min

Der Pharma- und Patentekomplex und die Auseinandersetzung um die Freigabe der Covid-19-Impfstoff-Patente.

Von Dr. Andreas Wulf

Mit Covid-19 kehrte die Auseinandersetzung um Forschung, Entwicklung und Verfügbarkeit lebensnotwendiger Medikamente und Impfstoffe zurück: Schauplatz sind zwei entscheidende internationale Institutionen – die Weltgesundheitsorganisation WHO und die Welthandelsorganisation WTO. Der Beitrag beschäftigt sich mit den Initiativen und Debatten zur globalen gerechten Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Tests, Impfstoffen und Medikamenten zur Prävention und Behandlung von COVID-19.

Die COVID-19 Pandemie hat die Debatten um das Eigentum an und die Verfügbarkeit von neu entwickelten Medikamenten und Impfstoffen aus den Fachkreisen in eine weite Öffentlichkeit gebracht – auch dank des ersten afrikanischen Generaldirektors der Weltgesundheitsorganisation WHO, Dr. Gebreyesus Tedros. Er sprach schon im Januar 2021 angesichts des weltweit ungleichen Zugangs zu den gerade entwickelten lebensrettenden Medizinprodukten von einem „katastrophalen moralischen Versagen“. Dieses Versagen vergrößerte sich im Laufe der letzten zwei Jahre mit jeder neuen Booster-Runde und den in 2022 auf die Omikron-Variante des Corona-Virus adaptierten Impfstoffen, die vorrangig für die wohlhabenden Länder zur Verfügung stehen. Ende 2022 wurde die Zahl der COVID-19 Todesfälle, die in den ärmeren Ländern durch eine gerechtere globale Verteilung der Impfstoffe hätten vermieden werden können, auf 1–1,5 Millionen geschätzt, bei 20 Millionen Covid19 Opfern weltweit. Auch weil die globale Aufmerksamkeit für die Pandemie 2022 durch den Ukraine Krieg und 2023 durch das massive Erdbeben in der Türkei/Syrien und zuletzt den erneuten Gazakrieg abgenommen hat, stehen weiterhin Impfquoten von 70-90% in den Ländern mit eigener Impfproduktion und bilateralen Verträgen den niedrigen Impfraten in den meisten der ärmsten Länder gegenüber, die gerade erst über 32% Impfraten unter der erwachsenen Bevölkerung hinausgekommen sind.

Wem gehört das Wissen?

Ein entscheidender Faktor für die Kluft zwischen denen, die sich impfen lassen können und denen, die das Nachsehen haben, sind die global vertraglich gesicherten privaten Eigentumsrechte an solchen Neuentwicklungen - trotz der enormen staatlichen Investitionen in die Entwicklung von Diagnostika, Medikamenten und Impfstoffen gegen Covid-19:

Die Entwicklung des mRNA Impfstoffs von Moderna wurde von den USA mit einer Milliarde USD direkt gefördert; zudem wurden Moderna für öffentliche Patente der Grundlagenforschung in Höhe von 1,8 Milliarden USD erlassen. Der Adenovirus Impfstoff von Johnson & Johnson wurde mit 1,45 Milliarden USD gefördert. Auch  Pfizer/Biontech erhielten für die-Impfstoffentwicklung 475 Mio USD Dollar von der US-Regierung und 375 Mio. Euro von der Bundesregierung.

Trotz dieser enormen öffentlichen Finanzierung verbleiben die Produkte in der Verfügungsgewalt der Hersteller. Und das, obwohl sie – wie bereits im Frühjahr 2020 vollmundig von EU-Kommissionschefin von der Leyen und prominenten Staatschefs verkündet – „globale öffentliche Güter“ für alle sein sollten.

Die Realität sah und sieht anders aus: Die mRNA und Adenovirus Impfstoffe der genannten Hersteller aus Europa und den USA, die sich als besonders wirksam gegen die schwere COVID-19 Erkrankung erwiesen, wurden schon 2020 – Monate, bevor die ersten dieser Impfstoffe in den USA, Europa und bei der WHO zugelassen waren -  zum größten Teil über Vorverträge an eine Handvoll reicher Staaten verkauft. Kein Wunder, dass die Börsenwerte der Pharma-Multis Pfizer, AstraZeneca und Johnson& Johnson in der Folge durch die Decke gingen, ebenso wie die der deutschen und US-amerikanischen Entwicklerfirmen Biontech und Moderna. Gigantische Milliardengewinne wurden für 2021 und 2022 ausgewiesen.

Diese enormen Profite lassen sich nur realisieren, wenn das Wissen um Entwicklung und Produktion in den Händen weniger bleibt – die Monopolstellung der Hersteller wird durch das 1994 global bei der Welthandelsorganisation (WTO) verabschiedete Abkommen zu geistigen Eigentumsrechten gesichert – das  Agreement on Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights, kurz TRIPS.

Das TRIPS-Abkommen und der Mythos von den geistigen Eigentumsrechten als Innovationstreiber

Bei der Durchsetzung dieses Abkommens hatten in den 1990er Jahren neben den großen IT-Konzernen auch die Pharmaindustrie, vornehmlich der USA - (Pfizer war hier ein zentraler Akteur) - eine entscheidende Rolle. Angesichts der aufholenden industriellen Entwicklung wichtiger Schwellenländer wie Indien, Südkorea, Mexico, Brasilien und China galt es, die Konkurrenz möglichst lange von Innovationen fernzuhalten, auch auf Kosten eines verzögerten globalen Zugangs zu lebensnotwendigen Produkten. Das TRIPS-Abkommen wurde auf massiven Druck der USA durchgesetzt und verpflichtet alle Mitglieder der WTO (außer den ärmsten Ländern) u.a. einen „minimalen“ Schutz von Produktpatenten über eine Laufzeit von 20 Jahren zu garantieren. 

Dabei sind die Mythen, die sich um dieses „Innovationsmodell“ der Geistigen Eigentumsrechte in der Pharma-Entwicklung ranken, längst widerlegt: Eine wichtige Rechtfertigung für dieses Modell sind die hohen Forschungskosten und zahlreichen Fehlschläge auf dem Weg zu neuen Medikamenten. Tatsächlich aber forschen die großen Konzerne oftmals gar nicht mehr selbst. Vielmehr nutzen sie ihre enormen Gewinne für Einkaufstouren und Fusionen: Kleine Biotechnologie-Unternehmen, die erfolgversprechende Forschungsergebnisse nachweisen können, werden, kaum haben sie den „Großen“ das Entwicklungsrisiko weitgehend abgenommen, geschluckt. Oder es werden für beide Seiten profitable „Deals“ ausgehandelt: Beim Einstieg des US-Pharmagiganten Pfizer in die Wirksamkeitsprüfung und Produktion des vom deutschen Unternehmen Biontech entwickelten mRNA-Impfstoffs im April 2020 war dies ebenso zu sehen wie bei der Kooperation des britisch-schwedischen Unternehmen Astra-Zeneca mit den Entwickler*innen des Adenovirus Impfstoffs an der Universität Oxford.

Öffentliche Forschungsförderung und Alternativen zum monopolbasierten System der Medikamentenentwicklung

Die Geschichte der Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe, von staatlichen und öffentlichen Institutionen nicht nur in den USA und Europa, sondern auch in Indien, China, Russland und Kuba mit umfangreichen Mitteln gefördert, zeigt einmal mehr, dass öffentliche Investitionen der zentrale Hebel zum raschen Erfolg sind – und gerade nicht das Patentsystem, das die Hersteller für ihre Investitionsrisiken im Erfolgsfall nachträglich entschädigen soll. An der Entwicklung der Impfstoffe enttarnt sich der Mythos, dass Patente in einem kapitalistischen System der zentrale Anreiz zur Produktion neuen Wissens und neuer Produkte darstellen. Denn kaum noch einer der großen Konzerne hatte in den letzten Jahren relevant in Impfstoffforschung investiert, ebenso wenig wie in die dringliche Forschung zu neuen Antibiotika in Zeiten wachsender Antibiotika Resistenzen. Hier ist ein patentgestütztes Forschungsmodell, das einen möglichst schnellen maximalen Umsatz der neuen Medikamente belohnt (bevor die Patentzeit abgelaufen ist) sogar kontraproduktiv, denn neuartige Antibiotika dürfen eben nicht flächendeckend vermarktet und eingesetzt werden, wenn sie nicht zu raschen Resistenzentwicklungen bei den Erregern und damit einhergehender Abnahme ihrer Wirksamkeit führen sollen[1]. Dennoch sind die globalen Spielregeln, die durch das Patentsystem der Welthandelsorganisation (WTO) den finalen Entwicklern dieser Produkte ein Monopol darauf einräumen, trotz globaler Pandemie wie in Stein gemeißelt.

Dabei lagen und liegen die Alternativen zum monopolbasierten Entwicklungssystem längst auf dem Tisch. Nötig wäre eine konsequente Trennung von Forschungs- und Entwicklungskosten von den Preisen der produzierten Medikamente. Eine solche globale Initiative scheiterte allerdings zuletzt 2012 bei der WHO, obwohl diese der multilaterale Akteur der globalen Gesundheitspolitik wäre der ein Mandat hat, völkerrechtlich verbindliche Verträge zu verhandeln.  

Bereits 2003 legte die WHO Commission on Intellectual Property Rights, Innovation and Public Health einen entsprechenden Bericht vor. Auf dieser Grundlage arbeitete in den folgenden Jahren eine eingesetzte Experten-Arbeitsgruppe Ideen zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung in öffentlicher Hand aus, der 2012 in der Weltgesundheitsversammlung beraten wurde. Er sah ein verbindliches Rahmenabkommen zu „Open Knowledge Innovation“ vor, mit dem eine gemeinsame öffentliche Forschungsfinanzierung durch die Mitgliedsstaaten der WHO entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsstärke vereinbart werden sollte. Damit wären das generierte Wissen, die Produkte und sogar Lizenzen unter öffentlicher Kontrolle. Auf diese Weise könnten Medikamente kostengünstig von allen reproduziert werden. Dieser Vorschlag scheiterte, da die Gruppe der Industriestaaten keine Änderung des Status Quo wollte.

COVID-19: Die CTAP-Initiative und ihre gezielte Unterminierung  

Die Coronavirus-Pandemie hätte, optimistisch betrachtet, die richtige Gelegenheit sein können, diesen Konzepten für Offenes Wissen neues Gewicht zu verleihen. Im Mai 2020 schlug Costa Rica mit Unterstützung der WHO und einer Reihe anderer kleinerer Staaten einen neuen Covid-19 Technology Access Patent Pool (CTAP) unter dem Dach der WHO vor, in dem das Wissen zum Virus und die Instrumente zu seiner Bekämpfung gebündelt und für alle in einem freien Lizenzverfahren verfügbar sein sollten. Freiwillige Lizenzen, Studien- und Zulassungsdaten sowie Know-how zur Beschleunigung des Technologietransfers sollten hier gebündelt und für andere Unternehmen mit freien Kapazitäten und den entsprechenden Erfahrungen zur Produktion nutzbar werden. So ließe sich die Knappheit an Impfstoffen schneller überwinden und die schon lange währende Blockade zumindest für die aktuelle Krise überwinden.

Das Pharmakartell und seine Unterstützer*innen in den Regierungen der großen Industriestaaten hat den CTAP allerdings am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Lediglich 34 kleinere und mittelgroße Länder (aus Europa Portugal, Belgien, Norwegen, Niederlande, Spanien, Luxemburg) ohne starke Pharmaindustrie haben diese Initiative offiziell unterstützt. In der Hochphase der Pandemie konnte CTAP nur eine Lizenz für COVID-19-Antigen Schnelltests vom Spanischen Nationalen Forschungsinstitut und ein breitetes Lizenzpaket für Produkte in Entwicklung von den öffentlichen National Institutes for Health der USA einwerben, erst im August 2023 stellte der kleinere Impfstoff Hersteller Medigen freiwillige Lizenzen in den Pool ein.

Dabei hätte mit der Bereitstellung enormer öffentlicher Mittel für Forschung und Entwicklung gegenüber den Konzernen genau das zur Bedingung gemacht werden können: Die Verpflichtung zu einem „sozialverantwortlichen Lizensierungsverfahren“, wie es längst von einigen Universitäten und öffentlichen Forschungsinstituten debattiert und umgesetzt wird. Der in der COVID-19 Krise bekannt gewordene Prof. Christian Drosten vom Institut für Virologie der Charité Berlin hat etwa mit seinem Team einen Hepatitis C Testverfahren entwickelt und als open source verfügbar gemacht.

In Deutschland haben nicht nur die 2021 abgewählte große Koalition, sondern auch die aktuelle Ampelregierung die Blockadehaltung der Pharmaindustrie mitgetragen und setzen weiterhin auf rein bilaterale Abkommen. So hat AstraZeneca ein Abkommen mit dem südafrikanischen Unternehmen Aspen zur Abfüllung und Fertigung ihres Adenovirus- Impfstoffes geschlossen. Und Biontech hat Verträge mit den Regierungen von Ruanda und dem Senegal über lokale Produktionsstandorte für den mRNA-Impfstoff geschlossen. Sie sind weiterhin nicht bereit, ihre Kenntnisse und Technologien tatsächlich mit allen zu teilen, die zu einer Produktion in der Lage wären. Auch der Grüne Co-Vorsitzende Robert Habeck, der in der Opposition noch für Veränderungen im Patentregime offen war, kippte in seiner neuen Funktion als Wirtschaftsminister und Vizekanzler um, nachdem er sich von der Pharmalobby hatte beraten lassen, wie er ganz naiv öffentlich im Januar 2022 verkündete.    

Patente töten! – Die Auseinandersetzung um die Aussetzung des Patenrechts für COVID-19 Impfstoffe und Medikamente

Angesichts dieser Blockade freiwilliger Kooperationen brachten Indien und Südafrika im Oktober 2020 bei der WTO einen Antrag auf eine Aussetzung des schon erwähnten TRIPS Abkommens zum Patentschutz (TRIPS Waiver) ein. Zeitlich befristet für die laufende Pandemie und beschränkt auf Medizinprodukte für Covid-19: Technische Geräte, Medikamente, Diagnostika, Schutzausrüstungen und Impfstoffe. Damit könnten diese von anderen Herstellern schneller und billiger kopiert werden und die Engpässe, die es global nicht nur bei den Vakzinen gibt, verringern. Dabei geht es nicht nur um die Patente, sondern auch um geschütztes Wissen wie Zulassungsdaten, die für eine rasche Produktion von Nachahmer-Produkten (Generika) wichtig sind.

Ein solcher Waiver ist ein formal im Rahmen des TRIPS Abkommens möglicher flexibler Umgang mit geistigen Eigentumsrechten. Aber in den Verhandlungen der WTO Mitgliedsstaaten um den konkreten Text des Antrags, der von mehr als 100 Ländern, vornehmlich aus dem Globalen Süden, unterstützt wurde, stellten sich vor allem eine Handvoll Länder quer: die Europäische Kommission als Vertreterin der EU-Staaten, darunter vor allem auch Deutschland, auch die Schweiz und Großbritannien, und die meisten OECD Staaten. Unterstützt wurden sie von der machtvollen Pharmalobby, die die Kontrolle über die Produktion nicht aus ihren Händen geben will.

Seit dem Herbst 2020 protestierten gegen diese Blockade breite zivilgesellschaftliche Kampagnen. In Deutschland hatte sich im Frühjahr 2021 das „makethemsign“ Bündnis gegründet, das auf die Bundesregierung mit social media Aktivitäten und „offline“ Demonstrationen Druck ausübte. International gab und gibt es Proteste in vielen Ländern und von der globalen „People’s Vaccine Campaign“ die auch viele Wissenschaftler*innen und Prominente unter ihre Aufrufe bekommt.

Trotz der globalen Pandemiekrise und diesem großen öffentlichen Druck konnte erst im Juni 2022 ein Minimalkompromiss bei der WTO erzielt werden, der den Namen „Waiver“ nicht mehr verdient, sondern lediglich die Optionen der Zwangspatente etwas leichter macht. Es war deutlich „zu wenig, zu spät“. Die beschämende Blockaderolle der Europäischen Kommission konnte trotz großer Widerstände zumindest teilweise transparent gemacht werden.

Die Konzerne und die reichen Staaten behaupten weiterhin, dass das Patentsystem die Versorgung mit COVID-19-Impfstoffen sichere – und nicht begrenze. Tatsächlich ist die Aufhebung oder Aussetzung des Patenschutzes die einzige Möglichkeit, zukünftige Pandemien in den Griff zu bekommen.

Der Druck auf die Blockierer bei der WTO muss ebenso weitergehen wie der Druck auf die Unternehmen, die mit hohen öffentlichen Mitteln entwickelten Instrumente zur Eindämmung von Covid-19 für alle verfügbar zu machen. Die Erfahrung mit COVID-19 unterstreicht die Dringlichkeit, essenzielles Gesundheitswissen den privaten Monopolen zu entziehen.


[1] McKenna, M. (2020): The antibiotics paradox: why companies can’t afford to create live saving drugs. Nature 584: 338-341.

Andreas Wulf

Andreas Wulf ist Arzt und seit 1998 bei medico international. Er ist Nothilfe-Referent und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit.


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