Weltsozialpolitik

Große Aufgaben

18.11.2020   Lesezeit: 6 min

Die Rekonstruktion von Gesellschaftlichkeit erfordert eine Versöhnung von Freiheit und Sicherheit

Von Thomas Gebauer

US-Präsident Donald Trump wird schon bald Geschichte sein. Die verstörende Frage, warum über 70 Millionen Amerikaner*innen ihre Stimme einem notorischen Lügner und offenkundigen Anti-Demokraten gegeben haben, aber wird bleiben.

Eine erste Antwort gibt die politische Landkarte. Trump wurde dort gewählt, wo die soziale Verunsicherung der Menschen besonders groß ist. Seine Hochburgen liegen nicht an den global prosperierenden Küsten der USA, nicht in den urbanen Metropolen, sondern in der Peripherie des abgehängten Mittelwestens mit all seinen weltvergessenen und von der Welt vergessenen Kleinstädten. Hier gedeihen die Ressentiments, die einem Demagogen wie Trump in die Hände spielen. Es sind die Verlierer*innen der Globalisierung, auf die sich Trump stützen konnte; Menschen, die sich in ihrer Existenz bedroht sehen, sei es, weil mit der Globalisierung alte Hierarchien ins Wanken gekommen sind, oder aus Angst, im schärfer werdenden Kampf aller gegen alle den gewohnten Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Solche Verunsicherungen machen empfänglich für Demagogen. Man giert nach spaltenden Worten, die eine vermeintliche „weiße Überlegenheit“ behaupten, freut sich über ein paar lausige Schecks, aber verflucht die in Washington, die einen doch längst verraten haben. Was die Wählerschaft Trumps vereint, ist die Erfahrung eines Bedeutungsverlustes, kompensiert in einem Opfermythos, der nun durch die Abwahl „ihres Präsidenten“ weiter genährt wird.

Joe Biden, der neue Präsident wird einiges zu tun haben, wenn er die tief gespaltene Gesellschaft wieder vereinen will. Mit guten Worten alleine wird das nicht gelingen. Notwendig wären weitreichende Eingriffe in die strukturellen Umstände, die für die dramatisch angewachsene soziale Verunsicherung verantwortlich sind. Letztlich stünde die Rekonstruktion einer Gesellschaftlichkeit auf der Tagesordnung, die mit der marktradikalen Umgestaltung der Welt in den zurückliegenden Jahrzehnten bis in ihre Grundfesten hinein erschüttert wurde. Und zwar weltweit. Was zu tun wäre, wird paradigmatisch im Kontext der Corona-Krise deutlich. Krasse Fehlentwicklungen werden hier sichtbar, für deren Korrektur sich Biden bislang nicht ausgesprochen hat.

Denn während die Pandemie gerade weitere Millionen von Menschen in eine unsichere Zukunft treibt, können sich maßgebliche Profiteur*innen des Neoliberalismus fast schon in Sicherheit wiegen. Dafür sorgen viele der internationalen Handels- und Investitionsschutzabkommen, die es heute global tätigen Investor*innen ermöglichen, Regierungen in aller Welt auf Entschädigungen für jene Verluste zu verklagen, die sie durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erlitten haben. Der Virus-Welle droht so eine Welle von Schadensersatzklagen zu folgen. Über die aber werden nicht ordentliche Gerichte entscheiden, sondern private Schiedsstellen. So steht es in den Abkommen, die ausländischen Investor*innen das Sonderrecht auf Gewinne selbst dann noch einräumen, wenn diese nur auf Kosten der Gesundheit der Menschen zu erzielen wären. Es ist beschämend zu sehen, mit welcher Energie der Neoliberalismus den Schutz von Wirtschaftsinteressen vorangetrieben hat und wie wenig zum Schutz der sozialen Absicherung von Menschen getan wurde.

Unter Berufung auf bestehende Abkommen können heute beispielsweise ausländische Versorgungsunternehmen Länder wie El Salvador oder Argentinien verklagen, weil diese die Bezahlung von Wasserrechnungen aussetzten, um ärmeren Haushalten das Einhalten von Hygienemaßnahmen zu ermöglichen. Entschädigungsrelevant sind auch staatliche Eingriffe zur Sicherstellung des Zugangs zu bezahlbaren Medikamenten, Tests und Impfstoffen, wodurch Gewinne geschmälert werden. Ebenso wie verfügte Aussetzungen von Hypotheken- und Mietzahlungen, nicht zu vergessen die Einschränkung von Geschäftsaktivitäten zum Schutz des Gesundheit.

Es ist höchste Zeit, die Sonderrechte von Investor*innen zu überprüfen. Das verlangen über 600 zivilgesellschaftliche Organisationen aus aller Welt in einem offenen Brief an die Regierungen. Öffentliche Mittel, die so dringend zur Abmilderung der sozialen Folgen der Pandemie gebraucht werden, dürften nicht zur Zahlung exorbitanter Anwaltsrechnungen und milliardenschwerer Entschädigung ausländischer Konzerne verwendet werden, heißt es in dem Aufruf, der von Gewerkschaften, Umweltschutzverbänden, sozialen Bewegungen und Hilfsorganisationen, so auch von medico international unterzeichnet wurde.

Schon lange vor Trump ist die für menschenwürdige Lebensumstände so wichtige Balance zwischen individuellen Freiheiten und gesellschaftlich garantierter Sicherheit auf fatale Weise aus den Fugen geraten. Beides wieder miteinander zu versöhnen, ist das Gebot der Stunde. Mit Blick auf den erreichten Globalisierungsgrad wird das allerdings nicht in nationalen Alleingängen zu schaffen sein, viel zu groß sind die real existierenden transnationalen Verschränkungen. Die Hoffnung, den Geist der Globalisierung zurück in die Flasche zwingen zu können, führt in die Irre. Nicht das Zusammenrücken der Welt ist das Problem, sondern der prekäre von massiven sozialen Verwerfungen geprägte Zustand, in dem sich die Welt in ihrem Weltweitwerden heute befindet.

Um allen, den Menschen im US-amerikanischen Mittelwesten ebenso wie in den Bewohner*innen der Sahelzone, den Solo-Selbstständigen und Kulturschaffenden in den urbanen Zentren ebenso wie den noch in den Slums dieser Erde zusammengepfercht Lebenden, eine menschenwürdige Existenz zu sichern, bedarf es einer radikal neuen, einer auf Ausgleich und Anerkennung drängenden globalen Politik, die im besten Sinne des Wortes Weltsozialpolitik wäre.

Es mangelt nicht an Ressourcen. Die Welt schwimmt förmlich in Geld. Aufgrund der verfehlten Finanz- und Steuerpolitik der zurückliegenden Jahrzehnte ist es nur nicht dort, wo es gebraucht wird. Würde Jeff Bezos, der Amazon-Gründer und gegenwärtig reichste Mann der Welt, allen Obdachlosen der USA ein Haus bauen, bliebe er noch immer Multimillionär.

Weltsozialpolitik ist etwas prinzipiell anderes als die von den Interessen der Geber*innen geleitete herkömmliche Entwicklungszusammenarbeit. Weltsozialpolitik basiert auf Rechtsansprüchen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt sind, nicht zuletzt auf Artikel 28, der allen Menschen das Recht auf eine „internationale und soziale Ordnung“ garantiert, in der die Freiheits- und Sozialrechte gewährleistet sind.

Die heute so dringend gebotene Versöhnung von Freiheit und Sicherheit muss keine Utopie bleiben. Sie kann gelingen, wenn neu zu schaffende öffentliche Institutionen auf zentraler Ebene für notwendige Regulierungen und einen solidarisch-gerechten Zugang zu Ressourcen sorgen, über deren Verwendung in demokratischer Selbstbestimmung auf lokaler Ebene entschieden wird. So notwendig es ist, die Bündelung von Ressourcen zentral, mitunter sogar international zu organisieren, so wichtig ist es, die Entscheidungsbefugnisse über die Verwendung von Mitteln möglichst weit unten anzusiedeln. In skandinavischen Ländern sind es mitunter die Kommunen, die in öffentlichen Debatten darüber befinden, wie die ihnen für Gesundheitsprävention übertragenen Mittel eingesetzt werden: für den Bau einer Sporthalle, das Anlegen eines TrimmDich-Pfades oder für die Ernährungsberatung an Schulen.

Der Leiter der norwegischen Gesundheitsbehörde erzählte mir einmal von der großen Bedeutung, die von der Einrichtung einer solidarisch verfassten Daseinsvorsorge für das Nachkriegs-Norwegen ausging. Ohne diesen Prozess hätte das damals tief gespaltene Land, in dem sich die Kollaborateur*innen und Opfer der Nazi-Herrschaft gegenüberstanden, nicht wieder zueinander gefunden. Die Chance auf Versöhnung der US-Gesellschaft liegt nicht in der Abschaffung von Obama-Care, sondern in dessen Ausweitung. In den USA selbst, vor allem aber über alle Landesgrenzen hinaus.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Thomas Gebauer

Thomas Gebauer war von 1996 bis 2018 Geschäftsführer von medico international und bis Ende 2020 Sprecher der Stiftung medico. Als Zivildienstleistender ist er Ende der 1970er Jahre zu uns gekommen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Fragen der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik und die sozialen Bedingungen globaler Gesundheit. Der Psychologe erhielt 2014 die Goethe-Plakette, mit der die Stadt Frankfurt Persönlichkeiten des kulturellen Lebens würdigt.


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