Kriegsregime

Hoch die Hände, Zeitenwende

15.02.2024   Lesezeit: 8 min

Ukraine und die Welt im dritten Jahr des Krieges. Von Sandro Mezzadra und Brett Neilson.

Zwei Jahre sind seit dem 24. Februar 2022 vergangen, dem Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine. Sollte es ein Blitzkrieg werden, der mit der Einnahme Kiews und einem von Wladimir Putin inszenierten Regimewechsel endet? Es ist vielleicht nicht so wichtig, diese Frage zu beantworten, denn Tatsache ist, dass der Krieg seitdem fortdauert, wobei sich archaische Bilder eines Stellungskrieges überlappen mit dem Einsatz von Drohnen, Elon Musks Satellitennetzwerk und spektakulären Sabotageakten an der Krim-Brücke und der Nord-Stream-Pipeline. Der Krieg in der Ukraine ist ein hervorragendes Labor für die Rüstungsindustrie; eine Gelegenheit, die Arsenale der beteiligten Länder zu „verschrotten“, sie zu erneuern sowie neue Technologien und Strategien zu testen. All dies bedeutet, wie immer im Krieg, Zehntausende Tote und Verletzte sowie die Zerstörung von Städten und Werten, die bereits das große Geschäft des Wiederaufbaus der Ukraine vorbereitet.

Der Krieg geht aber nicht einfach nur weiter. Nach der „ukrainischen Offensive“ im letzten Sommer scheint er sich in einer „Pattsituation“ eingependelt zu haben, wie Mark Milley, ehemaliger Generalstabschef des US-Militärs, bereits im November 2022 (und zu dieser Zeit noch im Amt) voraussagte. In den vergangenen zwei Jahren konnte der Widerstand der ukrainischen Armee gegen die russische Invasion zwar auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung zählen, jedoch um den Preis eines immer stärker werdenden Nationalismus, der im Übrigen nicht nur in der Ukraine zu beobachten ist. In Russland hingegen hat die weitgehende Stabilität der Wirtschaft und der um das Putin-Regime herrschende Konsens wesentliche Öffnungen verhindert. Statt Demokratisierung und sozialer Mobilisierung verfestigt sich der allgegenwärtige Autoritarismus. Der Stillstand des Krieges begünstigt diese Prozesse, und was die Ukraine betrifft, so wird er durch die Aussicht auf den Beitritt zur Europäischen Union, dessen Zeitplan ungewiss ist, in jedem Fall aber sehr lange dauern wird, gleichsam noch verstärkt.

In den letzten zwei Jahren hat sich weltpolitisch vieles verändert und die Ereignisse in der Ukraine waren der allgemeine Rahmen, in dem sich diese Veränderungen vollzogen. Die Rhetorik des „neuen Kalten Krieges“, die seit einigen Jahren im Westen kursierte, schien eine unheilvolle Bestätigung zu finden. Doch sie wird der aktuellen Situation keineswegs gerecht, die spätestens seit der Finanzkrise von 2007/8 durch einen konfliktträchtigen Multipolarismus gekennzeichnet ist. Der zeitgenössische Kapitalismus organisiert sich um eine Reihe globaler Prozesse herum – in der Logistik, im Finanzwesen, in der Verbreitung digitaler Plattformen oder der Funktionsweise großer Infrastrukturen. Diese Prozesse führen jedoch nicht zu einer globalen Vereinheitlichung, sondern überschneiden sich mit verschiedenen politischen Räumen (insbesondere denen großer Staaten) und prägen so eine multipolare (Un)ordnung statt eines „neuen Kalten Krieges“ mit eindeutigen Lagern.

Welt(un)ordnung

Der Krieg in der Ukraine war dennoch ein Wendepunkt, weil er die Ausbreitung eines „Kriegsregimes“ weit über die kriegführenden Länder hinaus beschleunigte. Mit diesem Begriff bezeichnen wir Prozesse der Militarisierung von Politik und Wirtschaft, die unter dem Vorzeichen eines allgegenwärtigen Bezugs auf die „nationale Sicherheit“ in vielen Teilen der Welt zu beobachten sind. Der Aufrüstungswettlauf und die Veränderung der Zusammensetzung der öffentlichen Ausgaben (für die es auch in Europa viele Beispiele gibt) sind sowohl das Ergebnis als auch die Voraussetzung dieser Prozesse, bei denen die „geopolitischen“ Dimensionen untrennbar mit den „geoökonomischen“ verwoben sind. Der Krieg steht im Zentrum der kapitalistischen Globalisierung, insofern der Konflikt die Organisation der oben beschriebenen Räume betrifft, oder, wenn man so will, die politische Organisation des Weltmarkts in einer Situation, in der die Hegemonie der Vereinigten Staaten in der Krise zu stecken scheint und durch das Auftauchen neuer Akteure (von China bis Russland, von den BRICS-Staaten bis zum „Globalen Süden“) herausgefordert wird.

Diese Herausforderungen haben sich in den letzten zwei Jahren vervielfacht und verstärkt. Gleichzeitig prognostizierte Raúl Sánchez Cedillos Analyse in „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“, dass der „heiße“ Krieg, der am 24. Februar 2022 begann, nicht auf die Ukraine beschränkt bleiben würde. Es geht nicht darum, eine direkte Verbindung zu dem zu behaupten, was seit dem 7. Oktober in Israel und im Gazastreifen passiert, in einem Konflikt, der wie der ukrainische uralte Wurzeln hat, die sich nicht auf die soeben skizzierten globalen Szenarien reduzieren lassen. Der Punkt ist aber, dass die regionalen Szenarien sich mit den großen Umwälzungen verbinden und jene verändern.

Das Geschehen nach dem 7. Oktober zeigt dies eindrücklich: Iran und seine Alliierten in der arabischen Welt wagen den kaum verdeckten Aufstand gegen die USA und dessen enge Alliierte, Israel. Sie durchkreuzen damit die Befriedungspläne der USA, die mit den Abraham-Abkommen die Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Ländern normalisieren wollten, ohne die Interessen der Palästinenser:innen zu berücksichtigen, während die USA gleichzeitig Schwierigkeiten haben, dem Vorgehen der rechtsextremen israelischen Regierung entgegenzutreten. Gleichzeitig steigt die Bedeutung Chinas in der Region, das zwischen den erzrivalisierenden Regionalmächten Saudi-Arabien und Iran erfolgreich vermittelt. Die Türkei wiederum vertritt innerhalb der NATO, in der sie ein wichtiges Mitglied ist, widersprüchliche Positionen und beansprucht strategische Autonomie (wie sie es zum Teil bereits beim Krieg in der Ukraine getan hat). Zeitgleich wird die Initiative Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag weithin als Zeichen eines erneuerten Protagonismus des „Globalen Südens“ wahrgenommen, der die Funktion der Vereinten Nationen neu gestalten will.

Gaza und Suez

Der Krieg im Gazastreifen berührt außerdem einen weiteren Konfliktherd in den globalen Entwicklungen. Bereits der Beginn der Covid-19Pandemie war durch eine Krise der globalen Liefer- und Versorgungsketten gekennzeichnet, die das infrastrukturelle Gerüst globaler Prozesse bilden. Der Ukraine-Krieg hat dieser Krise weitere Momente hinzugefügt, insbesondere in Bezug auf Getreide, Gas und Öl. Heute geht es um nichts Geringeres als den Betrieb des Suezkanals, der seit seiner Eröffnung im Jahr 1867 ein wichtiger Knotenpunkt für den Handel zwischen Asien und Europa und ein Symbol für den freien Handel ist. Die Blockade des Kanals im März 2021, als das Containerschiff „Ever Given“ dort auf Grund lief, war in gewisser Weise ein Vorgriff auf die heutige Situation: Seit einigen Wochen greifen die Huthis (die heute die Hauptstadt und einen Großteil des jemenitischen Territoriums kontrollieren) aus Solidarität mit der Bevölkerung des Gazastreifens Schiffe an, die das Rote Meer durchqueren. Die darin steckende symbolische Herausforderung des Westens ist groß, während die aktuellen und potenziellen Auswirkungen gravierend sind: Die großen Schifffahrtsunternehmen geben den Suezkanal auf, die Routen verlängern sich, die Transport- und Warenpreise steigen und die Inflation könnte sich ausweiten.

Der Verlauf des Krieges im Jemen wird so mit dem laufenden Krieg im Gazastreifen verknüpft. China, das ebenfalls eine diplomatische Initiative zur Beendigung des Krieges im Jemen ergriffen hatte, befindet sich in vielerlei Hinsicht in einer paradoxen Situation, da die Krise im Roten Meer die militärische Aufmerksamkeit und die Mittel der USA von den „indopazifischen“ Szenarien ablenken könnte, gleichzeitig aber der chinesische Handel mit Europa weitgehend über den Suezkanal läuft. Die Erklärungen der Huthis, dass sie nicht beabsichtigen, russische und chinesische Schiffe anzugreifen, sind symptomatisch für die neuen Fronten, die sich in den letzten zwei Jahren aufgetan haben. Sie werden Peking jedoch nicht beruhigen, da die Durchquerung eines von Raketen und Militärschiffen in Kampfbereitschaft durchpflügten Meeres in jedem Fall ein Risiko für den Handel darstellt. Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass China sich an westlich geführten Operationen wie „Prosperity Guardian“ beteiligen oder gar Militäroperationen wie die angloamerikanischen gegen die Huthis im Jemen unterstützen könnte; vor allem unter dem Banner jener „Freiheit der Meere“, die seit ihren ersten Formulierungen im frühen siebzehnten Jahrhundert ein grundlegender Bestandteil der europäischen kolonialen Expansion war.

Feuer einstellen

Wir erleben eine Eskalation von Konflikten, die vor dem 24. Februar 2022 so nur schwer vorstellbar war. Die Ausbreitung dessen, was wir als Kriegsregime bezeichnet haben, unterbricht den Rhythmus der kapitalistischen Transformationen, bedingt und begrenzt drastisch die Bewältigung der Klimakrise und prägt eine Verhärtung der sozialen Beziehungen. Der Nationalismus setzt sich in alten und neuen Formen durch, auch in Ländern und Bewegungen, die keine Chance haben, die globalen Prozesse, die sie durchlaufen, auf nationaler Basis zu steuern. Bei der Analyse dieser Prozesse ist es wichtig, die Verflechtung von geopolitischen und geoökonomischen Entwicklungen zu berücksichtigen. Es ist jedoch ebenso wichtig, das „Primat der Geopolitik“ zurückzuweisen, das heute zunehmend nicht nur den öffentlichen Diskurs prägt, sondern auch die Positionen derjenigen, die die Bildung eines antiwestlichen Lagers (oft im „Globalen Süden“ identifiziert) als die Alternative ansehen, auf die man sich konzentrieren sollte. Wir sind uns der Chancen bewusst, die das multipolare Szenario bietet, weisen aber erneut darauf hin, dass der entscheidende Faktor für uns die Qualität der sozialen und politischen Beziehungen ist, die in den einzelnen Ländern und Regionen der Welt herrschen. Und diese Qualität ist direkt proportional zur Intensität der Kämpfe für Freiheit und Gleichheit. Der Widerstand gegen Blöcke und Krieg kann nur von ihnen ausgehen.

Angesichts der ungeheuren Gewalt der israelischen Bombardierung des Gazastreifens haben sich vielerorts, auch in Europa, Anti-Kriegs-Initiativen formiert, die unterschiedliche Motivationen vereint. Trotz ihrer Vielschichtigkeit stellen jene den grundlegenden Bezugspunkt für eine Antikriegspolitik dar. „Waffenstillstand jetzt“ ist ihre erste Forderung. Wir sind uns der unterschiedlichen Situationen bewusst, und dennoch gibt es eine wesentliche Verbindung zwischen Gaza und der Ukraine: Feuer einstellen, jetzt, in Gaza und in der Ukraine. Das ist die schwierige, aber erste Losung für eine Initiative, die in der Lage wäre, den globalen Trend zur Ausbreitung von Kriegsregimen umzukehren und dem Wort „Frieden“ wieder eine materielle Bedeutung zu geben.

Sandro Mezzadra und Brett Neilson

Sandro Mezzadra (re.) ist Professor für Politische Theorie in Bologna, Brett Neilson ist Direktor des „Instituts für Kultur und Gesellschaft“ der Western Sydney University. In diesem Jahr erscheint ihr neuestes Buch „The Rest and the West: Capital and Power in a Multipolar World“ im Verso-Verlag.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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