medico: Seit Anfang Juni protestieren die Menschen in der Provinzhauptstadt Hakkari (kurd. Colemêrg) gegen die Verhaftung des Ko-Bürgermeisters und die Ernennung eines staatlichen Zwangsverwalters. In Van (Wan) ist es bereits gelungen, durch Proteste eine Absetzung zu verhindern. Was sind die Forderungen der Protestierenden?
Serra Bucak: Seit Anfang Juni gibt es in Hakkari und anderen kurdischen Städten ununterbrochen Proteste gegen die Verhaftung des gewählten Ko-Bürgermeisters von Hakkari, Mehmet Siddik Akis von der DEM-Partei (früher HDP), der auch ich angehöre. Es werden Mahnwachen und Demonstrationen vor den Gebäuden der Provinzverwaltung abgehalten, Zusammenkünfte organisiert und Pressemeldungen verfasst. Die Protestierenden wollen die türkische Regierung von weiteren Verhaftungen abhalten und fordern die Freiheit von Siddik Akis.
Auch in Diyarbakır (Amed) kommen viele Menschen zusammen, um zu protestieren. An Mahnwachen beteiligen sich viele Organisationen aus der Zivilgesellschaft. Die Forderung aus der Bevölkerung ist klar und deutlich: Die gewählten Bürgermeister:innen sollen ihr Amt für volle fünf Jahre antreten können. Sie wurden gewählt, um eine demokratische Verwaltung zu bilden – mit Bürgermeister:innen und einem Stadtrat, deren Türen für zivilgesellschaftliche Organisationen und die Bevölkerung offen stehen.
Die Kommunalwahlen im März haben den Menschen Hoffnung gegeben, davon zehren wir alle. Damit die Stimmung nicht kippt und von der Repression zerstört wird, werden Zusammenkünfte organisiert. So stärken sich die Menschen gegenseitig. Sie senden damit eine deutliche Botschaft an die Regierung: Die Zwangsverwaltung ist antidemokratisch – und mit demokratischen Mitteln wehren wir uns gegen dieses Instrument zur Zerstörung der Demokratie in den Verwaltungen und Städten. Mit ihnen hat es keinen Sinn, alle fünf Jahre Kommunalwahlen abzuhalten. Dagegen wollen wir die Demokratie und unsere Städte schützen.
Schon zweimal hat die Erdoğan-Regierung gewählte Bürgermeister:innen ab- und Zwangsverwaltungen eingesetzt, das sind mittlerweile acht Jahre. Was bedeutet das für Bevölkerung und Zivilgesellschaft?
Während der Zwangsverwaltung haben die Menschen in den betroffenen Städten keine Stimme. Lokale NGOs, Organisationen wie die Ingenieurskammer, die Wirtschaftskammer, Frauenorganisationen oder andere zivilgesellschaftlichen Organisationen werden an keiner Entscheidung beteiligt. Wir, die gewählte Stadtregierung, wollen natürlich mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten; nur so kann eine demokratische Stadt funktionieren. Eine erneute Zwangsverwaltung würde für die Bevölkerung bedeuten, dass ihnen die Mitbestimmung weiter verwehrt wird, dass es keine kommunalen Begegnungsorte gibt, dass wir uns über die Projekte nicht austauschen und zusammenarbeiten können. Ein gutes Beispiel ist die Arbeit für Frauenrechte. Während der Zwangsverwaltung haben Beratungszentren und Frauenhäusern kaum gearbeitet, weil die Mittel fehlten und sie keine Unterstützung der Kommune bekommen haben. Aber die Gewalt gegenüber Frauen in der Familie und in der Gesellschaft nimmt zu, ihre Arbeit ist notwendig.
Eine erneute Zwangsverwaltung würde der Bevölkerung viel Hoffnung nehmen. Sie würden zum dritten Mal die Hoffnung verlieren, dass Wahlen in diesem Land überhaupt eine Bedeutung haben. „Wenn wir nicht frei wählen können und unser Wahlergebnis nicht respektiert wird, wer sind wir dann? Sind wir türkische Bürger:innen oder nicht?“ Das ist eine entscheidende Frage, die die Menschen immer weiter von diesem Land entfernt.
Du bist seit April Ko-Bürgermeisterin von Diyarbakır. Gibt es Befürchtungen, dass auch in Diyarbakır Zwangsverwaltungen eingesetzt werden?
Ja, das befürchten wir leider. Es gibt Gerüchte seitens der AKP und der Gouverneure in Diyarbakır, dass Vorbereitungen für eine Zwangsverwaltung getroffen werden. Das System wurde im Jahr 2016 erfunden, während des Ausnahmezustands. Damals wurden die ersten Zwangsverwalter per Dekret eingesetzt. Es ist kein reguläres Gesetz, sondern eine Erfindung der AKP-Regierung. Das Dekret muss zurückgenommen werden, denn es steht gegen das Grundgesetz, gegen die Verfassung dieses Landes.
Das geltende Recht sieht vor, dass ein:e Bürgermeister:in zu einer Haftstrafe verurteilt sein muss, damit der Stadtrat eine:n Bürgermeister:in wählen kann. Das macht sich die türkische Regierung mit dem Dekret von 2016 zu eigen. Sie eröffnete gegen Bürgermeister:innen der damaligen HDP-Partei unter fadenscheinigen Argumenten ein Verfahren. Oft wurden die Betroffenen schon am selben Tag verhaftet. Und dann setzten sie einen Zwangsverwalter ein. All dies widerspricht dem Recht, es gab keine fairen juristischen Verfahren. So wird es jetzt wieder ablaufen. Daher wenden wir uns auch an die europäischen Staaten und Parteien, die an die Demokratie, an eine lokale Demokratie glauben.
Die Opposition hat bei den Kommunalwahlen im März stark gewonnen. Was konntet ihr nach eurem Amtsantritt in Diyarbakır verändern?
Die Opposition hat bei den Kommunalwahlen stark gewonnen und die AKP hat sehr viele Provinzverwaltungen verloren, das stimmt. Im Osten des Landes liegen jetzt 79 Stadt- und Bezirksverwaltungen bei der DEM-Partei, in den westlichen Städten der Türkei sind viele in Händen der CHP. Das ist ein sehr deutliches Zeichen.
In Diyarbakır hat ingesamt acht Jahre ein Zwangsverwalter regiert, ganze fünf Jahre regierte er ununterbrochen. Das hat sehr vieles ruiniert. Die Korruption unter den AKP-nahen Organisationen und in vielen anderen städtischen Institutionen ist groß. Budgetplanungen sind intransparent und nicht nachvollziehbar. Wir versuchen jetzt, die Korruption aufzudecken und mit unseren Jurist:innen einen Weg zu finden, wie wir sie bekämpfen können.
In der Verwaltung gibt es an vielen Stellen Probleme, die Zwangsverwalter haben kaum etwas weiterentwickelt. Wir müssen unsere Angestellten wieder dazu bringen, ihre Einstellung zu ändern – für die Belange der Kommune und für Bevölkerung zu arbeiten und nicht für Bauunternehmen und deren Geschäfte. Die Zwangsverwalter haben die Geschäfte der reichen Menschen, der reichen Organisationen und privaten Firmen gestärkt. In die Sozialstrukturen wurde kaum investiert. Deswegen hat es bei uns jetzt auch Priorität, Projekte zur sozialen Förderung und gegen ökonomische oder kulturelle Diskriminierung zu entwickeln.
Was wir mit unserem Amtsantritt geschafft haben, ist dass die Bevölkerung wieder Mut und Hoffnung bekommen hat. Wir organisieren jetzt einen Beteiligungsprozess, um Zivilgesellschaft und NGOs an den Dienstleistungen der Provinzverwaltung wieder demokratisch zu beteiligen. Alles soll transparent ablaufen, damit wir die kommenden fünf Jahre eine gute Stadtgemeinschaft etablieren können. Wir legen einen Schwerpunkte auf den öffentlichen Nahverkehr, außerdem Frauenrechte. Die Förderung der Frauenorganisationen in der Stadt ist dringend nötig – auch andere soziale Probleme müssen wir angehen. Dafür benötigen wir natürlich Zeit und dürfen nicht nur Abwehrkämpfe führen. Eine Herzensangelegenheit ist die Kultur und die Entwicklung der Kulturszene: Diyarbakır ist sehr berühmt für seine kulturellen Aktivitäten, seien es Filme, Theaterstücke oder Konzerte. Das wollen wir wieder in Gang setzten. Wir haben schon Mitte April ein Theaterfestival unterstützt und organisieren jetzt öffentliche Konzerte, für ein Filmfestival laufen die Vorbereitungen. Die Stimmung in der Stadt ist gut.
Seitdem wir gewählt wurden, sagen uns die Menschen, die uns besuchen oder mit ihren Projekten zu uns kommen: Es ist sehr schön, dass die Türen der Provinzverwaltung wieder offen für alle Menschen sind – wir hoffen, dass es so bleibt.
Das Interview führte Anita Starosta.
Transkription: Henryk Joost
Die medico-Partner:innen im Südosten der Türkei setzen sich für Menschenrechte und Ökologie ein. In Diyarbakır arbeitet die Frauenrechtsorganisation Rosa für Gleichberechtigung und Empowerment von Frauen. Sie geben rechtliche und psychologische Beratung für Frauen in Not und äußern sich öffentlich zu frauenpolitischen Themen. Ihre feministische Politik ist der konservativ-autoritären AKP-Regierung ein Dorn im Auge, sie stehen immer wieder im Fokus staatlicher Repression, sind Vorwürfen und Verhaftungen ausgesetzt.