Als EU-Parlamentspräsident Martin Schultz die Auflage eines EU-Hilfspakts im Falle eines Grexits forderte; wusste er, was er da sagte? Ich unterstelle, er hielt das für eine gute, trostspendende Idee über die politischen Gräben hinweg.
Leider muss man zu dieser Idee klar sagen: Oxi. Denn im Kontext der griechischen Entwicklung wäre humanitäre Hilfe der nächste und möglicherweise verheerende Schritt in einer Spirale der Entmächtigung. Entmächtigung der Bevölkerung, die soweit sie die griechische Staatsbürgerschaft besitzt noch über Rechte verfügt, und der – wenn auch durch jahrelange klientelistisch-oligarchische Misswirtschaft geschwächten – griechischen Institutionen des Gemeinwohls.
Warum? Es kann kaum einen Zweifel darüber geben, was die Ursachen einer bereits vorhandenen humanitären Krise in Griechenland sind. Das ist keine Frage von Ideologie. Alle werden darin überstimmen, dass die Politik der vergangenen 5 Jahre in die wirtschaftliche Depression und damit in diese humanitäre Krise geführt hat. Streit gibt es über das Hinauskommen, aber nicht über das Hineingeraten in die Krise, oder?
Humanitäre Hilfe statt Ursachenbekämpfung
Im Fall Griechenlands befinden wir uns also an der Frage, ob sich ein Weg finden lässt, die Ursachen der griechischen Krise zu bekämpfen und damit auch die Folgen in Form der humanitären Probleme; oder ob wir uns schon an dem Punkt befinden, an dem die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten ist und man nur noch Rettung in der Not betreiben kann.
Wer Hilfsorganisationen fragen würde, wann der Zeitpunkt für humanitäre Hilfe gekommen ist, würde wohl mehrheitlich die Antwort bekommen, dann, wenn die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten ist. Und wer nicht ganz präpotent immerzu die eigene Handlungsfähigkeit zum Spendensammeln über die Wirklichkeit der Beschränktheit von humanitärer Hilfe setzt, würde auch sagen: Das griechische Problem ist ein politisches Problem und kann durch humanitäre Hilfe nicht gelöst werden.
Das Oxi war eine Notbremsung
Noch wäre eine nachhaltige Lösung des Schuldenproblems von Griechenland der Weg, um all das zu verhindern, was Hilfsorganisationen mit ihrer Arbeit seit Jahren zur Ohnmacht verdammt. Denn noch so gute Projekte und Partner konnten die Folgen von IWF-Strukturanpassungsprogrammen nach der Schuldenkrise der 1980er Jahre in vielen Ländern des Südens nicht wieder auffangen. Und eben diese Maßnahmen werden Griechenland seit 5 Jahren aufoktroyiert. Was haben sie in Ländern des Südens verursacht, in denen auch medicos Partner arbeiten: zerfallende Staaten, Bürgerkriege um Rohstoffe, Gesundheitskrisen, Hunger und willfährige oligarchische Regierung, die an allem Interesse haben, nur nicht an der demokratische Beteiligung ihrer Bevölkerung.
Es ist in diesen Regionen bis heute nicht gelungen, die verheerenden Folgen dieser Maßnahmen zurückzunehmen und funktionierende Institutionen des Gemeinwohls, rechtsstaatliche Verhältnisse, für alle zugängliche Gesundheitsfürsorge wieder aufzubauen. Einmal zerstört, kommen diese Strukturen unter den Bedingungen des globalisierten neoliberalen Kapitalismus nicht wieder.
Dies wissend ist das überwältigende Nein der Griechinnen und Griechen nachvollziehbar. Oxi war eine Notbremsung, um die griechische Schussfahrt auf dem Weg in die Verdrittweltlichung zu stoppen.
Das Beipiel Haiti
Humanitäre Hilfe kann unter diesen Bedingungen wie ein Brandbeschleuniger wirken. Wer sich das noch einmal vor Augen führen will, schaue sich das Beispiel Haiti an. Trotz enormer Mittel nach dem Erdbeben und der Idee, Haiti besser wieder aufbauen zu wollen, gibt es in fast allen Bereichen eine Verschärfung der grundlegenden Probleme statt Perspektiven ihrer Verbesserung. Und vor allen Dingen sehen wir eine weitere Entmächtigung der haitianischen Zivilgesellschaft. Es gibt kaum noch Akteure außer einer willfährigen, wesentlich von der US-Botschaft abhängigen Regierung. Keiner hat das so genau verfolgt wie der haitianische Filmemacher Raoul Peck.
Nach einem Dokumentarfilm unter dem bezeichnenden Titel „Tödliche Hilfe“ hat er einen Spielfilm gedreht, der in diesen Wochen auf Arte lief. In der als Parabel gedrehten Geschichte kommt auch ein ausländischer Helfer vor. Nach der Erschütterung durch das Erdbeben, das kurzzeitig alle gleich gemacht hat, ist er der Steigbügelhalter zur Wiederherstellung der alten Ordnung. Und sein sauberes Wasser, das er den Armen mit allem guten Willen bringen will, dient am Ende dazu, dass sich Hilfe und Oligarchie den blutigen Schmutz von den Händen zu waschen, der unweigerlich an einem klebt, wenn man dafür gesorgt hat, dass mit der alten Ordnung die Armen noch ärmer geworden sind. Wenn sie überhaupt überleben.
Alternative: Schuldenerlass
Zu diesem haitianischen Szenario gibt es in Griechenland noch eine Alternative. Und das ist der Schuldenschnitt und mit ihm der Ausbau demokratischer Institutionen, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind, eine Steuerpolitik, die die Kluft zwischen Arm und Reich verringert, ein öffentliches Gesundheitswesen, das seinem Namen verdient und Rechtssicherheit. Noch gibt es die Chance, die humanitäre Krise an ihren Ursachen zu bekämpfen und nicht mit humanitärer Hilfe die strukturellen Ursachen durch Hilfe zu legitimieren – oder sogar noch zu verstärken, indem man die Griechinnen und Griechen zu Hilfsempfänger_innen statt zu Bürger_innen degradiert.
Das alles sind keine linksradikalen Parolen, sondern Erkenntnisse aus Jahrzehnten der Schuldendebatte, die im Jahr 2000 zu einem breiten Bündnis geführt hat: Zur Erlassjahrkampagne. Daran sollten sich menschenrechtlich und emanzipatorisch ausgerichteten Hilfsorganisationen erinnern, bevor sie auf die Töpfe schielen, die die EU-Kommission auflegt, um sich das Blut von den Händen zu waschen.