Eine Blutbank für Kobanê war das erste spendenfinanzierte Projekt medicos für Rojava und sollte der Beginn einer bis heute anhaltenden vertrauten und solidarischen Partnerschaft werden. Im Sommer 2014 gelang es medico zusammen mit der medizinischen Kommission von Kobanê eine lebensrettende Blutbank in die bedrängte Enklave zu bringen. Nur wenige Wochen später, im September 2014, griff der Islamische Staat (IS) die Stadt an und ein erbitterter Häuserkampf zwischen IS, kurdischen Streitkräften und Anti-IS Koalition zog sich über die nächsten Wochen. Zehntausende Menschen flohen vor den Kämpfen und aus Angst vor den Gräueltaten des IS in die benachbarte Türkei. Lokale medico-Partner:innen versorgten sie damals auf der türkischen Seite.
Am 27. Oktober 2014 wurde das Krankenhaus, in dem sich besagte Blutbank befand, durch einen IS Angriff zerstört Bis Ende Januar hielten die Kämpfe an, hunderte Kämpfer:innen und Zivilist:innen starben, die Stadt wurde zu achtzig Prozent zerstört – aber es gelang den IS aus der Stadt zu vertreiben. Bis heute gilt die Schlacht um Kobanê als Wendepunkt im Kampf gegen den IS und steht symbolisch für die Verteidigung des „demokratischen Experiment Rojava“ – wie medico damals den Versuch der Kurd:innen bezeichnete, eine Selbstverwaltung unter den Prinzipien der Demokratie und Gleichberechtigung aufzubauen.
Für medico begann eine Zusammenarbeit, die bis heute hält und sich über die Jahre intensiviert und ausgebaut hat. Es sollte auch nicht das Ende der Blutbank sein – denn nach der Befreiung von Kobanê konnte sie, Dank der großen Spendenbereitschaft von medico-Unterstützer:innen, ersetzt und im wiederaufgebauten Krankenhaus in Betrieb genommen werden.
Enge Partnerschaft: Kurdischer Roter Halbmond
Die Partnerschaft mit Rojava begründete sich von Beginn an auf den medico-Grundsatz lokale Akteure, die einen emanzipatorischen Ansatz verfolgen, zu unterstützen. Als Hilfs- und Menschenrechtsorganisation, die das Recht auf Gesundheit seit Jahrzehnten globalverteidigt und in Nothilfekontexten arbeitet, war es also naheliegend das „demokratischen Experiment“ beim Aufbau eines neuen Gesundheitssystems zu fördern. Ein zentrales Vorhaben der sich in der Selbstverwaltung neu gebildeten Gesundheitskommission lag darin kostenlosen Zugang zu einer Basisgesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung sicherzustellen.
Unter dem syrischen Regime war ein großer Teil des Gesundheitssystems privatisiert worden und der öffentliche Sektor hatte einen sehr schlechten Ruf. Eine große Aufgabe also, unter diesen erschwerten Bedingungen und in einer Region, in der ein Drittel Gesundheitsinfrastruktur durch den Krieg zerstört wurde. Nicht nur das syrische und russische Militär nahm gezielt zivile Ziele unter Beschuss, auch die radikal-islamistischen Gruppen wie al-Nusra oder IS zerstörten Krankenhäuser und Kliniken. Das türkische Militär wiederrum nahm Krankenhäuser, die in den letzten Jahren schon wieder aufgebaut werden konnten ein und hält sie bis heute besetzt.
In all den Krisenzeiten waren es die Nothelfer:innen des Kurdischen Roten Halbmondes (Heyva Sor a Kurd), die der lokalen Bevölkerung Beiseite standen und lebensnotwendige Hilfe leisteten. 2012 aus der Not heraus von einigen Medizinstudierenden und Ärzt:innen gegründet, waren sie bspw. bei der Rettung der Jesid:innen aus der Hölle des Shengals im August 2014 im Einsatz, versorgten die Verletzten der Raqqa-Schlacht und evakuierten bis zuletzt Menschen aus Efrîn vor den türkischen Bombardierungen. Lange hat die unabhängige NGO keine offizielle, internationale Hilfe von Staaten für ihre Arbeit bekommen, sondern waren in diesen Krisen auf Spendengelder aus dem Ausland angewiesen, wie sie von medico oder anderen solidarischen Initiativen an den Halbmond weitergegeben wurden. Dabei hat sich der Halbmond von Beginn an den humanitären Prinzipien der Rot-Kreuz/Halbmond Bewegung verpflichtet, zu deren wichtigsten Humanität, Neutralität und Unabhängigkeit zählen.
Trotz dieser Eindeutigkeit ist ihnen bis heute keine Eingliederung in die internationale Struktur gelungen – der syrisch-arabische Halbmond, der unter dem Assad Regime operiert, gilt als syrischer Vertreter – zwei Bewegungen in einem Land sind nicht vorgesehen. Inzwischen hat der Kurdische Halbmond dennoch hunderte Mitarbeiter:innen und eine professionelle einsatzbereite Struktur in Rojava aufgebaut. Zudem versorgen sie über 100.000 Vertriebene in Camps, in denen UN-Hilfe nicht ankommt. Die schnelle Handlungsfähigkeit der Nothilfe-Struktur hat sich zuletzt in der Covid19-Pandemie gezeigt: mit groß angelegten Präventionskampagnen und dem Bau mehrere spezifischer Covid19 Krankenhäuser wurde auf das pandemische Geschehen reagiert. Neben dem Krisenmanagement ist der Kurdische Halbmond inzwischen auch für vielen wichtige Infrastrukturprojekte der Gesundheitsversorgung in der Region verantwortlich. Im März 2022 wurde endlich das lang ersehnte Prothesenzentrum in Qamişlo eröffnet. Es ist das einzige für die gesamte Region, in dem sich über zehntausend Kriegsversehrte nun behandeln lassen können und Prothesen und Rehabilitierung erhalten.
Instrumentalisierung humanitärer Hilfe in Syrien
Bis heute fehlt der Erfolgsgeschichte des Kurdischen Roten Halbmondes Unterstützung und Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft. Denn die Gelder für humanitäre Hilfe, die auf den jährlich stattfinden Geberkonferenzen von EU und UN beschlossen werden, kommen beim Halbmond nicht an. Im Gegenteil – diese offizielle Hilfe wird entweder über UN- (Unter)Organisationen in Syrien verteilt, die unter der Assad-Regierung operieren müssen oder über die Türkei Zugänge in die Region Idlib haben, wo 2-3 Millionen Flüchtlinge unter katastrophalen Bedingungen in Lagern leben.
Seit Jahren wird die Instrumentalisierung von Hilfe im Syrienkonflikt kritisiert. Expert:innen beobachten, dass die syrische Regierung lebenswichtige Hilfe für Gebiete außerhalb ihrer Kontrolle zurückhält und das Hilfssystem nutzt, um die Menschen in den Gebieten zu überwachen und zu kontrollieren in denen sie ihre Herrschaft wiederhergestellt hat. So werden viele Hilfsgelder an regierungsnahe Organisationen weitergegeben. Die UN-Organisationen mit Sitz in Damaskus sind an Absprachen und Genehmigungen des Assad-Regime gebunden und Zugänge zu hilfsbedürftigen Menschen sind eingeschränkt. In dem syrischen Stellvertreterkrieg ist humanitäre Hilfe zu einem politischen Druckmittel geworden.1
Obwohl gerade Akteur:innen wie der Kurdische Halbmond die nötige Unabhängigkeit repräsentieren, und mit direkter Unterstützung durch UN-Gelder und Zugang zu Hilfsgüter oft schneller und effektiver helfen könnten, werden sie übergangen. Seit Jahren bemüht sich der Kurdische Rote Halbmond darum, internationale Unterstützung und Zugang zu entscheidenden internationalen Nothilfe-Netzwerken zu erhalten, bisher ohne Erfolg. Denn Rojava gehört bis heute völkerrechtlich zu Syrien unter Führung des aktuellen Präsidenten Bashar al Assad. Für die humanitäre Hilfe bedeutet dies, dass internationale Akteure wie die WHO oder UN-Hilfsorganisationen eine Kooperation mit dem Halbmond ablehnen oder sie nur „durch die Hintertür“ anbieten, da sie ihre Syrienbüros in Damaskus haben und die Abstimmung mit dem syrischen Regime und entsprechenden Ministerien völkerrechtlich notwendig ist.
Am deutlichsten manifestierte sich dies in der Schließung des einzigen Grenzübergangs für UN-Hilfsgüter in die Gebiete der Selbstverwaltung im Januar 2020.Über die Grenze von „Al Yarubiyah“ wurden offizielle Hilfsgüter der UN aus dem Irak direkt in den Nordosten gebracht, besonders benötigt für das al Hol Lager, in dem bis heute über 50.000 IS-Anhänger:innen unter schlechten Bedingungen leben. Verankert war dieser Zugang in der UN-Resolution 2156 zur grenzüberschreitenden Humanitären Hilfe in Syrien, über die auch die Zugänge aus der Türkei in den Nordwesten Syriens, nach Idlib, geregelt werden. Aufgrund eines Vetos von Russland und China bei der Abstimmung zur Verlängerung der Resolution im UN- Sicherheitsrats wurde dieser vor 2,5 Jahren geschlossen. Das politische Ziel Russlands dahinter ist mehr als offensichtlich: das Assad Regime wieder zu stärken. UN-Hilfe gelangt seitdem nur noch mit Genehmigung von Damaskus in die Region. Das hat fatale Konsequenzen – bis heute. So fehlen im al Hol-Lager seither bis zu 30 Prozent direkter Hilfsgüter, bzw. sie kommen nur mit deutlicher Verspätung aus Damaskus an.
Besonders dramatisch war die Situation zu Hochzeiten der Pandemie. In ganz Rojava gab es keine PCR Testmöglichkeiten. Das einzige Gerät, mit dem PCR Testung möglich war, befand sich im türkisch besetzten Krankenhaus in Serêkaniyê. So mussten Tests ins Labor nach Damaskus gebracht werden, die das Ergebnis oft erst Wochen später mitteilten – eine effektive Pandemiebekämpfung war so nicht möglich. Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte waren ebenfalls lange Mangelware und wurden mit der Zeit durch Halbmond und Selbstverwaltung selber organisiert, statt auf angekündigte WHO-Hilfe zu warten. Besonders bei der Impfstoffverteilung, die über die WHO in Damaskus geregelt wurden, kam es immer wieder zu Verzögerungen. Bis heute haben weniger als 10 Prozent der Bevölkerung eine Covid19 Impfung erhalten.
Die letzte Geberkonferenz (organisiert von EU und UN) für Syrien fand im Mai 2022 statt, dort haben die internationalen Geber 6,4 Mrd. Euro zugesagt. Elf Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs sind aber 15 Millionen Syrer:innen auf Hilfe angewiesen, wie auf der Konferenz selbst festgehalten wurde. Die ökonomische Lage in Syrien hat sich wegen der Inflation drastisch verschlechtert, mit verheerenden Auswirkungen für die Bevölkerung, die sich kaum noch Brot leisten können. 90 Prozent der Menschen in Syrien leben unter der Armutsgrenze, heißt es. Und das, obwohl in den letzten zehn Jahren 40 Milliarden US Dollar für Syrienhilfe ausgegeben wurde. Angesichts dieser katastrophalen humanitären Situation bedarf es einer dringenden grundlegenden Reformierung der UN-Hilfe, die Assad umgeht und lokale Akteure stärkt, die bereits zu unabhängig zu relevanten Hilfsakteur:innen in der Region geworden sind – wie der Kurdische Rote Halbmond. Zudem sollte die Selbstverwaltung eine anerkannte Gesprächspartnerin für die die internationale Gemeinschaft werden, um über direkte Möglichkeiten im Nordosten zu verhandeln. Die schwedische Regierung sagte Ende 2019 rund zehn Millionen Euro zu, unter anderem um eine Wasserversorgung in der Region zu fördern und Frauen, die unter IS gelitten haben, zu unterstützen. Dass sich Schweden heute gegenüber Erdogans Drohungen verhalten muss, der im Rahmen der NATO Beitrittsgespräche diese Hilfen als „Terrorunterstützung“ betitelt, ist Ausdruck davon, wie Hilfe erneut zu einem politischen Druckmittel firmiert.
Auch wenn Nord- und Ostsyrien in den internationalen Verhandlungen keine Rolle spielt, sind dort inzwischen über 30 internationale Hilfsorganisationen tätig. Da die Selbstverwaltung den Organisationen keinen Zugang verwehrt, ist der Nordosten „beliebt“ unter NGOs, um die Millionen Hilfsgelder umzusetzen, die sie in ihren Ländern beantragen können oder über Spendengelder erhalten. Über die nicht-staatlichen Hilfsorganisationen gelangen diese so in die Region – dies bewahrt staatliche Akteure davor, mit lokalen Organisationen oder der Selbstverwaltung direkt in Kontakt zu treten und sie als Gesprächspartnerin zu akzeptieren. Es fehlt jedoch ein koordiniertes Vorgehen zwischen den Hilfsakteur:innen – und das wird oft von beiden Seiten bemängelt. Hinzu kommt, dass die internationalen Organisationen qualifiziertes syrisches Personal aus den lokalen NGOs abziehen, da sie deutlich bessere Gehälter zahlen können. Auch treiben die Mieten für Büros oder Häuser der internationalen Mitarbeiter:innen, die Mietpreise so sehr stark in die Höhe, dass in einigen Vierteln Verdrängung statt findet. Ein typisches Phänomen in Krisenregionen, in denen Hilfsgelder ohne jegliche kontrollierte Instanzen umgesetzt werden.
Die humanitäre Lage wird sich in Syrien weiter verschärfen, die Inflation, steigende Lebensmittel- und Ölpreise treibt fast die gesamte Bevölkerung in die Armut – der Nordosten wird dabei immer mehr zum Zufluchtsort, obwohl auch dort die ökonomische Situation prekär ist. Hinzu kommt die permanente Kriegsdrohung durch die Türkei, die auch Rojava zu einem unsicheren Ort macht. Die Luftverschmutzung, bedingt durch die mangelhafte Öl-Produktion – bis heute gibt es keine ordentlichne Raffinerien, weil Sanktionen den Import der benötigten Teilen unmöglich machen – führt schon jetzt zu starken Gesundheitsschäden bei Anwohner:innen nahe der Ölfelder. Seit drei Jahren wird die durch den Klimawandel verursachte Dürre immer mehr zu einem Problem. In der „Kornkammer“ Syriens vertrocknen die Weizenfelder und die Türkei reduziert den Wasserfluss des Euphrats und blockiert Wasserpumpstationen, so dass beispielsweise im Sommer letzten Jahres zeitweise zehntausende Menschen in der Region Heseke vom Zugang zum Wasser abgeschnitten waren.
Hilfe findet in Syrien immer in einem hochpolitischen Kontext statt und darf ohne diesen nicht gedacht werden. So ist beispielsweise die Unterstützung und Anerkennung der lokalen Akteur:innen, wie dem Kurdischen Roten Halbmond unabdingbar, sollte ein Umdenken im Umgang mit Hilfe in Syrien stattfinden. Ohne den Status der Selbstverwaltung auf internationaler Ebene endlich offiziell anzuerkennen und sich der Türkei und den gewalttätigen Drohungen entgegenzustellen, werden jedoch auch solche Maßnahmen nur mittelfristig erfolgreich sein.
Dass es trotz allem unter diesen Bedingungen in den letzten 10 Jahren gelungen ist, eine Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung zu schaffen und Nothilfestrukturen aufzubauen, die in allen Krisen vor Ort ist und zehntausende Flüchtlinge versorgt, macht die Beharrlichkeit und Ausdauer deutlich, nicht aufgeben zu wollen, sondern Rojava zu einem Ort zu machen, an dem das „demokratische Experiment“ Bestand an.
Dieser Beitrag ist Teil einer Artikelserie von Civaka Azad, dem kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, zu 10 Jahren Rojava.